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Noras Tod
Noras Tod
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eBook361 Seiten5 Stunden

Noras Tod

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Über dieses E-Book

Auf einem Campingplatz am Atlantik wird eine Gruppe junger Menschen in die dramatischen Ereignisse um ein verschwundenes Kind hineingezogen.

Was sich wie ein Krimi liest, ist aber keiner.

Der Autor, Michael Wagner, gehört zu den vier jungen Leuten und hat die beklemmenden Ereignisse zu einem Roman über Liebe, Moral und Philosophie verwoben.
Die Gruppe nutzt die Zeit um eine Diskussion zu führen. Wie soll man als Eltern handeln, wenn das eigene Kind verschwindet? Schlimmer noch, was tut man, wenn es ermordet wird? Welches Handeln ist moralisch? Soll man auf das Gesetz vertrauen? Darf man Selbstjustiz üben?

Während man schon gefangen ist von der leisen, traurigen Geschichte, wird einem langsam bewusst, dass man gar nicht anders kann als selber Position zu beziehen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum16. Juli 2014
ISBN9783847650539
Noras Tod
Autor

Michael Wagner

Michael Wagner is the author of more than 80 books for children including the much-loved Maxx Rumble series, the CBCA Notable picture books Why I Love Footy, Why I Love Summer and Bear Make Den (which he co-authored with Jane Godwin) and the So Wrong series which was shortlisted for multiple children's choice awards in 2019 and 2020.

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    Buchvorschau

    Noras Tod - Michael Wagner

    Prolog

    Endlich Urlaub. Mitte der neunziger Jahre fuhr ich zusammen mit drei weiteren Personen aus Deutschland an den französischen Atlantik. Unser Ziel war der Campingplatz Le Pin Sec. Wir, das waren zwei Frauen und zwei Männer, meisterten die Tour in einem alten, klapperigen VW Passat. Das Auto gehörte Gerd, einem selbstgefälligen Mittdreißiger, dem es schwerfiel, andere Meinungen gelten zu lassen. Er arbeitete in der Erwachsenenbildung. Ob es daran lag, dass er eine sehr pessimistische Ader besaß, vermag ich nicht zu sagen. Ach ja, keiner hätte seinen VW als klapperig bezeichnen dürfen.

    Eine der beiden Frauen war Simona. Ende zwanzig, Architekturstudentin. Sie war eine gemeinsame Freundin. Die andere Frau war Sonja, meine Ex-Freundin, Mitte zwanzig, ebenfalls Studentin. Ich, Michael, studierte auch, aber schon ein paar Jahre zu viel. Zusammen wollten wir dort einen entspannten Urlaub erleben. Der Platz war in ganz Europa einer der letzten Campingplätze, auf dem man sich noch wirklich frei bewegen konnte. Kein Strom, kaum Regeln. Deshalb wollten wir dorthin. Es mag sein, dass ich außerdem noch aus einem sehr speziellen Grund dorthin fuhr. Nein, es mag nicht nur sein, es war so. Dieser Grund hieß Sonja. Ich weiß nicht, ob das zu meinen besten Ideen zählte, aber wer weiß das schon im Voraus. Leben passiert. So oder so.

    Kapitel 1

    Eine bleierne Hitze lag über dem Strand. Die Atlantikküste nördlich von Bordeaux, die ohnehin durch den Golfstrom, der warmes Wasser aus der Karibik mit sich führt, begünstigt ist, erlebte einen Traumsommer. Im August konnte man häufig mit erfrischendem Wind rechnen. Doch seit Tagen war es windstill. Nur selten türmten sich die Wellen zu Kronen auf, meist dümpelten sie träge gegen den Strand. Wellen brachten nur die westlichen Winde. Die blieben aus. Die Sonne schien von einem bleichen Himmel herab. Der Sand glühte und die Pinien, die den Strand säumten, flirrten in der Bullenhitze und schienen über dem heißen Sand zu schweben. Draußen auf dem Meer, weit hinter den beiden kleinen Sandbänken, die jetzt aus dem Wasser ragten, sah man ein paar bunte Segel der Surfer. Auch die hatten Probleme und bewegten sich nicht wie gewohnt pfeilschnell über das Wasser. Es war eher ein Kampf gegen die Windstille. Trotzdem waren sie unermüdlich draußen auf dem Meer. Wohl auch wegen der Erfrischung, die man dort hatte.

    An Land war jede Bewegung anstrengend und trieb kleine Schweißperlen aus den Poren. Ich lag auf dem Rücken. Das nasse Handtuch, was ich mir über das Gesicht gelegt hatte, war bereits teilweise getrocknet. Ich legte es beiseite und richtete mich auf. Die anderen neben mir rührten sich nicht.

    Ich legte mich auf den Bauch und sah einen kleinen Käfer sich mühsam durch den Sand fortbewegen. Er löste kleine Sandlawinenaus. Er hielt einen winzigen Halm mit seinen Zangen umklammert, der ihn beim Vorankommen behinderte. Aber er blieb standhaft und kämpfte sich weiter durch den Sand zu einem imaginären Ziel. Wo auch immer das sein sollte. Er taumelte weiter, fiel fast um, als er über ein kleines Holzstück kletterte. Er rappelte sich wieder hoch und taumelte weiter über den heißen Sand. Ihn schien das nicht zu stören.

    Kafka. Ich war kein Käfer. Mir war einfach nur heiß. Ein Blick auf die schlaff herabhängende Signalfahne des Wachturmes verriet, dass das Schwimmen ungefährlich war. Der Wachturm stand oberhalb des geteilten Weges zum Strand. Weiße Pfähle, eine quadratische Aussichtsplattform, ein kleines, flaches Dach darüber. Daran angelehnt war das Gebäude der Rettungsschwimmer. Ebenfalls weiß gestrichen beherbergte es die Strandfahrzeuge und die Boote, verschaffte den Rettungsschwimmern Unterkunft.

    Der jetzt so träge in der Sonne daliegende Strand galt als gefährlich. Vor Jahren hatte es tödliche Unfälle gegeben. Bei starkem Wellengang gab es tückische Unterströmungen, die für ungeübte Schwimmer riskant sein konnten. Jetzt war es die Aufgabe der Rettungsschwimmer für Sicherheit zu sorgen. Aber heute hatten auch sie nichts zu tun. Auf dem Wachturm saß eine junge Frau, weiter hinten am Gebäude lehnte ein Mann tatenlos am Geländer. Sie unterhielten sich.

    Kaum jemand war im Meer. Dennoch machte ich mich auf, zog die Trekkingsandalen an und ging über den glühenden Sand zum Wasser. Wie erfrischend war es, ich tauchte unter, schwamm ein wenig gegen die Strömung und kam wieder an die Oberfläche. Schon war ich ein Stück weg vom Strand. In Toter-Mann-Stellung lag ich auf dem Wasser, kniff die Augen zusammen und versuchte, unsere Handtücher auszumachen. Ohne Kontaktlinsen und ohne Brille sah ich aber nicht viel. Meine weichen Kontaktlinsen hielten dem Salzgehalt des Meerwassers nicht lange stand. Deshalb hatte ich sie nicht eingesetzt. Meine Brille lag auf dem Handtuch am Strand. Ich ignorierte meine Sehschwäche und begann parallel zum Strand zu schwimmen.

    In einiger Entfernung lag ein Atlantikbunker aus dem Zweiten Weltkrieg halb im Wasser. Südlich von mir waren noch mehrere zu sehen. Einst waren sie stolzer Bestandteil des Atlantikwalls der Nazis gewesen, jetzt waren sie bestenfalls noch mit Graffitis besprühte Zeitzeugen. Im Laufe der Zeit waren sie von den Dünen herabgerutscht und lagen nun wie vergessenes Riesenspielzeug an der Küste. Ich schwamm hin bis zu dem Zeitzeugen und kletterte an ihm hoch. Die Zeit hatte dem Koloss nicht viel anhaben können. Mir schoss ein Gedanke durch den Kopf: typisch deutsche Wertarbeit. Ich musste grinsen. Schlussendlich hatte sie aber nichts ausrichten können im Lauf der Geschichte. Eine Weile blieb ich noch sitzen. Als deutscher Tourist auf einem Stück Beton, entworfen und gebaut von deutschen Kriegsingenieuren an der französischen Atlantikküste. Über 50 Jahre nach Kriegsende.

    Im Frieden.

    Kapitel 2

    Es war fast halb vier, als ich zu den anderen zurückkehrte. Alle waren jetzt munter und die beiden Frauen drehten sich Zigaretten. Simona gab ihrer Freundin Sonja Feuer. Gerd lag auf dem Bauch und studierte in einem Reiseführer. Ich trocknete mich ab und wechselte die Badehose.

    „Wusstet ihr, dass es über 4000 Chateaus hier im Weinanbaugebiet gibt? fragte er. „Doch so viele? antwortete Sonja. „Ja, das ist echt eine Menge und alle wollen sie verkaufen. Gerd schaute zu mir herüber. Ich antwortete mit einem knappen „Wow, hätte ich nicht gedacht!

    Er versuchte weiter auf Normalität zu machen. Noch vor zwei Wochen hätte keiner gedacht, dass wir beiden Männer zusammen in Urlaub fahren würden. Zu oft waren wir in der Vergangenheit aneinander geraten. Eigentlich wegen Banalitäten. Nicht, dass ich streitsüchtig war, nein, mir ging seine Selbstherrlichkeit und Sturheit einfach gegen den Strich. Jetzt lagen wir zusammen am Strand und ich hörte mir gelangweilt seine Konversation an. Was hatte mich dazu bewogen? Mein Herz? Na ja, eher mein gekränkter Stolz und meine Neugier. Würde er es wagen in meinem Beisein Sonja anzumachen? Und wenn ja, dann würde ich mich komplett zum Deppen machen. Aber ich hatte es ja so gewollt.

    „Hier steht, das größte der Gebiete sei das Entre-deux-mers. Das liegt zwischen der Garonne und der Dordogne. Komisch, dass sie die Flüsse als Meer bezeichnen. ‚Mer’ heißt doch ‚Meer’ auf Deutsch, oder?", fragte er. Alle nickten artig. Keinen interessierte das wirklich.

    „Also mir reicht jetzt die Theorie, warf ich ein, „Ich geh jetzt in die Bar und lasse ein wenig flüssige Praxis durch meine Kehle rinnen. Ich habe einen Megadurst. Kommt eine der beiden Schönheiten mit?

    Schon war ich dabei und packte meine Sachen zu einer Rolle, die ich mir unter den Arm klemmte. Das Gefühl hier schnell weg zu müssen, war zu stark geworden. Lieber hätte ich mich mit nacktem Arsch in einen Ameisenhaufen gesetzt, als hier noch länger ruhig zu liegen.

    „Was für eine Frage" sagte Simona und Sonja war mit einem Sprung auf den Beinen. Nur Gerd fühlte sich ein wenig übergangen. Er mochte es nicht, wenn ihm jemand die Show stahl.

    Simona zog sich ihr Bikinioberteil an und packte ihre Sachen zusammen. Sie war eine Frau mit vielen Rundungen. Als schlank konnte man sie bei Weitem nicht bezeichnen. Auf einem recht ausladenden Becken saß ein weniger breiter Oberkörper. Ihr feuerrotes Haar war eine Warnung. Man sollte sich nicht mit ihr anlegen, obwohl sie eigentlich ein sehr besonnener Mensch war. Unter den runden, blauen Augen saß eine kleine spitze Nase, gefolgt von einem schmalen Mund und beendet von einem runden, knubbeligen Kinn.

    Sonja kniete im Sand und buddelte ihre vergrabenen Kippen wieder aus. Ihre blonden Locken berührten dabei fast den Boden. Sie hatte sehr blaue Augen, einen süßen Schmollmund, auf den sie aber auch nicht gefallen war. Alles, was sie tat, machte sie mit einer gewissen Grazie. Nicht, weil sie grazil sein wollte, aus Berechnung, sondern weil sie es einfach war. Alles in allem ein verdammt guter Grund trotzdem mit jemandem in Urlaub zu fahren, von dem viele behaupteten, er sei ein überhebliches Arschloch.

    Gerd war noch immer in seinem Reiseführer vertieft, lies uns aber nicht mehr daran teilhaben. Hinter seiner Sonnenbrille beobachtete er Sonja beim Packen.

    „Ich komme dann gleich nach. Sonja, du kannst mir ja schon mal einen viertel Roten bestellen, bitte", erzählte er wie beiläufig, ohne aufzuschauen. Seine braunen Augen ruhten auf den Buchseiten. Eigentlich strahlten sie Wärme aus, doch konnten sie die Farbe Braun in Eis verwandeln.

    „Ja, mache ich", sagte sie.

    Ja, das saß und ich war mir sehr sicher, dass er das aus Berechnung getan hatte. Gerd hatte einfach nur eine Bitte geäußert. Aber er hatte nicht einfach die Gruppe gefragt, sondern speziell Sonja. Meine Sonja. Nein, nicht mehr. Meine Exfreundin Sonja. Ich haderte mit mir. Man sollte ein Gesetz gegen Dummheit erlassen oder jeden, der mit seiner Exfreundin in Urlaub fahren will, vorher auf seinen Geisteszustand überprüfen. Zumal wenn derjenige, der gern der Zukünftige werden würde, auch zugegen war. Verschärfte Bedingungen. Egal.

    Wir trotteten zusammen durch den immer noch heißen Sand. Ich ging hinter den Frauen her und schaute noch einmal zum Meer herüber. Ob wohl Wind aufkommen würde?

    Die letzten 50 Meter des Weges ging es recht steil bergauf. Wir gingen ganz links auf den Bohlen. Das war einfacher. Einmal rechts abbiegen, dann wurde es wieder eben. Die Bar lag rechts neben dem Weg zum Campingplatz. Sie war nichts Besonderes, vor allem verdiente sie den Namen ‚Bar‘ eigentlich nicht. Es war eine überdachte, Frittenbude mit einfachen Holzbänken und Holztischen draußen und rustikaler Bestuhlung drinnen. Aber nach einem heißen Tag am Strand war sie einfach nur der beste Ort der Welt. Der Blick über das Meer von dort war das Sahnehäubchen.

    Simona setzte sich. Sonja und ich blieben stehen, legten unsere Handtücher als Platzhalter ab und gingen hinein um die Getränke zu holen. Es herrschte Selbstbedienung. Noch waren die besten Plätze mit Ausblick zu haben. Wie immer hatten wir die Bank ganz links ausgewählt. Dort saß man am ruhigsten, ohne Geschiebe und mit unverbaubarer Meerblickgarantie.

    Wir traten durch die Holztür ein. Sie quietschte ein wenig. Auf dem Tresen standen schon die kleinen Karaffen mit dem Viertelliter Inhalt parat. Im Hintergrund plärrte ein Radio. Ich sah mich um. Jetzt war es möglich, etwas später würde der kleine Raum voller Menschen sein. So leer hatte ich den Schankraum bislang noch nicht erlebt.

    Auch von innen war die Bar rustikal gehalten. Links war der Tresen, hinter dem der nette Tageskellner stand und Gläser polierte. Alles war zwar in Holz gehalten, trotzdem hatte nichts wirklich Charme, sondern es war alles nur praktisch. Das einzige Auffällige waren ein paar Emaille Schilder, die hinter dem Tresen an der Wand hingen. Die üblichen Flaschen mit Spirituosen standen aufgereiht auf einfachen Holzregalen. Rechts standen ein paar gefällige Tische mit unbequem aussehenden Stühlen. Von dort aus hatte man allerdings den Blick auf den Atlantik. Das war das Kapital der Bar. Der Ausblick.

    Wir bestellten, der Kellner nannte den Preis. Ich wollte zahlen, Sonja verwickelte sich noch einen kleinen Plausch mit dem Kellner. Er war ein hübscher, dunkelhaariger Franzose mit sanften, braunen Augen. Ein Frauentyp, dachte ich. Sonjas Französisch war sehr holprig und er verstand kein Englisch. Also kam keine wirkliche Unterhaltung zustande. War mir ganz recht, wir sagten ‚ciao‘ und schon schleppten Sonja und ich jeweils zwei Karaffen und zwei Gläser. Simona war noch alleine. Sie hatte sich umgesetzt und einen der begehrten Plätze mit Aussicht eingenommen. Also setzten wir uns daneben und schenkten uns den Wein ein.

    Ich legte meine Beine auf einen aus Pinienästen gezimmerten Zaun, und nahm einen Schluck aus meinem Glas. Von dort aus sah man über die Dünen, mit dem spärlichen Grasbewuchs, bevor die Kante zum Strand hin abbrach. Ein Zaun, aus mit Draht verbundenen Stöcken, der Sandverwehungen abhalten sollte, wand sich wie eine ungeduldige Schlange und verschwand dann aus dem Blick. Die Sonne brachte den roten Wein im Glas zum Funkeln. Ich hielt das Glas direkt vor die Sonne und betrachtete die Farbe. Der Rotwein war genauso wie die Bar nichts Besonderes, ein Landwein. Vermutlich auch nicht aus den benachbarten Anbaugebieten, ein billiger vin de pays. Trotzdem schmeckte er köstlich.

    Die Frauen sprachen über das Abendessen. Der Gedanke an Essen riss mich aus meinen Träumen. Mittags hatten wir Obst und pisswarmen Naturjoghurt am Strand gegessen. Was man bei der Hitze so essen konnte.

    „Schauen wir, ob es im Supermarkt noch Baguettes gibt. Wir haben noch Salat, Paprika und Tomaten", schlug Sonja vor.

    „Hoffentlich sind die Baguettes nicht wieder so labberig, sagte Simona, „vielleicht nehmen wir dann besser Flutes.

    „Wenn ich meinen Wein alle habe, dann geh ich mal schauen, sagte ich, „wir müssen ja nicht alle gehen. Ihr könnt dann schon mal duschen und so. Ich grinste.

    „Vor allem ‚und so’ nahm Simona meine flapsige Bemerkung auf, „ich habe wieder das Gefühl, dass mein Rücken völlig gegrillt ist. Da ist eine Grundrenovierung angesagt. Sie schaute mit einem skeptischem Blick über ihre Schulter.

    Sonja prustete los. „Wehe deine Nase leuchtet heute Nacht wieder wie ein Glühwürmchen. Dann werfe ich dich aus dem Zelt und du kannst draußen rum leuchten."

    „Wer vergisst dabei, wessen Zelt es ist?"

    „Egal, wer leuchtet, fliegt."

    Sonja und Simona waren Freundinnen. Kennen gelernt hatten sie sich auf einer Party. Es war die Party eines meiner Freunde gewesen. Sonja wollte erst nicht mit, aber schließlich hatte sie doch eingewilligt. Dort hatten sich die beiden den halben Abend in der Küche mit Bier und einer Flasche Baileys vergnügt. Das war der Anfang ihrer Freundschaft.

    Jetzt setzte es freundschaftliche Hiebe. Sonja knuffte ihre Freundin in die Seite.

    Diese Kabbelei sah auch Gerd, als er vom steilen Strandaufgang in den Weg Richtung Bar abbog. So wie er es sich ausgemalt hatte, saß Michael natürlich neben Sonja. In ihm gärte Ärger auf und er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Er schlenderte die letzten Meter bewusst lässig auf die Gruppe zu und fummelte an seinem Kopftuch herum, unter dem seine nassen Locken hervorquollen. Zum Abschluss des Tages am Strand war er noch einmal schwimmen gewesen.

    „Ah, da steht ja schon mein Wein, sagte er, „Ich danke dir, Sonja. Er ließ sich auf der leeren Bank gegenüber von Sonja nieder und griff nach seinem Glas.

    „Warste noch im Wasser?" fragte Simona. Er nickte.

    „Du tropfst ja noch. Guck mal die Löckchen", witzelte Sonja und schaute ihm beim Trinken zu. Gerd setzte sich rittlings auf die Bank und ignorierte Sonjas Stichelei.

    „Haben wir schon Pläne für das Essen? Ich würde gern danach noch eine Runde Doppelkopf kloppen. Hoffentlich sind unsere Nachbarn heute Abend nicht da, sonst gibt’s wieder Diskussionen." Er schaute fragend in die Runde.

    „Ich hole uns gleich Brot während die Mädels duschen, dann gehen wir und sie schnippeln den Salat. So hatte ich mir das vorgestellt." Wir tranken noch jeder unser Viertel Wein aus. Der Alkohol nach dem heißen Tag am Strand tat seine Wirkung. Ein angenehmer Dunst bemächtigte sich des Hirnes. Die Stimmung war gut.

    Auf dem Weg zu unseren Zelten teilten wir uns auf, die Frauen gingen duschen, Gerd und ich holten noch Brot und Wein im kleinen Supermarkt. Wir redeten über belanglose Sachen. Das eigentliche Thema, was zwischen uns stand, sprach keiner an.

    Der Campingplatz war beidseits der staubigen Straße zum Strand angelegt. Hinter der Rezeption, die in einem großen, neuen Gebäude untergebracht war, lag der größte Teil des Zeltplatzes fast ohne jeglichen Schatten. Unsere Zelte drängten sich unter einigen der wenigen Pinien. Trotz des Schattens war es im Zelt nach einem so heißen Tag brütend heiß und unerträglich. Der Teil, in dem wir standen, war für Familien mit Kindern vorgesehen. Wir hatten bei der Anreise Glück gehabt. Normalerweise hätten wir auf der anderen Seite der Straße einen Platz bekommen. Dort waren meist die Jugend - oder Pfadfindergruppen. Dementsprechend war es dort laut. Auf unserer Seite war es still. Ausnahme war eine Gruppe von Leuten, die ihre Trommeln mitgebracht hatte und schon mal eine kleine Jam-Session machten. Doch auch die standen noch weiter im Wald mit ihren Zelten. Der gesamte Platz war sieben Hektar groß, lag inmitten des Foret Domaniale d’hourtin, eines riesigen Waldgebietes. Die nächste Siedlung war Kilometer weit weg. Der Pinienwald war durchzogen von Betontrassen, die die Nazis zu Verteidigungszwecken schnurstracks durch den Wald gelegt hatten und die die Jahrzehnte beinahe unbeschadet überdauert hatten.

    Der Platz war nicht luxuriös. Er war Kult. Extremer Kult. Jahre vorher war er ein Eldorado für Hippies und solche, die welche sein wollten, oder zumindest mit deren Lebensgewohnheiten und Einstellungen übereinstimmen konnten. Jetzt hatte er sich zu einem beliebten Platz für Surfer entwickelt. Überall sah man die weißen Bretter stehen. Bunte Segel mit großen Buchstaben darauf, trockneten gegeneinander gestellt.

    Auch die sanitären Einrichtungen waren nicht luxuriös. Es gab verschiedene bescheidene, grün gestrichene Waschhäuschen, die älter zu sein schienen und einige neu errichtete. Unser Platz lag neben einem solchen älteren Waschhäuschen, was wir als sehr bequem empfanden, weil wir nicht weit zu gehen hatten.

    Vorbei an dem herrlich bunten Wirrwarr von Zelten und Leinen, Autos, Wäscheleinen und Handtüchern, und vorbei an den Bewohnern, die ebenfalls vom Strand zurückkehrten, kamen wir bei unseren Zelten an. Der ganze Platz strahlte Heiterkeit und Lebenslust aus. Die nachmittägliche Sonne entließ die Menschen aus der Umklammerung der Hitze. Überall herrschte nun reges Treiben. Auf der Straße hinter unseren Zelten waren neue Nachbarn angekommen. Sie diskutierten über die beste Platzierung der Zelte. Ein alter, cremefarbener R4 und der VW Campingbus trugen niederländische Kennzeichen. Auf dem VW Bus waren einige Surfbretter befestigt. Ich zählte neun Erwachsene und drei Kinder und überlegte, wie so viele Menschen in zwei Autos von Holland bis an den Atlantik gefahren waren. Die Antwort auf die Frage kam in Form eines orangefarbenen VW Passat kurz darauf über den staubigen Weg geholpert.

    Mit dem Fahrer erhöhte sich die Zahl der Erwachsenen auf zehn.

    Ich wurde durch Sonja und Simona von meiner gedanklichen Aufteilung der Personen auf die vorhandenen Gefährte unterbrochen. Sie kamen scherzend aus Richtung Waschhäuschen zurück. Sonja hatte sich einen Turban aus einem Handtuch gedreht. Simona hatte kürzeres Haar, was schon perfekt frisiert aussah. Beide trugen Röcke und Tops.

    „Habt ihr Wein mitgebracht? fragte Simona. Sie hängte ihre nassen Handtücher auf die Wäscheleine. „Aber sicher, antwortete Gerd. Sonja krabbelte in ihrem Zelt herum und brummelte vor sich hin.

    „Suchst du was, Liebes?"

    „Hast du meine Haarbänder gesehen? Ich will mir `nen Zopf machen." Die Stimme klang ein wenig gedämpft aus dem Zelt.

    „Nein, habe ich nicht. Ich habe nichts Derartiges dabei, sonst würde ich es dir geben."

    „Ich habe jetzt eine Haarklammer gefunden, ich nehme die jetzt", kam es etwas kleinlaut aus dem Zelt. Kurz drauf schob sich ein ziemlich wuscheliger Haarschopf aus dem Zelt.

    „Bloß nicht lachen, hier kommt Frau Wischmopp".

    „Wenn das mal nicht fishing for compliments ist." Aus Gerds Augen blitzte der Schalk.

    „Sei still und schnibbel die Paprika", nörgelte Sonja. Sie reagierte sehr empfindlich auf Kommentare dieser Art. Vor allem, wenn sie von Gerd kamen. Sie hatte es sehr wohl verstanden, dass er sich für sie interessierte. Sie war sich ihrer Wirkung auf Gerd sicher. Aber er sollte nicht denken, dass sie sich für ihn interessierte. Das war nicht der Fall.

    Mir wurde das zu viel. Ich schnappte mir den Salat und die Schüssel und ging in Richtung des Waschhäuschens davon. Sonjas Art, mit vermeintlicher Kritik und Zurückweisung umzugehen, war mir nur zu gut bekannt. Wir hatten ein gemeinsames Jahr verbracht. Dann hatte sie Schluss gemacht. Für mich eigentlich ohne einen einleuchtenden Grund.

    Als ich Sonja das erste Mal traf, war ich 31 Jahre alt gewesen. Sie arbeitete in einem Pub, den ich sonst eigentlich nie besuchte. Doch an diesem Tag beschloss ich mir diesen Pub einmal anzusehen. Für mich war es einer der Abende, wo es keinerlei Erwartung an den Fortgang der Nacht gab. Eine neue Kneipe anschauen, was konnte da schon passieren? Nach dem Abend wurde der Pub meine Stammkneipe, weil Sonja dort arbeitete. Ich fand, dass sie eine der hübschesten Frauen der Stadt war und war zutiefst entsetzt, weil es viele andere Männer gab, die ebenso dachten. Es hat ein Jahr gedauert bis wir dann zusammenkamen. Zuerst war es nur Freundschaft, doch ganz langsam entwickelte sich daraus mehr. Keiner von uns beiden konnte es schließlich noch leugnen, ohne den anderen zu belügen.

    Vor dem Waschhäuschen war ein Stau vor den Außenwaschbecken. Viele hatten denselben Plan wie ich: Salatwaschen. Ich war noch nicht an der Reihe und mein Blick wanderte die Straße entlang. An diesem Tag schienen noch weitere Familien angekommen zu sein. Mir fiel ein Fahrzeug mit Mönchengladbacher Kennzeichen auf. Ein kleines blondes Mädchen rannte um das Auto herum und ärgerte ihren Vater. Der versuchte sie einzufangen. Sie streckte ihm die Zunge heraus. Das war ein vertrautes Spiel, keine Auseinandersetzung. Er streckte ihr ebenfalls die Zunge heraus, täuschte eine Bewegung nach rechts an, ging dann blitzschnell nach links, schnappte sich seine Tochter und legte sie sich auf die Schulter. Die Kleine quietschte voller Vergnügen. Er stellte sie wieder auf die Füße, sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dann verschwand sie lachend im Vorzelt. Eine glückliche Szene. Ich dachte kurz darüber nach, ob ich je Kinder haben würde, verwarf den Gedanken aber sofort.

    Jetzt war ich dran, wusch den Salat und ging schnell zurück zu den Zelten.

    Der Abend verlief für uns wunderbar ereignislos. Wir aßen Baguette und Salat, tranken Wein. Die Doppelkopfrunde ließen wir ausfallen, unsere Nachbarn waren sicher froh darüber. Sie waren gegen acht Uhr vom Tagesausflug zurückgekehrt, aßen etwas und waren gegen halb neun schon zum Schlafen im Zelt verschwunden. Kein Laut drang danach noch aus dem Zelt. Entweder waren sie beim Sex sehr leise, oder sie verkniffen es sich. Unser Abend endete am Strand, wo wir uns den Sonnenuntergang anschauten. Die Bunker warfen lange, breite Schatten. Ein Schild, das direkt vor uns stand, einen langen Dünnen. Am Himmel war nur ein einziges kleines, rosa Wölkchen zu sehen. Der Meeresspiegel war immer noch glatt wie ein Kinderarsch. Die Sonne spiegelte sich darin und stand wie jeden Abend als ein fetter, roter Ball über dem Horizont. Allein schon diese Sonnenuntergänge rechtfertigten die strapaziöse Fahrt.

    Viele waren in dieses Naturschauspiel vertieft. Andere saßen beisammen, lachten, spielten Gitarre, tranken Bier und Wein. Keinem fiel der Neuankömmling auf, der mit seinem Rucksack am Strand auftauchte. Er ging an der Wasserlinie entlang, beobachtete verstohlen die Menschen, die ihren Urlaub genossen. Nach einer Weile blieb er stehen und starrte lange auf das Meer.

    Er sollte es sein, der das Leben aller, die sich auf diesem Campingplatz am Atlantik befanden, in den darauf folgenden Tagen beeinflussen würde. Und das auf eine Art und Weise, die keiner, der nicht in eine derartige Situation gekommen ist, nachvollziehen kann.

    Wir, die an diesem Abend verzaubert vom Sonnenuntergang am Strand lagen, Wein tranken und guter Dinge waren, ahnten noch nichts. Keiner ahnte etwas. Katastrophen kündigen sich nicht an, sie passieren. Reißen Ahnungslose in den Tod, trennen Menschen von Menschen, die sich lieben, Eltern von ihren Kindern, Kinder von ihren Eltern. Hinterlassen tiefe Wunden. Wunden, die nie heilen. Eine zeitlose, immerwährende Verletzung, die nur einzelne betrifft, aber die ganze Menschheit angehen sollte. Sollte. Doch schaut man lieber weg. Ich habe nach den Tagen am Atlantik, im August dieses Jahres, nie wieder weg geschaut.

    Kapitel 3

    Mitten in der Nacht bemerkte ich den Wind, der über die Zeltplanen strich. Das erste Mal seit Tagen kam Wind auf. Mit dem Gedanken an hohe Wellen, schlief ich voller Vorfreude wieder ein. Der folgende Morgen war wohltuend frisch, wenn man Temperaturen um 20° Grad für einen Morgen als erfrischend ansehen mochte. Ich packte meine Duschsachen zusammen, nahm eine belebende Dusche und war zurück am Zelt bevor einer der anderen seine Augen geöffnet hatte.

    Also beschloss ich einkaufen zu gehen. Der kleine Supermarkt auf dem Platz war morgens immer zum Bersten voll. Wenn man nicht früh genug war, konnte schon mal das Brot ausverkauft sein. Deshalb war ich guter Dinge in Bezug auf unser morgendliches Frühstücksflute. Wie erwartet war es noch leer. Ich steckte 2 Flutes in die kleine Plastiktasche, die so typisch für die französischen Bäckereien war. Im Laden waren unerwarteter Weise nur ein paar Leute. Unter ihnen war einer der niederländischen Nachbarn mit einem kleinen Jungen. Ich warf ihnen ein freundlichen Gruß auf Niederländisch zu: „goedemoorgen". Der Mann war überrascht und grüßte mit freundlichem Strahlen zurück.

    „Hoe gaat het met je? fragte er. „Het gaat goet met mij antwortete ich unter Aufbringung aller meiner Niederländisch-Kenntnisse. „Ik kann noor en beetje nederlands spraaten, entschuldigte ich mich. Der Holländer lächelte immer noch. „Hoe heet je?

    „Mij naam is Michael, stellte ich mich vor. „Ik bin de Ruud, sagte er. Wir zahlten flugs unsere Einkäufe. Ruud musste seinen Sohn von den Süßigkeiten wegziehen, nicht ohne ihm ein süßes Versprechen für den nächsten Tag geben zu müssen.

    Unser Gespräch war unbemerkt belauscht worden. Der Neuankömmling vom Vortag hatte die Nacht am Strand verbracht und war nun auf der Suche nach einer Unterkunft und etwas zu essen. Er deckte sich mit etwas Essbarem ein und ging hinter den beiden Männern und dem Kind her. Ein Zelt besaß er nicht, deshalb war er darauf angewiesen, sich einen Platz für die nächste Nacht zu besorgen, wenn er nicht noch eine Nacht am Strand

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