Die Speerschleuder
Von Martina Schäfer
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Aber auch wenn Archäologen mit allen Schattierungen des Todes vertraut sind, heißt das nicht, dass er ihnen nichts anhaben kann.
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Buchvorschau
Die Speerschleuder - Martina Schäfer
978-3-95959-078-5
Vor der Geschichte
Die richtige Waffe zu finden ist in diesen Zeiten nicht so einfach. Nur Narren glauben, dass man an jeder Ecke ein geeignetes Jagdinstrument findet. Aber gute, treffsichere Waffen sind rar, wenn man nicht die geeigneten Verbindungen hat, und sie müssen zudem auch zum Wild passen, das erlegt werden soll.
Und ja! Es sollte erlegt werden! Der Jäger knirschte mit den Zähnen.
Ihn führte man nicht an der Nase herum! Ihn setzte man nicht unter Druck!
Zielsicher auf einige Entfernung sollte die Waffe sein, damit er im Notfall rechtzeitig fliehen könnte. Möglichst keine oder nur wenig Spuren hinterlassen.
Zu dem Versteck, in welchem er dem Wild auflauern wollte, musste die Jagdwaffe auch passen. Im Wald schoss man nicht mit Fernwaffen, sondern stellte Fallen, während der Schuss in der Ebene nicht weit genug reichen konnte, denn anschleichen war da kaum möglich.
Der Jäger wählte mit Bedacht.
16:00
Schwatzend und lachend verließen die jungen Leute den Bibliotheksraum des Instituts für Ur- und Frühgeschichte .Johanna Schmid, die gerade das Proseminar für sie gehalten hatte – eine Einführung in die grundlegenden Methoden und Inhalte des Faches für Erstsemester – kramte derweilen ihre Folien auf dem grossen, schweren Tisch mit dunkelgrüner Tischplatte zusammen. Es war ein wahres Monstrum von Tisch, von allen nur „Grüner Tisch" genannt, der den ganzen Raum dominierte und von dem die Sage ging, er stamme noch aus den Gründerzeiten des Institutes.
Sie schaltete Overheadprojektor und Beamer aus und schloss den Laptop, der ihr erlaubte, jederzeit auch während der Lehrveranstaltungen auf die neuesten Informationen zuzugreifen.
Ihr Magen knurrte bedenklich, da sie vor dem Seminar keine Zeit gehabt hatte, noch etwas zu essen.
Sie schaute sich um,und als sie sah, dass alle Studierenden den Raum verlassen hatten, kramte sie schnell ihren Proviant hervor und nahm einen tiefen Schluck aus der Milchtüte, ehe sie weiter ihre Unterlagen einräumte und diverse Bücher in ihre Regale zurück ordnete.
Seit der pedantische Georgi van der Matten, von allen nur Dschordschi genannt, neben seinen Aufgaben als Assistent der Altsteinzeit auch die Verantwortung für Ordnung und Sauberkeit in den Bibliotheksräumen übernommen hatte, standen sämtliche Bücher messerscharf ausgerichtet und alphabetisch überexakt an ihren Orten und Plätzen. Keines kippte schief zur Seite, keine Lücke gähnte dunkel, keine Fliegende-Blatt-Sammlung segelte den stöbernden StudentInnen entgegen, und selbst die Krümel und Kaffeetassenränder waren vom prunkvollen Grünen Tisch verschwunden, ebenso wie die halb ausgelesenen Tageszeitungen und Fußballblätter vom Boden und die Staubflusen aus den Ecken.
„Dschordschi wird`s schon richten" war eine stehende Floskel im Institut geworden, und nicht einmal der leicht verträumte Physiker Dr. Roman Mehringer wagte es, geistesabwesend einen Schokoriegel zu knabbern, wenn ihn seine Unterrichtsverpflichtungen einmal in die Bibliotheksräume führten – klebte doch frisch laminiert und in drei Farben sowie vier Schrifttypen inklusive zweier verschiedener Unterstreichungsmodi das harsche Verbot an den Bibliothekstüren, dass ab sofort Essen, Trinken sowie das Herumliegenlassen von Gegenständen jeglicher Art verboten sei! Das mochte ja berechtigt sein, aber Johanna hielt es für reichlich übertrieben, dass diese Zettel nicht nur an beiden Außentüren der Bibliotheksräume innen wie außen hingen, sondern auch noch noch an dem Durchgang, der die Bibliothek in zwei Zimmer aufteilte.
Ganz allgemein schrieb man Dschordschis Pedanterie seinem vornehmen Elternhaus zu, auch wenn Johanna eher geneigt war, es für einen ausgewachsenen Tick zu halten. Er kam aus einer reichen Industriellenfamilie, die im 19. Jahrhundert im Ruhrgebiet ein Vermögen aus Kohle und Stahl erwirtschaftet hatte und dieses durch geschicktes Taktieren auch über die Krisenzeiten der Weltkriege und bis in die Gegenwart hinein erhalten und ausbauen konnte.
Gut – der Dschordschi war nicht da und somit auch kein vorwurfsvoller Blick zu befürchten!
Doch eigentlich war Georgis ständige Pedanterie zur Zeit ihr kleinstes Problem.
Johanna Schmid ordnete die restlichen Folien zur Chronologie des Neolithikums, welches heute das Thema gewesen war, in ihre Mappe. Sie hoffte, dass sie interessant genug vorgetragen hatte, um das Interesse der Studenten für dieses spezielle Thema zu gewinnen. Jede der drei grossen Zeitepochen wurde im Proseminar besprochen, damit die Studienanfänger möglichst früh ihre Vorlieben erkennen und sich dementsprechend im Studium spezialisieren konnten. Erfahrungsgemäß gab es je nach der speziellen Fachrichtung der Vortragenden in den Proseminaren im Semester darauf dann einen spürbaren Run entweder auf die Seminare der Altsteinzeit, die man spätestens nach diesem Proseminar als Paläolithikum zu bezeichnen hatte, oder der Jungsteinzeit, Neolithikum genannt, oder der Metallzeiten, welche mit dem Chalkolithikum begannen, der Kupfersteinzeit, sich über die Bronzezeit in die so genannte Eisenzeit weiter bewegten und die eigentlich erst, nach einem berühmten Zitat von Professor Dr. Joachim Drahm in der jüngsten Vergangenheit, mit dem Beginn des Informationszeitalters endeten¹.
Als Dr. Georgi van der Matten, der zu der Zeit eine Forschungsstelle im Neandertalmuseum bei Erkrath ausfüllte, im letzten Wintersemester das Proseminar mit dem emotionalen Schwerpunkt auf der Entwicklung der Menschen von vor 6 Millionen Jahren bis eben zum Neandertaler abhielt, waren die Anmeldungen für die Seminare mit anthropologischem Schwerpunkt rapide angestiegen.
Professor Dr. Drahm seinerseits schaffte es regelmäßig, seine eigene Freude und Leidenschaft für die Metallzeiten in außergewöhnlich hohe Einschreibequoten für das Hauptseminar zu den bronzezeitlichen Gussverfahren zu verwandeln.
Johanna wiederum warb schamlos für den Charme des nordeuropäischen Neolithikums mit seinen wunderbaren großen Steinanlagen und Megalithgräbern.
Aber heute war ihre Aufmerksamkeit doch sehr geteilt gewesen. Sie hatte den unangenehmen Eindruck, dass sie es nicht geschafft hatte, den Funken der Begeisterung auf die Studierenden überspringen zu lassen, jener Begeisterung, ja geradezu Liebe, die sie den Großsteinanlagen und den Halden der Austernesser in Irland oder an anderen Küsten der Nordmeere entgegenbrachte, ihre Bewunderung der mystischen Landschaften oder geheimnisvollen Busenbergen. Die Liebe zu einer Frau hatte ihre Konzentration auf ihre Arbeit gestört, ihre Gedanken kreisen lassen um reale, zarte Brüste und feinnervige Zeichnerinnenhände. Eine Liebe, die vielleicht genau deshalb um so brennender schien, als ein Ende abzusehen war, ein Strich unter die Rechnung der Liebe gezogen wurde, eine Absage erfolgte – angeblich wegen des zu großen Altersunterschiedes.
Johanna musste sich jedes Mal die Tränen verbeißen, wenn sie sich an das verfluchte Telefonat vom Wochenende erinnerte, in dem Anna Zwingli ihr mitgeteilt hatte, dass es vielleicht besser wäre, diese Beziehung zu beenden ... zu groß sei der Altersabstand zwischen ihnen, zu lange die Zug- oder Autobahnfahrten zwischen den süddeutschen Seeuferrandsiedlungen, wo sie im Augenblick arbeitete, und der rheinischen Universitätsstadt, welche Johanna in Atem hielt, zu unterschiedlich die Temperamente ... zu groß ..., zu weit ..., zu different ...
Johanna hatte die Zeichnerin Anna Zwingli während jener Tagung zu den Seeuferrandsiedlungen kennengelernt, in deren Verlauf der freundliche Archäologe und mögliche zukünftige Chef Johannas, Professor Korlus, ermordet worden war, gerade, als sie hatte hoffen können, das Feld ihrer akademischen Tätigkeiten zu erweitern. Noch immer schien es Johanna wie gestern gewesen zu sein, und noch immer gleichermaßen unfassbar, dass eine ihrer Kolleginnen so weit gehen konnte, einen Mord zu begehen. Anna war am Boden zerstört gewesen.
Natürlich, Anna war Korlus` Verlobte gewesen und Johanna die rettende Trösterin der Trauernden . Es war fast unausweichlich gewesen, dass sie sich unter diesen Umständen näher kamen. Sehr nahe, um genau zu sein. Aber es war ja eben nicht so, dass Anna Zwingli nicht vorher auch schon Frauenbeziehungen gehabt hätte...
Wie auch immer. Johanna biss sich auf die Lippen und griff halb blind nach der Mappe mit den Folien, um sie in ihre Tasche zu stopfen – da machte es „Platsch!" und die Milch ergoss sich in einem weißen Strom über den Grünen Tisch, gefährlich nahe allen Unterlagen, begierig, den Stick zu ertränken, den Johanna gerade aus ihrem Laptop gezogen hatte.
„Mist, verflixt!" Schuldbewusst blickte sie zur Türe, aber da war niemand, der ihr Missgeschick hätte bemerken können. Rasch grub sie ein paar Tempotaschentücher aus ihrer Tasche, um den weißen Strom wenigstens notdürftig zu stoppen. Dann rannte sie los, nahm zwei Stufen im Treppenhaus auf einmal, um so schnell wie möglich die einzigen Toiletten des Hauses im 2. Stock, schräg gegenüber der Kaffeeecke und den Räumen der Pollenanalyse, zu erreichen.
Dort griff sie sich einen dicken Stapel Papierhandtücher aus dem Spender, befeuchtete noch rasch eines der Stoffhandtücher, die auch neben dem Waschbecken hingen, legte es obenauf und flitzte wieder nach unten, ihr blödes Missgeschick aufzuwischen.
Wieso auch konnte sie Anna nicht aus ihrem Gedächtnis vertreiben? Die schöne, sanfte, zarte Anna, klug wie neun schwarze Schwäne zusammen und solch eine lichte Ästhetik ausstrahlend, wo immer sie auftrat, wo immer sie Räume beeinflusste, Ambiente gestalten konnte, Zimmer einrichten ...
Sie hörte Schritte im Treppenhaus – möglicherweise Georgi, der aus seinem Refugium, der anthropologischen Sammlung im Dachgeschoss, herunter kam, um zu kontrollieren, ob auch alle, inklusive der Dozentin, den Bibliotheksraum so steril verließen, wie sie ihn betreten hatten.
Die Tischfläche sah wieder sauber aus, zumindest oberflächlich betrachtet. Johanna schnappte sich ihre Sachen, presste die feuchten Papierhandtücher in ihrer rechten Hand zusammen, schwang sich das nasse Handtuch über die Schulter, als müsse das so sein, und trat genau in dem Moment vor die Türe der Bibliothek, als Dr. van der Matten diese von außen öffnen wollte.
16:05
„Hallo Dschordschi, kleiner Kontrollgang, ob die Erstsemester auch keine Bücher geklaut haben?’"
„Nee, nee – ich brauch` den Ausgrabungsbericht von Bo zu Dmanisi." Bo war der Spitzname