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Die Masken der Mámas
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eBook338 Seiten4 Stunden

Die Masken der Mámas

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Über dieses E-Book

In der Psychiatrie Friedhain, dem einstigen Grand Hotel Europa, geht in dieser Nacht alles drunter und drüber. Nachtschwester Paula trifft auf einen neuen Patienten, der behauptet, ein Máma der Kágaba-Indianer und gleichzeitig ein renommierter Klimaforscher zu sein. Während der Fremde aus seiner Initiationszeit in der kolumbianischen Sierra Nevada de Santa Marta erzählt, verliert Paula, die seit Jahren tablettenabhängig ist, langsam die Wirklichkeit unter ihren Füßen. Bei ihrem Versuch, dem Máma bei der Wiederbeschaffung einer spirituellen Holzmaske aus präkolumbianischer Zeit zu helfen, die seinem Volk während des Ersten Weltkriegs von einem deutschen Ethnologen entwendet wurde, verwischen sich ihr mehr und mehr die Grenzen zwischen Realität und Phantasie. »Klimawandel, Umweltzerstörung, Eurozentrismus: In diesem "Nachtstück", das gewissermaßen in der Tradition der Romantik steht, wird eine höchst eigenwillige Antwort auf die Fragen unserer Zeit gegeben.«
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum21. Sept. 2021
ISBN9783347396487
Die Masken der Mámas
Autor

Ben Castelle

Ben Castelle wuchs im Münsterland auf, studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie und lebt heute als Redakteur und freier Autor im Rheinland. Bei „tredition“ erschienen in den vergangenen Jahren acht Romane, zwei Erzählbände und ein Haiku-Band.

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    Buchvorschau

    Die Masken der Mámas - Ben Castelle

    1

    Die Nacht beginnt

    Jeden Abend, wenn Paula die Klinik betritt, nimmt sie für einen kurzen Moment den eigentümlichen Geruch des alten Gebäudes wahr. Es riecht nach feuchtem Mauerwerk, verstaubten Büchern und kaltem Zigarrenrauch. Durch diesen Basisduft wabern amorphe Blasen aus täglich variierenden Essensaromen. Und einmal in der Woche, nachdem die Putzkolonne durchs Haus gezogen ist, gesellen sich die Ausdünstungen scharfer Putzmittel, Holzpolituren und Teppichreiniger hinzu. Jetzt im Spätsommer wird diese olfaktorische Disharmonie durch die kräftigen Muskat- und Zitronenaromen der Geranien bereichert, die von den Fensterbänken der Patientenzimmer die Hausfassaden hinabranken. Ihr würziger Duft drückt wie schwerer Rauch durch die geöffneten Oberlichter ins Innere der Klinik.

    Neun Jahre ist es her, seitdem Paula in der Psychiatrie Friedhain die Nachtwache übernommen hat. Damals hatte sie sich eingeredet, diesen Dienst nur für ein paar Monate ausüben zu wollen, bis sie einen angemesseneren Job gefunden haben würde. Doch mittlerweile hat sich ihr Tag- und Nachtrhythmus so verkehrt, dass sie sich für keine Arbeit am Tage mehr geeignet fühlt. Aber auch die Nachtarbeit fällt ihr in letzter Zeit immer schwerer. Sie hat öfter unerklärliche Magenschmerzen, hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, und kämpft immer wieder mit einer aufziehenden aber sich nicht durchsetzenden Migräne. Meistens treten diese Probleme mitten in der Nacht ohne Vorwarnung auf. Dazu leidet sie an einer chronischen Müdigkeit, kann aber nicht einschlafen, sobald sie in ihrem Bett liegt. Sie nimmt daher am Tag Schlaftabletten, und nachts gönnt sie sich Stimmungsaufheller. Sie hat sich schon so an die Medikamente gewöhnt, dass sie vom Nachtschwesterdasein direkt in den Patientenstatus wechseln könnte. Aber das würde sie sich niemals eingestehen.

    Paulas Privatleben hat vor geraumer Zeit aufgehört zu existieren. Die wenigen Freunde, mit denen sie einmal verkehrte, sind aus ihrem Leben verschwunden. Sie ist ja auch zu nichts mehr zu gebrauchen. Morgens, wenn sie von der Arbeit kommt, erledigt sie mit müdem Kopf rasch ein paar Haushaltsangelegenheiten und isst zu Mittag. Nachmittags dann begibt sie sich frühzeitig zu Bett, um mindestens sieben Stunden zu schlafen oder besser, es zu versuchen, bevor die Nachtwache aufs Neue beginnt.

    Zu Beginn ihrer Tätigkeit war Paula stolz darauf, in dieser stilvollen Klinik arbeiten zu dürfen, die am Ufer eines großen Sees liegt und an deren Rückseite sich ein kiefernbestandener Hügel erhebt. Über dem Haupteingang hängt noch immer eine steinerne Tafel, auf der »Grand Hotel Europa« zu lesen ist, um bis heute daran zu erinnern, dass das Gebäude eine lange Geschichte hat und ursprünglich nicht als Klinik, sondern als Hotel errichtet worden war. Gehalten wird die Tafel von zwei pausbäckigen nackten Engeln, die Paula jeden Abend bei Dienstantritt spöttisch anlächeln. Die Engel stammen noch aus der Zeit, da das Grand Hotel internationalen Ruf genoss.

    Paula hatte sich in ihren ersten Nachtwachen oft in Träumen verloren, in denen sie sich die Menschen dieser anderen Epoche vorstellte. Sie sah vor ihrem inneren Auge Damen mit weißen Sonnenschirmen und Herren mit schwarzen Zylindern, die paarweise auf der Uferpromenade lustwandelten. Oder sie stellte sich vor, wie sich die Gesellschaft am späten Nachmittag in festlicher Abendgarderobe im Speisesaal traf und zur Musik eines Streichorchesters dinierte. Manchmal war sie in Gedanken so tief in die Vergangenheit des Hauses eingetaucht, dass sie beim Wiederauftauchen darüber erschrak, wie weit die Zeit im Hier und Jetzt bereits vorangeschritten war.

    Doch mittlerweile hat das Haus für Paula viel von seinem einstigen Charme verloren. Die alltägliche oder besser allnächtliche Arbeit darin hat ihr manches verleidet. Wenn sie nachts über die spärlich beleuchteten Flure eilt, um nach einem Patienten zu sehen, der ihrer Hilfe bedarf, dann ist es ja auch unwesentlich, ob sie sich in einem geschichtsträchtigen Hotel oder in einer modernen Klinik befindet. Paula hat zu arbeiten, und diese prosaische Tatsache tötet mehr und mehr die Phantasie in ihr, der sie sich früher so gern wie im Rausch überließ. Nicht einmal der einstige Ballsaal mit seinem knarzenden Parkettboden, den glitzernden, mit Swarovski-Kristallen behängten Kronenleuchtern und der aufwendigen Mahagoni-Wandtäfelung – seit hundert Jahren Quelle des kalten Zigarrenrauchs – vermag ihr beim Durcheilen noch eine Vorstellung von den rauschenden Ballnächten in alter Zeit zu verschaffen, von sich im Rhythmus der Orchestermusik wiegenden Paaren, von Frauen in weißen Kleidern und von strammen Offizieren, die verträumt mit einem Sektglas in der Hand an der Wand lehnen und in deren Monokeln sich der flackernde Kerzenschein von Dutzenden Kronleuchtern spiegelt wie der Widerschein ferner Flakgeschütze.

    2

    Durchs Physikum gerasselt

    Wie jeden Abend vor Antritt ihrer Nachtwache besucht Paula zunächst Stefan. Stefan ist Medizinstudent, der drei Tage in der Woche den Portierjob übernimmt, den Ankommenden und Abreisenden zur Hand geht, Papierformalitäten für sie erledigt und darüber hinaus die gläsernen Eingangstüren im Auge behält, damit keine unangekündigten Besucher in die Klinik einfallen und keine Patienten ohne Erlaubnis einen Ausflug unternehmen.

    Stefan sitzt in einem runden Vorbau, der aus Eichenholz gefertigt ist und dessen Marmortresen von aufwendig verzierten, jedoch schadhaften Alabastersäulen gestützt wird. Hier riecht es aus unerfindlichen Gründen immer ein wenig nach nasser Kreide. Die Wand hinter ihm besteht aus Eichenpaneelen. Nur die mittlere Paneele ist ein künstlicher Nachbau aus Laminat. Dahinter befindet sich der Schacht eines Lastenaufzugs, den man vor vielen Jahren stillgelegt hat. Bei leichtem Sturm pfeift der Wind vom schadhaften Dach des Gebäudes herab bis in den Rezeptionsbereich. Aber von der Existenz des Schachts weiß Stefan nichts, und so wirkt das unerklärliche Heulen des Windes an manchen Tagen auf ihn immer etwas gespenstisch.

    Über dem Tresen des Vorbaus prangt in goldenen Lettern noch immer das Wort Reception. Stefans Arbeit unterscheidet sich kaum von der des Rezeptionisten im einstigen Grand Hotel. Er ist die Schnittstelle zwischen Gebäude und Gast. Er empfängt die Patienten, verteilt Schlüssel, händigt die Post aus und hat immer ein freundliches Wort für jedermann parat. Auch die Patienten unterhalten sich gern mit ihm, vor allem dann, wenn sie erfahren haben, dass er Medizin studiert.

    Stefan ist Mitte zwanzig. Auf der Nase sitzt ihm eine altmodische Nickelbrille mit Goldrand, die seine Augen aufgrund der hohen Dioptriezahl etwas kleiner erscheinen lässt, als sie es tatsächlich sind. Meist trägt er ein weißes Hemd zu einer schwarzen Jeans und roten Turnschuhen. Das scheint sein selbstgewähltes Markenzeichen zu sein. Stefan ist nicht sehr groß, sein Rücken ein klein wenig bucklig, was er selbst gern als »juvenile Kyphose« bezeichnet, um den Begriff »Scheuermann«, den er hasst, nicht aussprechen zu müssen, da er als Kind damit gehänselt wurde.

    Stefans Arbeit endet heute um 22 Uhr, dann wird das Foyer geschlossen. Danach macht er sich auf den Weg zu seinem zweiten Studentenjob. Er arbeitet zusätzlich als Nachtwächter im Ethnologischen Museum, wo er oft das gesamte Wochenende verbringt. Wenn Paula in die Klinik kommt, sitzt er meistens hinter seinem Tresen, trinkt Tee und liest. So auch heute.

    »Ich sehe, du bist noch immer auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, begrüßt Paula Stefan, während sie einen Blick auf den Stapel Zeitungen wirft, der jeden Abend auf der rechten Ecke des Tresens liegt. Da er noch recht dick ist, scheinen heute nur wenige Patienten in der Klinik zu sein. Es gibt allerdings selten Tage, an denen man am Abend kein einziges Blatt mehr vorfindet.

    »Ist erst der fünfte von zehn Bänden«, antwortet Stefan und blickt über den Rand seiner Nickelbrille. »Da wird mich die Suche noch etwas in Anspruch nehmen.«

    »Lies doch einfach den letzten Band zuerst, dann findest du sie schneller wieder.«

    »Das verstehst du nicht, die verlorene Zeit stellt sich nicht wie die Auflösung eines Mordfalls auf den letzten Seiten eines Krimis ein, sondern sie entfaltet sich mit jedem Satz. Die Suche und das Wiederauffinden geschehen quasi gleichzeitig. Es ist nicht wie … wie … na, wie das da!« sagt Stefan und zeigt auf den Zeitungsstapel.

    »Hm«, macht Paula und schnuppert ein paar Mal wie ein Hase in der Luft herum, »benutzt du neuerdings ein neues Aftershave? Es duftet hier irgendwie ein bisschen nach Zimt und komischerweise nach Limettensaft?«

    »Was wäre das denn für ein Aftershave?«

    »Stimmt, du hattest also Damenbesuch, ja?«

    »Ganz gewiss nicht.«

    »Ist ja auch nicht wichtig. Was gibt es denn Neues?« lenkt Paula ein, während sie nach der obersten Zeitung greift und die erste Seite überfliegt. Stefan weiß jedoch, dass die Frage nicht an die Zeitung, sondern an ihn gerichtet ist. Es ist ein eingeübtes Ritual. Deshalb wartet Stefan mit seiner Antwort, bis Paula den Tresen an einer unscheinbaren Stelle, die nur Eingeweihten bekannt ist, geöffnet hat, hindurchgeschlüpft ist und neben ihm auf einem alten Brokatstuhl Platz genommen hat. Der Stuhl hat schon bessere Tage gesehen, seine Messingbeschläge haben längst Grünspan angesetzt.

    »Die Fensterputzer waren da und haben einen solchen Durchzug veranstaltet, dass Dr. Butlers gesammelte Werke eine luftige Neuordnung erfahren haben. Er bekam einen Tobsuchtsanfall, der Einlieferungspotenzial besaß. Aber der Herr Doktor sitzt ja bereits in der Klinik«, berichtet Stefan und legt sein Buch zur Seite.

    Facharzt Dr. Jerome Butler, medizinischer Leiter der Klinik, ist Experte für Psychotraumatologie und schreibt zurzeit an einem großen Werk, das Bahnbrechendes für sein Fach leisten soll. Leider schreibt er nur auf losen Zetteln, die er nach einer für Fachfremde nicht nachvollziehbaren Ordnung auf seinem Schreibtisch stapelt.

    »Hat er sich wieder beruhigt?« fragt Paula.

    »Ja, ein interessanter Fall, für den in der Charité kein Platz war, hat ihn wieder mit der Welt versöhnt und ihn zu einem neuen Kapitel im Buch der Bücher inspiriert.«

    Paula schüttelt den Kopf und lässt die Augen rollen.

    »Vielen Dank übrigens«, sagt Stefan, »du hast meinen Job gerettet. Die Geschäftsführung hat mir gesteckt, dass du dich mächtig für mich ins Zeug gelegt hast.«

    »Das war reines Eigeninteresse«, erwidert Paula. »Ich hatte keine Lust, zukünftig jeden Abend mit einem Hausmeister über verstopfte Rohre zu fachsimpeln, der nebenher die Eingangstür im Blick behält, allerdings nicht, um unsere Patienten freundlich zu empfangen, sondern um zu überprüfen, ob sie beim Betreten der Klinik die Schuhe abgetreten haben.«

    »Das Haus hätte aber Geld gespart, wenn der Hausmeister nebenher …«

    »… an Geld gespart und an Stil verloren«, fällt Paula Stefan ins Wort. »Unser Hausmeister soll sich weiter um das Haus kümmern, an die Pforte gehört jemand, der sich um die Menschen kümmert. Und da du schon mal Medizinstudent bist …«

    »Trotzdem danke«, sagt Stefan. »Und falls ich mal etwas für dich tun kann …«

    »Dann tust du es, ohne dass ich dich lang darum bitten muss.«

    »Ja, richtig.«

    »Weißt du, was ich mich manchmal frage«, erwidert Paula und blickt streng auf Stefans Lektüre, »ich frage mich, ob du die richtige Literatur liest. Nach einem medizinischen Fachbuch sieht das ja nicht gerade aus.«

    »Da du dir Sorgen um mein Wohlergehen machst, sei dir verraten, dass ich in der Tat die Absicht hege, das Studienfach zu wechseln. Ich bin nämlich durchs Physikum gerasselt«, gesteht Stefan und blickt etwas verlegen zu Boden.

    »Tut mir leid, das wusste ich nicht. Aber kannst du die Prüfung nicht wiederholen?«

    »Doch, aber ich spüre in mir leider mehr und mehr eine Abneigung gegen alles, was mit Medizin zu tun hat. Wir sprechen dort immerzu von der ärztlichen Heilkunst, aber ich sehe nirgends Kunst, sondern überall nur Technik. Das missfällt mir.«

    »Hm, die Medizin ist eine praxisorientierte Erfahrungswissenschaft, da muss die Kunst zwangsläufig auf der Strecke bleiben.«

    »Ach ja, du bist ja auch vom Fach«, sagt Stefan und lacht. »Das vergesse ich immer.«

    »Nein, ich habe nur Krankenschwester gelernt«, gibt Paula sich bescheiden, »und mich danach überwiegend um psychisch Kranke gekümmert, da kommt man mit der ärztlichen Diagnostik nicht sehr weit, sondern muss meistens feststellen, dass der Patient nicht seinem Krankheitsbild entsprechen will und sein Verhalten daher nicht das Geringste mit dem Verhalten zu tun hat, wie man es im Lehrbuch beschrieben findet. Es ist dann meist mehr Interpretation als Diagnostik gefragt.«

    »Das meine ich ja«, ereifert sich Stefan. »Jeder Mensch ist ein Individuum. Und wenn ich einen grippalen Infekt habe und du hast einen, dann ist das nicht derselbe Infekt, selbst dann nicht, wenn wir uns bei einem leidenschaftlichen Kuss gegenseitig angesteckt haben sollten. Und folglich darf man uns in der ärztlichen Praxis auch nicht dasselbe Heilmittel verabreichen. «

    »Na hör mal … leidenschaftlicher Kuss … du leidest wohl an Wahnvorstellungen. Aber du weißt ja wo die Schlüssel hängen, such dir ein schönes Zimmer aus, der Doktor kommt gleich!«

    »Das war ja nur als Beispiel gemeint.«

    »Eben drum.«

    »Wie bitte?«

    »Ach, vergiss es und verrate mir lieber, was du anstatt Medizin studieren möchtest.«

    »Wenn ich das wüsste«, lamentiert Stefan und massiert sich mit beiden Händen die Schläfen, so als ob er hoffe, auf diese Weise einen Gedanken produzieren zu können, der ihm einen Ausweg aus seiner misslichen Lage verspricht.

    »Deinem Literaturgeschmack nach würde ich es mal mit Romanistik versuchen«, sagt Paula und zeigt auf Marcel Prousts Roman, den Stefan zurzeit liest.

    »Ich glaube nicht, nein. Das wäre auch nichts für mich.«

    »Oder vielleicht Slawistik? Weißt du, dass Turgenjew und Dostojewski einmal in diesem Hotel übernachtet haben?«

    »Aber bestimmt nicht zusammen, oder?«

    »Nein, gewiss nicht. Das hätte Krach gegeben. Ein Westler und ein Slawophiler unter einem Dach, auwei. Aber im abgesperrten Obergeschoss gibt es noch ein Zimmer, in dem sie im Abstand von einigen Jahren eingecheckt haben sollen.«

    »Wir können ja mal zusammen hinaufgehen«, sagt Stefan und deutet vielsagend auf das Schlüsselbrett hinter sich.

    »Irrtum«, sagt Paula, »den Schlüssel findest du dort nicht, der ist woanders versteckt. Und was sollten wir dort oben auch?«

    »Na, mir würde schon was einfallen«, sagt Stefan und zieht spaßeshalber ein wenig diabolisch die Augenbrauen hoch.

    »Vorsicht, es droht ein grippaler Infekt«, wehrt Paula ab und erhebt sich von ihrem Stuhl.

    »Nicht von mir, ich bin kerngesund.«

    Paula lacht laut auf. »Das glaubst du doch wohl selber nicht«, sagt sie und öffnet den Durchlass am Tresen.

    »Warte!« ruft Stefan. »Können wir nachher wieder ein wenig telefonieren, quasi von Anstalt zu Anstalt, um uns die Zeit zu vertreiben? Ich verbringe die Nacht nämlich wieder mal im Museum.«

    »Da stör ich dich doch nur bei deinen postpubertären Träumereien«, sagt Paula.

    »Aber nein, du störst mich niemals«, erwidert Stefan und wirft Paula eine Kusshand zu.

    3

    Der Neue auf Zimmer neun

    Gegen 20.30 Uhr muss Paula im Schwesternzimmer sein. Dort steckt sie sich jeden Abend ihr Namensschild an die Bluse und bekommt mitgeteilt, was am Tag geschehen ist und worauf sie in der Nacht besonders achtzugeben hat. Heute ist Peter Weber vor Ort, der die Pflegeleitung vertritt, ein leicht überdrehter Mittfünfziger, nur gut eineinhalb Meter groß, dafür aber fast genau so breit. Weber scheint alles komisch zu finden, bekommt zuweilen jedoch ohne Grund einen hysterischen Anfall. Auch Dr. Butler hat sich im Schwesternzimmer eingefunden. Der Vorfall mit den Fensterputzern am Nachmittag ist ihm nicht anzusehen, er wirkt entspannt und heiter.

    Ab und an stößt zur Übergabe auch noch eine von den Psychologischen Psychotherapeutinnen hinzu oder jemand von der Geschäftsführung gibt sich ein Stelldichein, falls es verwaltungstechnische Probleme gibt. Doch heute ist man nur zu dritt.

    »Wir haben auf Zimmer neun einen Neuzugang«, berichtet Dr. Butler ohne jegliche Begrüßung an die Adresse von Paula, so als ob sie seit gestern gar nicht fort gewesen wäre.

    Dr. Butler hat von seiner indischen Mutter einen leicht olivfarbenen Teint geerbt und eine für einen Mann erstaunliche Zierlichkeit. Wenn er spricht, dann hört man jedoch meist seinen Vater sprechen, einen englischen Unternehmer, der mit indischer Baumwolle auf den europäischen Märkten reich wurde, seinen sieben Kindern eine gute Ausbildung finanzieren konnte und einen fatalen Hang zur Ironie besaß, die es einem schwer machte, seine wahre Einstellung und Meinung zu einem Thema zu erraten. Er war wie eine gehäutete Tomate, sagt Dr. Butler gern, wenn er von seinem Vater spricht. Wenn man ihn zu fassen versuchte, flutschte er einem aus der Hand.

    »Ach, Sie meinen unser Aschenputtel«, feixt Peter Weber, der sich anscheinend schon einen Spitznamen für den Neuzugang erdacht hat. »Es hat sogar seine drei Nüsse dabei.« Weber kichert und singt halblaut: »Cinde… rella Rocke… fella.«

    Vor ihm auf dem kniehohen Glastisch liegt sein Smartphone, das alle paar Sekunden ein pulsierendes Fiepen von sich gibt, so als ob Weber mit einer interstellaren Raumflotte in ständigem Kontakt stünde, die ihn jeden Moment aus der Runde zurück ins Mutterschiff beamen könnte. Daneben liegt sein lackroter Autoschlüssel mit einem silbernen Ferrari-Pferdchen als Konterfei.

    »Nach Rockefeller sieht der leider nicht aus«, wehrt Dr. Butler ab und rekelt sich müde auf einem durchgesessenen Zweisitzersofa, das, so viel ist klar, keinesfalls zum luxuriösen Kernbestand des Hotels gehört.

    »Wie jetzt? Es oder er?« fragt Paula irritiert, während sie immer noch damit beschäftigt ist, die Sicherheitsnadel ihres Namensschilds durch den dünnen Stoff ihrer Bluse zu stoßen und die Nadel korrekt zu verschließen. »Kann mich jemand aufklären?«

    »Noteinweisung«, sagt Dr. Butler und gähnt, während er seine Füße, die in ausgelatschten No-name-Turnschuhen stecken, auf die Kante des Glastisches drapiert, als ob er ein Nickerchen halten wollte. »In der Charité gab es keinen Platz mehr für ihn, und da hat man uns gebeten, ihn zwei, drei Tage unter Beobachtung zu halten. Morgen früh kommen zwei Polizeibeamte und wollen noch einmal versuchen, mit ihm zu sprechen«, fügt er hinzu, wobei die Hälfte seiner Worte von einer Gähnattacke verschluckt wird.

    »Und was hat das offensichtlich männliche Aschenputtel angestellt?« fragt Paula, die ihr Schild mittlerweile befestigt hat und sich einen Kaffee eingießt, der vom Nachmittag stammt und nur noch lauwarm ist.

    »Es hat versucht, in das Ethnologische Museum einzubrechen «, erklärt Weber und findet es komisch, weiterhin von einem Neutrum zu sprechen. »Aber der Nachtwächter konnte es dabei stellen, als es gerade eines der Dachfenster aufhebelte. Die Polizei fragt sich, wie unser Puttel überhaupt auf das Dach des Museums gekommen ist, es hatte weder eine Leiter noch ein Seil dabei und war darüber hinaus barfuß.«

    »Aber es war nicht zufällig unser Stefan, der den Eindringling stellte?« fragt Paula, die sich wundert, dass Stefan ihr vorhin von dem Vorfall nichts erzählt hat. Vielleicht war er zu sehr mit seinem misslungenen Physikum beschäftigt.

    »Was? Ach nein, der war es nicht. Der arbeitet doch nur am Wochenende dort, oder?« fragt Dr. Butler und fügt hinzu: »Erschrecken Sie sich nicht, der Neue sieht aus wie ein Indianer. Die Polizei vermutet, dass es sich um einen Studenten aus Südamerika handelt, der komplett durchgeknallt ist, was auch immer das für ein Krankheitsbild sein mag. Vielleicht widme ich Komplett durchgeknallt in meinem Buch ein eigenes Diagnosekapitel, oder was meinen Sie? Auf mich jedenfalls macht er nicht den Eindruck, als ob er noch studierte. Er sieht viel älter aus als ein Student.«

    »Und was sagt er selber zu seiner Aktion?« fragt Paula, die immer noch Schwierigkeiten hat, das verwirrende Gerede der beiden in einen sinnvollen Zusammenhang einzuordnen.

    »Das ist das Problem«, antwortet Dr. Butler. »Er spricht nicht. Weder auf der Wache, noch bei uns hat er auch nur ein Wort gesagt. Er sieht dich an, als ob er nichts verstünde. Aber er kann ja nicht direkt aus dem Regenwald hierher transloziert worden sein.«

    »Wer weiß, wofür die Zaubernüsse gut sind«, kichert Peter Weber schon wieder.

    Da Paula ihn nur sehr ernst und verständnislos ansieht, erklärt er nüchtern: »Es trägt so eine bunte Umhängetasche bei sich, wie man sie in Eine-Welt-Läden kaufen kann, und darin befinden sich drei Nüsse.«

    »Und eine Holzflöte und ein paar Blätter«, fügt Dr. Butler hinzu. »Doch was das Merkwürdigste ist, er hat auch eine Holzspule dabei, auf die ein langer Goldfaden aufgewickelt ist. Vielleicht können Sie den Patienten nachher dazu überreden, etwas zu sich zu nehmen. Er hat bislang weder gegessen, noch getrunken.«

    »Ich kann es versuchen«, sagt Paula. »Gibt es für ihn einen Medikamentenplan?«

    »Nein«, antwortet Dr. Butler, »der Mann verweigert selbst Vitamintabletten. Ich bin mir auch überhaupt noch nicht sicher, mit welcher psychischen Disposition wir hier konfrontiert sind. Ehrlich gesagt habe ich bislang rein gar nichts aus ihm herausbekommen und daher keine Ahnung, ob hier irgendeine schizophrene Struktur oder eine massive Persönlichkeitsstörung oder was auch immer vorliegt. Er spielt diesen Indianer so gut, dass ich heute Nachmittag ein paar Mal daran zweifelte, ob er ihn wirklich nur spielt, verstehen Sie?«

    »Zieht das Ethnologische Museum nicht gerade ins neue Humboldtforum um?« fragt Paula, die sich an ein Gespräch erinnert, das sie kürzlich mit Stefan geführt hat. Dieses Gespräch war der Grund dafür gewesen, warum sie sich bei der Geschäftsführung für ihn eingesetzt hatte, denn Stefan befürchtete, seinen Job im Museum aufgrund des Umzugs bald verlieren zu können. Im neuen Forum benötige man keine Studenten mehr als Aushilfe, dort arbeiteten angeblich nur noch ausgebildete Fachkräfte. Und da ein Unglück selten allein kommt, beschloss die Geschäftsführung der Klinik zur selben Zeit, den Hausmeister nebenher den Türdienst versehen zu lassen, um ein paar jämmerliche Euro einzusparen. In diesem Moment war Paula für Stefan in die Bresche gesprungen, damit er nicht beide Jobs auf einmal verlor und dadurch sein Studium in Gefahr geriet.

    »Sie meinen, es handelte sich beim Besteigen des Daches in Indianerkleidung um eine politische Protestaktion? « fragt Weber und grinst. »Wir Indianer wollen, dass unser Tomahawk im Ethnologischen Museum begraben bleibt. Howgh, ich habe gesprochen.«

    »Vielleicht«, sagt Paula, »obwohl Sie da jetzt Nord- und Südamerika verwechseln.«

    »Etwas spät«, meint Dr. Butler. »Der Umzug ist doch seit Jahren beschlossene Sache. Außerdem hätte er dann ja ein Transparent oder so etwas ausgerollt und nicht das Dachfenster aufgehebelt.«

    Paula nippt an ihrem Kaffee, verzieht ihr Gesicht und gießt den Inhalt der Tasse in den Ausguss des Waschbeckens. Sie denkt darüber nach, ob sie gleich Brot und Tee für den Neuen aus der Küche herbeischaffen soll. Die Nacht ist ja noch lang, und vielleicht überlegt es sich der merkwürdige Patient anders und gibt seine Blockadehaltung auf.

    »Ansonsten war heute alles ruhig«, ergreift Dr. Butler erneut das Wort. Anscheinend will er über den Vorfall mit den Fensterputzern nicht sprechen. »Frau Stingler hat ein paar Ölfarben an die Wand geklatscht, weil sie in der Therapiestunde nicht malen wollte. Ich habe keine Ahnung, was mit ihr los war. Sie war ganz außer sich, geradezu fremdgesteuert, und Rechtsanwalt Folz hatte kurz darauf eine Fressattacke und hat sich die abgehungerten zwei Kilogramm von vergangener Woche in zehn Minuten wieder auf die Rippen geladen. Darüber hinaus gab es drei Entlassungen, die Sieben, die Vierzehn und die Achtzehn, so dass heute Nacht nur drei Patienten zu betreuen sind.«

    »Das mit Herrn Folz ist ja nicht das erste Mal«, bemerkt Paula.

    »Nein«, sagt Dr. Butler, »unser Herr Rechtsanwalt entwickelt sich zu einem verlässlichen Dauergast. Paradoxerweise ist es so: Je weniger er seinen eigenen Grundumsatz zu steigern vermag, desto größer wird der unsrige.«

    »Dafür, dass Sie sein Therapeut sind, sind Sie manchmal sehr zynisch«, kritisiert Paula Dr. Butler.

    »Wie könnte die Wahrheit zynisch sein? Wenn Sie meine Worte als zynisch empfinden, dann verstehen Sie nichts von Klinikmanagement. Mit zu rasch gesundenden Patienten lassen sich keine Erfolgsbilanzen schreiben. Da muss man realistisch sein.«

    »Seit wann interessieren Sie sich für Verwaltungsangelegenheiten? « fragt Paula spöttisch.

    »Das sollten Sie auch tun«, antwortet Dr. Butler. »Es ist immer gut zu wissen, wie die da oben ticken, denn dann werden Sie mit Entscheidungen, die unter Umständen Ihr Leben verändern können, nicht aus heiterem Himmel konfrontiert.«

    »Ich bitte Sie«, sagt Peter Weber, der

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