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Antiquariat Abendroth
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eBook350 Seiten3 Stunden

Antiquariat Abendroth

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Über dieses E-Book

Fabian Abendroth betreibt in einer kleinen mitteldeutschen Stadt ein Antiquariat, das er allerdings nicht so sehr als Geschäft, sondern mehr als Arche begreift, in der bedeutende Bücher vor der Sintflut sprachlicher Belanglosigkeit gerettet werden sollen. Seine Bücher stehen daher mehr unter Schutz als zum Verkauf. Als ein Investor die ganze Stadt zum Sport-Outlet machen möchte und dafür reihenweise Ladenlokale erwirbt, fühlt sich Fabian Abendroth plötzlich von allen Seiten bedrängt, sein Geschäft aufzugeben. Und als ihn dann auch noch die Vergangenheit einholt, scheint sein ungewöhnliches Antiquariat endgültig dem Untergang geweiht.

»Ein Roman, der sich nicht zuletzt auch als kritische Parabel auf unsere moderne Mediengesellschaft und unsere zunehmende Bewusstlosigkeit im Umgang mit Sprache lesen lässt.«
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum17. Mai 2022
ISBN9783347595484
Antiquariat Abendroth
Autor

Ben Castelle

Ben Castelle wuchs im Münsterland auf, studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie und lebt heute als Redakteur und freier Autor im Rheinland. Bei „tredition“ erschienen in den vergangenen Jahren acht Romane, zwei Erzählbände und ein Haiku-Band.

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    Buchvorschau

    Antiquariat Abendroth - Ben Castelle

    1

    Pünktlich um zehn Uhr stieg Fabian Abendroth die schmale Wendeltreppe aus seinen hellen Wohnräumen hinab in die dunklen Verkaufsräume seines Antiquariats. Sein Ziel war die gläserne Eingangstür, die er stets um diese Zeit für die Kunden aufschloss.

    Vor der Tür stand ein Paket. Der Postbote war also schon dagewesen. Fabian Abendroth hob den Karton von der Gummimatte empor, blickte einmal über die Straße und grüßte den Caféhausbesitzer Krüger, genannt Printen-Krüger, der gerade eine gelbe Markise über Tische und Stühle im Außenbereich seines Cafés entrollte und so tat, als ob er Fabian Abendroth nicht sähe. Dann nahm er das Paket mit ins Haus und stellte es auf einen schwarz geölten mit Türornamenten versehenen Eichenholzschreibtisch im hinteren Teil seines Ladens.

    Das Paket war vollgestopft mit Zeitungspapier. Fabian Abendroth warf die zerknüllten Papierfetzen in den Bastkorb, der unter dem Schreibtisch stand, und legte schließlich drei Bücher frei. Hamanns Aesthetica in nuce von 1760 in einer Ausgabe aus dem 19. Jahrhundert, Wilhelm von Humboldts Schriften zur Sprache in einer Leseclub-Version aus der Neuzeit, und den ersten Band aus Bruno Liebrucks sechsbändigem Werk Sprache und Bewusstsein aus den 1960er Jahren.

    Bevor Fabian Abendroth für jedes der Bücher eine blaue Karteikarte auszufüllen gedachte, nahm er jeden Band einmal kurz in die Hand, blätterte ihn wie ein Daumenkino an und hielt seine Nase über die Seiten. Jedes Buch hatte seinen eigenen Duft. Und dieser Duft konnte viel über die Vorbesitzer verraten. Alte Bücher, die stets trocken gelagert worden waren, dufteten zuweilen nach Schokolade. Doch über diesen Grundduft legten sich gern Fremddüfte. Hamanns Aesthetica beispielsweise wies einen dezenten Fliedergeruch auf, und sogleich dachte Fabian Abendroth an eine alte Schlossbibliothek, in der zuletzt eine gehbehinderte aristokratische Dame die Bücher regelmäßig entstaubt hatte, bevor sie starb und ihr Nachlass von den Enkelkindern im Internet veräußert worden war. Humboldt hingegen atmete einen leichten Zigarrenduft. Wahrscheinlich hatte er jahrelang bei einem Professor in der Studierstube gestanden und mit ansehen müssen, wie der Professor vom Jungordinarius zum Emeriten wurde. Nach rein gar nichts hingegen roch das dunkelgrüne Buch von Bruno Liebrucks. Fabian Abendroth wunderte sich und ließ seine Nase ein zweites Mal über die Seiten gleiten. Nichts.

    Alle drei Bücher hatten den Test auf jeden Fall bestanden. Das war nicht immer so. Manchmal roch ein Buch so streng nach Zigarettenqualm, dass es für drei Wochen auf den Dachboden verbannt werden musste, um dort quasi in strenger Quarantäne auszulüften. Fabian Abendroth hatte auch schon Bücher erstanden, die nach Krankenhaus und Tod gerochen hatten. Auch diese mussten zunächst auf den Dachboden. Waren sie nach drei Wochen immer noch olfaktorisch ungenießbar, kamen sie in die Grabbelkiste, die vor dem Laden stand, um der Laufkundschaft angedient zu werden. In dieser Angelegenheit war Fabian Abendroth gnadenlos. Ein schlecht riechendes Buch war etwas ganz und gar Unmögliches. Er glaubte, einmal gelesen zu haben, dass im Hebräischen die Worte Geist und Duft denselben Wortstamm besaßen. Seither fühlte er sich in seiner Radikalität, was das Aussortieren übelriechender Bücher anging, nur noch mehr bestätigt.

    Fabian Abendroth setzte sich an seinen Schreibtisch, zog eine der schwergängigen Schubladen ein Stück weit heraus und entnahm dort drei Karteikarten. Er griff zu einem angespitzten Bleistift und wollte gerade die Namen der Neuerwerbungen eintragen, als die Türglocke kräftig anschlug. Am Klingeln erkannte er, dass es Bella war, die italienische Eisverkäuferin, die ihr Eiscafé drei Häuser weiter betrieb. Alle normalen Menschen verursachten beim Betreten des Antiquariats nur ein leises und dezentes Klingelgeräusch, das durch eine kleine japanische Glocke ausgelöst wurde, die an der Eingangstür hing. Bella hingegen erzeugte stets ein volltöniges Festtagsgeläut, als ob sie die Tür beim Eintreten kräftig durchrüttelte.

    Fabian Abendroth sprang auf und verschwand rasch in den hinteren Bereich seines Antiquariats, um den Anschein zu erwecken, er sei dort mit irgendeiner wichtigen Arbeit beschäftigt. Kaum hatte Bella den Laden betreten, da rief sie auch schon: »Wo hältst du dich versteckt, du gottverdammter Bücherwurm? Hat dich beim Staubwischen endlich eine Goethe-Gesamtausgabe unter sich begraben oder machst du mit runtergelassenen Hosen den Adler in der Jung- und Freud-Abteilung?«

    Fabian Abendroth fragte sich, ob Bella ganz bewusst einen schlüpfrigen Scherz gemacht hatte oder ob ihr dieser nur so herausgerutscht war. Bestimmt war er ihr nur herausgerutscht, dachte er, denn es erforderte ja schon einiges an rascher metaphorischer Imaginationsleistung, wenn man die Namen Adler, Jung und Freud in ihrer Vieldeutigkeit zu erkennen und dann auch noch scherzhaft anzuwenden vermochte, mal abgesehen davon, dass es im gesamten Antiquariat kein einziges Buch dieser drei Herren gab.

    Obwohl er keinen Mucks von sich gab, ließ Bella sich nicht so leicht abwimmeln. Mit der Stimme einer Psychopathin flüsterte sie singend: »Ich weiß, dass du hier bist«, während sie Schritt um Schritt näherkam. Schließlich hatte sie Fabian Abendroth am Regal für russische Literatur des 19. Jahrhunderts aufgespürt, zu dem er blindlings gehechtet war.

    »Ach Bella, hallo, ich habe dich gar nicht reinkommen hören«, sagte Fabian Abendroth, als ob das Verrücken von Büchern ihm eine dermaßen hohe Konzentrationsleistung abverlangte, dass er die Welt um sich herum einfach vergessen hatte. Bella fiel auf diese Masche nicht herein, sondern kam direkt zu ihrem Anliegen: »Da sind ein paar seltsame Typen in der Stadt, einer mit ner Bibelverkäufer-Visage, der andere so mehr Marke Prochnow, dazu ne Ablenkungs-Blondine im Ultraminirock. Ich sag dir, die führen nichts Gutes im Schilde. Waren die schon bei dir?«

    Während Fabian Abendroth verneinte und Turgenjew mit Dostojewski die Plätze tauschen ließ, nur um Tätigkeit vorzutäuschen, echauffierte sich Bella immer mehr: »Ich sage dir, da läuft irgendetwas Schräges. In der letzten Stadtratssitzung gab es jede Menge Tagesordnungspunkte, die nicht öffentlich waren, und alle betrafen sie die Zukunft unseres Städtchens. Es ging um Dinge wie Aufwertung der Verweilqualität, Erhöhung der durchschnittlichen Aufenthaltsdauer, Vorstellung eines neuen gastronomischen Konzepts für die Innenstadt und vor allem um Ideen für ein zukünftiges Stadtmarketing.«

    »So, so, sehr interessant«, erwiderte Fabian Abendroth, während er Turgenjews Väter und Söhne in der linken Hand und Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus in der rechten Hand hielt. Seine lapidare Antwort reizte Bella nur noch mehr.

    »Während du hier mit Altpapier spielst, wird draußen die Stadt verkauft. Wann wirst du endlich wach und hilfst, das zu verhindern?«

    Fabian Abendroth antwortete, dass er zurzeit hellwach sei, ihre Ausführungen jedoch sehr ermüdend fände. Daraufhin griff Bella zu Gontscharows tausendseitiger Schlucht und wollte dieses Mammutwerk allem Anschein nach mit Schwung auf Fabians Schädel niedersausen lassen, doch konnte dieser mit seinem Slawophilen und seinem Westler in der Hand noch rasch Gegenwehr leisten und den Schlag abwehren, was allerdings dazu führte, dass die Schlucht sich öffnete und zu Boden fiel, wobei einige Seiten arg geknickt wurden.

    »Scheiße, das wollte ich nicht«, sagte Bella versöhnlicher und hob das Werk sogleich vom Boden auf, um die Seiten wieder zu glätten. »Lass nur«, erwiderte Fabian Abendroth, »ich mach das nachher in Ruhe, habe ja sonst nichts zu tun.«

    »Im Ernst«, erwiderte Bella, während sie das Buch auf eine Ablage legte, »ich habe da ein ganz mieses Gefühl.«

    »Was soll schon sein?« versuchte Fabian Abendroth sie zu beruhigen, während sein Blick zugleich sorgenvoll zu Gontscharow glitt, »wahrscheinlich suchen diese Leute nur ein Ladenlokal für ihr neues Gastronomiekonzept zwecks Erhöhung der Verweilqualität.«

    Davon wollte Bella nichts wissen. »Wir haben hier genug Restaurants und Cafés«, zeterte sie los, »am Ende ist für niemanden mehr etwas zu holen.«

    Fabian Abendroth überlegte, ob er den Satz »Konkurrenz belebt das Geschäft« äußern sollte, unterließ es aber, da ihm dieser zu phrasenhaft erschien, zum anderen aber hatte er Angst, Bella könne erneut handgreiflich werden. Also riss er sich zusammen und sagte stattdessen: »Du solltest dir nicht zu viele Sorgen machen. Vorhaben, die noch nicht oder nur ungenügend zur Sprache gekommen sind, interpretiert man meistens falsch.«

    Bella sah ihn fragend an und verdrehte die Augen. »Gut«, sagte sie schließlich, »dann warte mal schön ab, bis dir der Untergang unseres Städtchens als Roman vorliegt und du dir einen Reim darauf machen kannst. Ich werde lieber versuchen, eine der Hauptrollen in diesem Krimi zu spielen und alles tun, damit die Geschichte am Ende nicht böse ausgeht.«

    Fabian Abendroth machte eine galante Bewegung, die sowohl: »Mach das, meinen Segen hast du«, heißen konnte, als auch: »Wie kann man nur so grundlos aufgeregt sein?«

    Doch bevor Bella Fabian Abendroth in Ruhe ließ, nahm sie ihm noch das Versprechen ab, ihr sofort Bescheid zu geben, sobald das Trio Infernale auch seine staubige Lokalität heimgesucht haben würde. »Und schau den Typen in die Augen«, sagte sie schon halb auf der Straße, »und nicht nur der Blondine auf den Hintern!«

    2

    Die plötzliche Ruhe nach Bellas Abgang umspülte Fabian Abendroth wie das Wasser in einem Freibad, das den Körper nach einer vorangegangenen kalten Dusche plötzlich angenehm warm zu umschmeicheln scheint. Er atmete auf und trug Gontscharow hinüber zum Schreibtisch, um nachzusehen, wie schwer das Buch beschädigt war. Aber der Russe schien hart im Nehmen. Dank seines enormen Eigengewichts übernahm er selbst die Glättung seiner verknickten Seiten.

    Fabian Abendroth erinnerte sich daran, dass die Schlucht der letzte große Roman von Gontscharow gewesen war. In seinen noch folgenden einundzwanzig Lebensjahren hatte er der Literatur den Rücken gekehrt und nur noch seine Memoiren geschrieben. Und das nur, weil die Kritiker seine Schlucht mit Sprachmüll gefüllt hatten. Man warf ihm vor, von einem Liberalen zum Konservativen geworden zu sein. Dieser banale Vorwurf, der rein politisch motiviert und mit einem literaturkritischen Urteil rein gar nichts zu tun gehabt hatte, reichte offensichtlich aus, um diesen Mann zum Schweigen zu bringen. Der Autor selbst war also nicht so hart im Nehmen gewesen wie sein Buch. Allerdings wurde sein Buch noch immer gelesen, während sich an die Kritiker von damals nur noch einige Experten erinnerten. Literatur, so dachte Fabian Abendroth, hat grundsätzlich immer einen längeren Atem als ihre Kritiker, weil sie, wie nur der Lesende weiß, in Wahrheit nichts von alldem sagt, was manche Rezensenten ihr als politische Meinung unterstellen.

    Fabian Abendroth füllte gewissenhaft die drei blauen Karteikarten für die Neuzugänge aus und sortierte zwei von ihnen in das für sie vorgesehene Regal ein. Mit dem Hamann-Buch begab er sich sodann in die hinteren Räumlichkeiten seines Antiquariats, wo sich ein kleines Sprossenfenster befand, durch das man einen schönen Ausblick auf das mittelalterliche Bild der Stadt hatte, genauer auf die kleinen bunten Fachwerkhäuser mit ihren Ladenlokalen sowie auf das glattgetretene Kopfsteinpflaster, das in der Ferne in das Halbrund des Marktplatzes mündete. Mitten durch die Stadt floss seit jeher der Fluss, der neben der Hauptdurchgangsstraße sein tiefergelegtes Bett besaß, nur noch an wenigen Stellen zu Tage trat und statt frei zu rauschen nur hier und da in der Tiefe gurgelte. Legte man den Kopf etwas in den Nacken, dann konnte man über die Fachwerkhäuser hinweg auf den alten Wehrgang der Stadtmauer blicken, auf dem manchmal ein paar Touristen unterwegs waren, die mit ihren Smartphones Bilder von den bunten Dächern des Städtchens machten. Und wenn man den Kopf noch etwas höher hob, dann sah man die alte Burg, die über allem thronte und bei Nacht mit modernen LED-Scheinwerfern angestrahlt wurde. Wenn man genau hinsah, dann erkannte man aber, dass der größte Teil der Burg nur aus grauen Betonklötzen bestand, die das alte efeuumwachsene Gemäuer zu stützen und auszufüllen versuchten, da von diesem nicht mehr allzu viel vorhanden war.

    Vor dem kleinen Sprossenfenster standen ein Tisch und ein Stuhl. Fabian Abendroth setzte sich und schlug das Buch auf. Er blätterte ein wenig darin herum. Er hatte dieses Buch vor einigen Jahren schon einmal in einer Taschenbuch-Ausgabe gelesen, die aber eines Tages doch noch überraschend einen Abnehmer gefunden hatte. Während er einige Sätze las, erinnerte er sich wieder an den besonderen Tonfall Hamanns. Da gab es Sätze, die man auch nach zehn Mal lesen nicht verstand, und andere, die man nie im Leben wieder vergaß. Zum Beispiel den Satz: »Rede, dass ich dich sehe!« Über diesen Satz hatte Fabian Abendroth schon sehr oft nachgedacht. Zuletzt als er vor einigen Jahren die Bekanntschaft mit Bella Mancini gemacht hatte. Er hatte die Italienerin zunächst nur von weitem gesehen, als sie mit ihrem Mann Raffaele das Eiscafé einrichtete. Sie trug enge Jeans und darüber ein rotes Holzfällerhemd, die langen dunkelbraunen Haare waren zu einem langen Zopf geflochten. Und obwohl sie von ihrer Kleidung her geradezu unscheinbar erschien, war Fabian Abendroth sogleich von ihrem Äußeren begeistert gewesen. Ihre Art, eine Leiter zu tragen oder einen schweren Farbeimer, hatte ihn so begeistert, als ob er einer Schauspielerin auf der Bühne zusah, die jede Bewegung bewusst und nach einer festgelegten Choreografie ausführte. Dann wurde das Eiscafé eröffnet und Bella Mancini hatte sich dazu kräftig mit Designergarderobe und Schminke herausgeputzt, was ihre angeborene Schönheit wohl noch betonen sollte. Doch für Fabian Abendroth war das zu viel des Guten gewesen, so als ob man ein Meisterwerk der Malerei mit einem von Ornamenten überbordenden goldenen Rahmen ausstaffiert oder in einem Buch bedeutende Sätze dick unterstrichen und mit drei Ausrufezeichen versehen hätte. Das Offensichtliche sichtbar zu machen, empfand er als geschmacklos. Ein paar Tage später stand Bella dann plötzlich in seinem Laden. Damals war sie das erste und letzte Mal leise eingetreten, fast wie in eine Kirche, und stand da wie ein schüchterner Teenager, der sich um eine Praktikumsstelle bewerben möchte und nicht weiß, was er sagen soll. Ein wenig erschrocken blickte sie auf all die Bücher, die in den Regalen standen oder zu Türmchen gehäuft am Boden und auf Tischen lagen. Verlegen strich sie sich dabei durchs Haar. Fabian Abendroth stand von seinem Platz hinter seinem Schreibtisch auf und ging ihr entgegen. Er fühlte, wie sein Herz schlug, denn dieser erste sprachlose Moment zwischen ihnen beiden war so überwältigend, dass er für einen Moment fürchtete, das Bewusstsein zu verlieren. Doch traf das nur auf ihn zu, weil für ihn gewissermaßen aus allen nichtgesagten Worten ein irisierendes Universum an Möglichkeiten aufleuchtete. In dem Moment aber, da Bella zu sprechen begann, implodierte dieses Universum, schrumpfte zusammen und verschmolz rasch zu einer Wirklichkeit, der alle Farben auf einen Schlag entwichen waren.

    »Hier riecht es nach Staub«, sagte Bella, »vielleicht kann man mal ein Fenster öffnen? Sind Sie auch gerade erst eingezogen? Glauben Sie mir, wenn der Plunder erstmal raus ist, sind diese alten Dunkelkammern gar nicht so schlecht. Wir haben einen Durchbruch gemacht, das hat Platz gegeben. Was wollen Sie denn hier eröffnen? Ach, ich vergaß, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, Bella Mancini, wir sind jetzt Nachbarn. Mein Mann und ich haben das Eiscafé eröffnet. Kommen Sie uns doch mal besuchen. Ich lade Sie herzlich ein. Mein Mann ist ein echter Eiskünstler. Wir haben Superfood-Eis, Gurkeneis mit Dill und Austernwasser, Eis mit Brunnenkresse, Matcha-Tee-Eis und für exquisite Feinschmecker sogar Gefrorenes mit Büffelmozarella.«

    »Auch Schokoladeneis?« fragte Fabian Abendroth kaum hörbar.

    »Selbstverständlich auch Schokoladeneis.«

    »Dann komme ich vielleicht demnächst mal vorbei«, versprach Fabian Abendroth, obwohl er schon seit zwanzig Jahren kein Eis mehr gegessen hatte.

    »Sehr schön, ich freue mich«, sagte Bella Mancini, und da sich zwischen ihr und dem merkwürdigen Fremden keine weitere Unterhaltung entspinnen wollte und sie auch nicht mehr ganz sicher war, ob die Bücher nicht doch mehr bedeuteten als ein Haufen Restmüll vom Vormieter, gab sie Fabian Abendroth einmal kurz die Hand und verabschiedete sich wieder.

    »Rede, dass ich dich sehe!« las Fabian Abendroth jetzt nochmals und musste lächeln. Zu Beginn, dachte er, besteht ein uns unbekannter Mensch also aus lauter Möglichkeiten, positiven wie negativen, doch dann sagt er ein paar Sätze und die vielen Möglichkeiten gerinnen zu einer einzigen sichtbaren Wirklichkeit, so wie beim Bleigießen, wenn das siedende Blei, aus dem alles werden könnte, im kalten Wasser nur eine einzige zufällige Form annimmt und darin erstarrt. Manchmal allerdings, so muss man zugeben, ist die Form auch überraschend und man schämt sich fast, diese mögliche Gestalt zuvor nicht in Betracht gezogen zu haben.

    Seit diesem ersten Treffen war Bella Mancini für Fabian Abendroth nur noch eine Nachbarin, die ihm zuweilen auf die Nerven fiel. Das hieß nicht, dass er sie nicht mochte, aber da war nichts mehr von dem Zauber, der sie am Anfang umgeben hatte, ein Zauber, den er sich natürlich selbst geschaffen hatte und für dessen Verschwinden Bella Mancini nicht im Geringsten verantwortlich war. Denn nicht Bella Mancini hatte ihn enttäuscht, er hatte sie enttäuscht, und zwar in seinem eigenen Kopf. Wobei er sich fragte, warum er mit einer Enttäuschung nicht besser zurechtkam als mit einer Täuschung. Ja, eine Enttäuschung ist doch eigentlich etwas Positives, dachte er, weil sie einen von etwas befreit, das nur Lug und Trug ist.

    In diesem Moment sah Fabian Abendroth, wie das Trio Infernale aus einem der gegenüberliegenden Häuser trat. Es kam aus dem kleinen Haushaltsgeschäft von Frau Peters, die dort seit ewigen Zeiten und von Jahr zu Jahr weniger erfolgreich Töpfe, Pfannen, Gläser, Mixer in angestaubten Kartons und ab und an sogar noch eine Espressomaschine aus Aluminium verkaufte. Das Trio blieb stehen, lächelte und klatschte sich dann ab, wie Fußballspieler, die sich darüber freuen, einen Ball im gegnerischen Tor versenkt zu haben. Bella hatte Recht gehabt: Der eine von ihnen sah mit seinem weichen Gesicht und den großen Kulleraugen aus wie ein Bibelverkäufer. Der andere, der Bella wohl aufgrund seines männlich verwitterten Gesichts an den Schauspieler Prochnow erinnert hatte, war ebenfalls mit dieser Bezeichnung hinreichend beschrieben. Und als Fabian Abendroth beim Betrachten der jungen Frau schließlich auch noch an Bellas Bezeichnung Ablenkungs-Blondine im Ultraminirock denken musste, lachte er einmal laut auf und kam anschließend aus dem Kichern gar nicht mehr heraus, so dass er es nicht mehr schaffte, sich erneut in den Hamann-Text zu vertiefen.

    3

    Das Antiquariat Abendroth war kein gewöhnliches Antiquariat. Das lag zum einen daran, dass man nicht genau abschätzen konnte, wie groß es eigentlich war. Früher einmal war in diesem Haus Wein verkauft worden. Das Haus stand an einem Felshang, und es gab einen tief in den harten Fels geschlagenen Weinkeller, über dessen Größe in der Stadt nur Gerüchte im Umlauf waren, weil seit der Bombardierung durch die Alliierten niemand mehr in diesem Keller Schutz gesucht hatte. Und diejenigen in der Stadt, die sich

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