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Die Welt ist besser ohne sie
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eBook665 Seiten9 Stunden

Die Welt ist besser ohne sie

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Über dieses E-Book

Ein Mord erschüttert die Universität Hamburg. Im Rechtshaus wird ein Professor tot aufgefunden, gefesselt an seinen Schreibtischstuhl und brutal erstochen. Die Ermittlungen der Mordkommission in der Fakultät für Rechtswissenschaft gestalten sich schwierig, denn wirklich gemocht hat den alleinstehenden älteren Mann offenbar niemand. Seine Kollegen scheinen ihn kaum gekannt zu haben, bei den Studenten war er wegen seiner Strenge unbeliebt. Selbst seine Mitarbeiter scheinen ihm keine Träne nachzuweinen. Ein wirkliches Motiv findet sich aber zunächst nicht - weder im dienstlichen noch im privaten Bereich. Erst nach und nach wird klar, dass Prof. Dr. Harald Griefahn alles andere als ein unbeschriebenes Blatt war und seine Ermordung mit einem ungeklärten Tötungsdelikt zusammenhängen könnte, das sich 1981 in Passau ereignet hat.
Kriminaloberrat Klaus Hartmann, der vor 25 Jahren selbst Jura in Hamburg studiert hat, wird bei seinen Ermittlungen mit der Universität von heute konfrontiert - Exzellenzstreben und Leistungsdruck prägen den Alltag von Professoren und Studenten. Und manch einer, der diesem Druck nicht gewachsen ist, macht Fehler…
Das Buch zeigt aber auch das Leben im kleinen Dorf Bendestorf in der Nordheide. Hier wohnt Beate Lenau, die als Dekanatssekretärin an der Fakultät arbeitet und jetzt im Bendestorfer Freibad mit den aktuellen Berichten aus der Universität aufwarten kann. Auch sie selbst gerät allerdings ins Visier der Ermittler - hatte sie doch vielleicht das beste Motiv, Harald Griefahn zu töten.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum25. Mai 2016
ISBN9783734529764
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    Buchvorschau

    Die Welt ist besser ohne sie - Dagmar van Dyck

    Prolog

    Passau

    Ostersonntag 1981

    Kapitel 1

    Sie hatte den Geruch in der Bibliothek nie gemocht. Eine seltsame Mischung von altem Papier, Klebstoff und den meist wenig guten Ausdünstungen der vielen Menschen, die hier ihre Zeit verbrachten. Der Architekt hatte sich mit dem Neubau vor einigen Jahren sehr viel Mühe gegeben, aber eine ausreichende Belüftung der überwiegend im Kellergeschoss gelegenen Räume war ihm scheinbar nicht so wichtig gewesen. Jedes Mal, wenn sie am Empfang ihre Bücher auslieh, fragte sie sich, wie das Personal, das vornehmlich damit beschäftigt war, die Signaturen auf die Rücken der neu erschienen Bücher zu kleben und die schier endlosen Nachlieferungen in die juristischen Loseblattwerke einzusortieren, seinen Arbeitstag hier zubringen konnte. Vielleicht nahm man den Geruch gar nicht mehr wahr, wenn man ihm ständig ausgesetzt war, dachte sie. Tagsüber, wenn die Bibliothek voller Studenten war, fiel er auch nicht so auf wie jetzt, wo die Räume verlassen waren und im Halbdunkel vor ihr lagen.

    Es war Ostersonntag, und außer ihr war bestimmt niemand in der Universität. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin hatte sie die Möglichkeit, die Bibliothek auch außerhalb der Öffnungszeiten zu nutzen. Ein Schlüssel für die Räume lag an jedem Lehrstuhl bereit. Offenkundig gab es keine Probleme mit dieser Lösung, auch sie selbst wäre trotz oder vielleicht gerade wegen des freien Zugangs zur Bibliothek nie auf die Idee gekommen, Bücher einfach mitzunehmen, ohne einen entsprechenden Hinweiszettel beim Empfang zu hinterlassen, wenn sie etwas für längere Zeit ausleihen wollte. Seit die Ausleihe elektronisch funktionierte, konnte man keine richtigen Ausleihzettel mehr ausfüllen, aber diese „interne Ausleihe" funktionierte problemlos. Spätestens morgen würde sie die von ihr benötigten Bücher wieder zurückstellen. Und zum Stehlen war sie sowieso viel zu feige. Noch immer erinnerte sie sich mit Schrecken an den Tag in ihrer Kindheit, als sie im Alter von sieben Jahren in einem Spielwarengeschäft ein dringend benötigtes hölzernes Kofferradio für ihre Puppenstube im Wert von damals 40 Pfennig gestohlen hatte. Nicht einen Tag hatte sie echte Freude an dem Teil gehabt. Nachdem die Panik, die sie im Laden durchlitten hatte, abgeflaut war, lebte sie in ständiger Angst, dass ihre Eltern das Radio entdecken könnten. Also spielte sie nur nachts heimlich damit. Schließlich hatte sie es – gut verpackt in alte Tempotaschentücher – in der Mülltonne entsorgt. Erst danach hatte sie wieder richtig schlafen können. Als Kriminelle eignete sie sich ganz offensichtlich nicht.

    Als die schwere Glastür der Bibliothek hinter ihr ins Schloss fiel, rutschte ihr das Schlüsselbund aus der Hand. Hastig bückte sie sich und verschloss die Tür zweimal hinter sich. Erleichtert lehnte sie sich einen Moment gegen die Tür. Nun war sie allein mit Tausenden von Büchern. In der Bibliothek war es völlig still. Nur das leise Summen der Notbeleuchtung, die den Empfang in ein schwaches Licht hüllte, war zu hören. Sie kam sich immer vor wie von der Außenwelt abgeschnitten, wenn sie am Abend oder am Wochenende hier war. Keine Geräusche drangen von draußen herein.

    Vorsichtig ging sie die wenigen Stufen zum Empfangsbereich hinauf. Hinter der Theke befand sich die zentrale Schaltanlage, mit deren Hilfe sich die einzelnen Räume der Bibliothek beleuchten ließen, aber sie hatte ihre Arbeit an den Wochenenden immer im Halbdunkel der Notbeleuchtung erledigt. Zu kompliziert und undurchschaubar erschienen ihr die vielen Schalter und Knöpfe. Und wenn sie beim Verlassen des Gebäudes vergaß, das Licht überall wieder zu löschen? Es ging schließlich auch so, und für die Regalwände, die völlig im Dunkel lagen, weil sie auch von der Notbeleuchtung nicht erfasst wurden, hatte sie eine kleine Taschenlampe dabei. So würde sie die Signaturen der benötigten Bücher erkennen können.

    Hinter dem Empfang führte eine weitere Glastür in die eigentliche Bibliothek, die tagsüber im oberen Teil lichtdurchflutet war, weil der Architekt eine Art Glaspyramide als Dach gewählt hatte. Das hatte ihr inmitten dieser alten Klostermauern, in denen die Uni untergebracht war, schon immer gut gefallen. Jetzt allerdings lag alles im Halbdunkel da, nur die Notbeleuchtung sorgte für etwas Licht. Auf der ersten Ebene befanden sich auf der rechten Seite die juristischen Zeitschriften und allgemeine Nachschlagewerke, links führte eine Treppe in das Untergeschoss mit den Lehrbüchern, Monografien, Entscheidungssammlungen und Loseblattwerken. Sie wandte sich nach links und ging vorsichtig, die Hand am Geländer, Stufe für Stufe, die nur schwach erleuchtete Treppe hinunter. Sie ertappte sich dabei, wie sie die im Kellergeschoss im Schatten liegenden Räume schon auf der Treppe mit den Augen absuchte und angestrengt horchte, gleichzeitig schimpfte sie sich selbst wegen ihrer Ängstlichkeit. Wer sollte schon hier sein außer ihr – am Ostersonntag, jetzt um 22 Uhr? Und wenn jemand da war, dann würde sie ihn kennen, weil er wahrscheinlich in derselben Situation war wie sie und bald seine Doktorarbeit würde abgeben müssen. Auch der zeitliche Druck, unter dem sie stand, hatte sie eine Einladung ihrer Eltern zu einem Osterwochenende in Wien absagen lassen. In fünf Monaten lief ihr Zeitvertrag an der Universität aus, und wenn sie dann nicht beruflich ins Abseits geraten wollte, musste sie sich bis dahin zumindest mit einem Doktortitel schmücken können. Und so hatte sie die Feiertage tapfer im Büro verbracht und versucht, die Sache voranzubringen. Wie immer fehlten ihr einige Bücher, um weiter arbeiten zu können.

    Als sie im Untergeschoss angekommen war, blieb sie einen Moment stehen und lauschte wieder in die Dunkelheit. Die zahllosen Tische, die tagsüber von Studenten besetzt und mit Büchern übersät waren, lagen im Halbdunkel vor ihr. Die Bibliotheksaufsicht hatte die liegen gebliebenen Bücher am Donnerstagabend noch in die Regale geräumt, so dass die dunkelgrün furnierten Tischplatten jetzt leer waren. Die an den Tischen angebrachten Leselampen waren alle dunkel.

    Die Regalwände in den Seitengängen warfen dunkle Schatten in die Lesehalle. Kein Laut war zu hören. Entschlossen wandte sie sich nach rechts in den Seitengang, wo die Entscheidungssammlungen zu finden waren. Hier wurde es richtig dunkel, so dass sie ihre Taschenlampe anmachte und sich an der Regalwand entlang tastete. Am Ende des Ganges wurde sie fündig – rund 50 Bände der Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen standen vor ihr, in ehemals vornehmen, dunklen Leinen gebunden und mit Goldschrift geprägt. Jetzt sahen sie, vor allem die älteren Exemplare, alt und abgegriffen aus. Wie immer herrschte im Regal das reinste Chaos. Warum Studenten nicht in der Lage waren, Bücher an die richtige Stelle zurückzustellen, würde sie nie verstehen. War sie während des Studiums auch so gedankenlos gewesen? Es konnte doch nicht mehr Mühe machen, Band 11 nach Band 10 einzuordnen und so sich selbst und allen anderen später die leidige Suche nach dem richtigen Buch zu ersparen. So oft schon hatte sie sich darüber geärgert, aber es würde sich wohl nie etwas ändern. Immerhin wurden die Entscheidungssammlungen selten woanders versteckt. Das geschah nur bei einzelnen Monografien oder den aktuellsten Lehrbüchern, die für die Bearbeitung einer Hausarbeit wichtig waren – die konnte man dann auch mal bei den Anglisten auf der anderen Seite der Lesehalle wiederfinden.

    Sie ging in die Hocke, um den von ihr benötigten Band 45 zu finden. Der Radius der Taschenlampe war nicht groß, so dass sie eine Weile brauchte, aber nach wenigen Minuten hatte sie das richtige Exemplar gefunden. Erleichtert richtete sie sich auf. Ihre Knie knackten deutlich hörbar. Wieder einmal musste sie an ihre Freundin denken, die sie ständig zum Hochschulsport schleppen wollte. Irgendwann würde sie wohl mitgehen müssen.

    Mit dem Buch in der Hand drehte sie sich um. Und erst jetzt sah sie den Mann, der im Schatten der Notbeleuchtung an einem Regal lehnte und sie offenbar schon eine Weile beobachtet hatte.

    Kapitel 2

    „Du bist Gabriele Lehnert, oder?"

    Dass sie mit ihrem Namen angesprochen wurde, beruhigte sie sofort, obwohl sie nicht hätte sagen können, warum. Sie kannte den Mann nicht, der vor ihr stand und deutlich größer und kräftiger war als sie selbst. Die Taschenlampe in ihrer rechten Hand fest umklammert, blieb sie mit dem Rücken zur Regalwand stehen.

    „Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe. Ich bin Tobias Reindl. Du kennst mich nicht. Ich hab den Job bei Niewald bekommen und fange erst nächste Woche an. Aber ich wollte mir die Bibliothek schon mal ansehen, ehe hier am Dienstag der große Ansturm wieder beginnt."

    „Woher weißt du meinen Namen?" Gabriele war immer noch misstrauisch. Sie holte tief Luft. Ihr Gegenüber hatte offenbar eines von diesen unglaublich süßlichen Männerparfums benutzt, die einem den Atem nehmen konnten. Und wieso kam dieser Mensch am Ostersonntag in die Bibliothek, nur, um sie sich anzuschauen? Und das, obwohl er seinen Dienst am Lehrstuhl noch nicht einmal angetreten hatte? Ob er überhaupt schon einen Büroschlüssel bekommen hatte? Ihr war irgendwie mulmig in der Situation, auch wenn sie sich erinnern konnte, dass bei Prof. Dr. Niewald eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter ausgeschrieben gewesen war.

    Der Mann vor ihr war ungewöhnlich groß und hatte ganz schwarze, aber glatte Haare, die ihm fast bis auf die Schultern reichten. Darum würde ihn manche Frau beneiden, dachte Gabriele.

    Er schaute sie fragend an und sagte dann: „Oh, das kannst du nicht wissen, aber ich schaue mir meine neuen Kollegen immer vorher an, wenn es möglich ist. Und ihr habt ja hier dieses hübsche Heftchen, in dem alle Professoren und die wissenschaftlichen Mitarbeiter abgebildet sind. Gute Idee, finde ich … Da habe ich bei Wellinger auch dein Foto gesehen. Du promovierst über ein polizeirechtliches Thema, oder?"

    Gabriele war irritiert. Woher hatte er diese Informationen? Das mit dem Heft stimmte. Das hatte sich der neue Dekan ausgedacht, damit sich gerade neue Kollegen schneller zu Recht finden sollten. Aber das Thema ihrer Dissertation? Offenbar hatte er schon mit anderen über sie gesprochen. Das gefiel ihr nicht. Ganz und gar nicht. Was war das für ein seltsamer Mensch, der sich so gründlich über seine zukünftigen Kollegen informierte und sich dabei gleich noch Namen und die Dissertationsthemen merkte? Sie selber hatte, als sie vor einigen Jahren nach Passau gekommen war, die anderen wissenschaftlichen Mitarbeiter nach und nach in der Cafeteria oder der Mensa kennen gelernt. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, sich da vorher schlau zu machen. Das ergab sich doch sowieso von allein. Und mit den meisten Mitarbeitern der anderen Lehrstühle hatte man ohnehin nichts zu tun. Und so war es auch mit ihrem Gegenüber: Niewald war Lehrstuhlinhaber für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht und gehörte damit zur Privatrechtsabteilung. Sie selber arbeitete am Lehrstuhl für Öffentliches Recht bei Prof. Dr. Wellinger.

    Ihr Gegenüber betrachtete sie mit einem seltsamen Blick, wohl deshalb, weil sie keine Reaktion zeigte. Sie beeilte sich zu antworten: „Ja, äh … das ist richtig. Ich musste, ich brauchte … also ich brauche dieses Buch, und darum …"

    „Ich habe dich doch erschreckt, oder? Tut mir echt leid. Ist ja auch ein komisches Gefühl, mit einem wildfremden Mann hier in der Bibliothek eingesperrt zu sein. Niemand würde dich hören, wenn ich ein entlaufener Sittenstrolch wäre …" Er grinste jetzt breit. Sie sah, dass seine Schneidezähne seltsam schief standen.

    „Aber das bist du ja nicht! Jedenfalls hoffe ich das … Und jetzt grinste auch sie. „Viel Spaß noch beim Kennenlernen der Bibliothek. Man sieht sich.

    Energisch nahm Gabriele Lehnert den Band, den sie herausgesucht und oben quer auf die anderen Bücher gelegt hatte, an sich und drängte sich an ihrem Gegenüber vorbei. Von dem süßlichen Parfüm wurde ihr fast übel. Der Mann macht keine Anstalten, sie aufzuhalten und rief ihr nur hinterher: „Hey, das war ein Witz! Welcher Sittenstrolch wäre wohl so blöd, sich abends in einer Bibliothek einschließen zu lassen, wo es nur Bücher, aber keine Frauen gibt. Dass hier so ein steiler Zahn wie du auftaucht, kann ja niemand wissen …"

    Was redete der Kerl nur für einen Schwachsinn? Das war ja eine widerliche Anmache. Lehnert ging zielstrebig durch die Halle und auf die Treppe zu. Sie hätte zwar eigentlich noch weitere Bücher gebraucht, aber jetzt wollte sie nur noch raus. Konnte es womöglich doch sein, dass es sich gar nicht um einen neuen Kollegen handelte, sondern um irgendeinen Irren, der sich vielleicht schon am Donnerstagabend vor Karfreitag in der Bibliothek hatte einschließen lassen? Aber was sollte das bringen – und woher kannte er dann ihren Namen? Hatte er ihr nachspioniert? Sie überlegte, ob sie den Mann schon einmal in einer ihrer Veranstaltungen gesehen hatte, aber er wäre ihr sicher im Gedächtnis geblieben mit seiner auffälligen Größe, seinem dunklen Teint und den wirklich lackschwarzen Haaren. Und ihre Nase vergaß nie etwas, sie meinte das schwere Parfum noch immer riechen zu können. Es war wohl wirklich nur ein neuer, wenn auch nicht sonderlich sympathischer Kollege.

    Als sie einen Blick über die Schulter warf, war er nicht mehr zu sehen. Die Dunkelheit zwischen den deckenhohen Bücherregalen hatte ihn verschluckt. Schneller als gewollt lief sie die Treppe zum Empfang hinauf und durchquerte die erste Glastür. Noch im Laufen griff sie in der Hosentasche nach ihrem Schlüsselbund, an dem sie auch den Bibliotheksschlüssel befestigt hatte, weil sie einzelne Schlüssel schon mehrfach verloren oder jedenfalls verlegt hatte. Sie zog ihn heraus und suchte an dem Bund nach dem richtigen Schlüssel. Als sie sich noch einmal umdrehte, stand der Mann plötzlich wieder hinter ihr und lachte. Wie war er so schnell heraufgekommen, und wieso hatte sie ihn nicht gehört? Sie war kurz davor zu schreien, obwohl sie hier keiner hören würde, aber in dem Augenblick steckte dieser Reindl seinen Schlüssel in das Schloss. Er öffnete die schwere Glastür und hielt ihr diese mit einer übertrieben galanten Geste auf.

    Mit einem gequälten Lächeln drängelte sie sich an ihm vorbei und erwiderte sein freundliches „Einen schönen Abend noch! mit einem knappen „Ebenso.

    Auf dem Gang vor der Bibliothek blieb sie kurz stehen und wartete, bis er die Tür von innen wieder verschlossen hatte und Richtung Lesesaal davon geschlendert war. Sollte er in der Bibliothek doch machen, was er wollte. Das ging sie nichts an. Sie wollte nur noch nach Hause.

    Kapitel 3

    Mit eiligen Schritten lief Gabriele Lehnert die drei Stockwerke hoch zu ihrem Büro. Eigentlich hatte sie jetzt noch arbeiten wollen, aber irgendwie war ihr nicht wohl in ihrer Haut. Zwar hatte sie in den letzten Jahren ihre Ängstlichkeit weitgehend abgelegt. Am Anfang war sie fast gestorben in dem Bewusstsein, die einzige zu sein, die abends oder am Wochenende in diesem riesigen Gebäudekomplex saß, das mal ein Kloster gewesen war. Wenn dann am Abend die Schritte des Hausmeisters über den Gang hallten und sie fast starr vor Angst darauf wartete, dass er heftig an die Tür klopfte um zu kontrollieren, ob hier tatsächlich gearbeitet wurde oder nur jemand vergessen hatte, das Licht auszumachen, hatte sie sich oft gefragt, warum sie eigentlich nach Büroschluss noch hier sitzen musste. Zu Hause hatte sie es doch warm und gemütlich, während die Heizung im Büro am Wochenende zumindest gedrosselt wurde. Aber es fehlten die vielen Bücher, die ihr am Lehrstuhl und bei Bedarf eben auch in der Bibliothek zur Verfügung standen. Wie oft war sie zu Beginn ihrer Tätigkeit die Strecke von ihrer Wohnung in der Altstadt, die sie sich mit einem Studenten und einer Kollegin teilte, bis zur Uni geradelt, um sich ein oder zwei Bücher zu holen. Nur um dann zu Hause festzustellen, dass sie ein weiteres dringend benötigte. Seit diesen Erfahrungen hatte sie sich angewöhnt, fast nur noch in der Uni zu arbeiten. Während des Tages war sie mit Hilfsarbeiten für ihren Chef und mit der Betreuung der Studenten beschäftigt, aber am späten Nachmittag und Abend und vor allem an den Wochenenden wurde es dann ruhiger, so dass sie an ihrer Doktorarbeit arbeiten konnte.

    Auch wenn die Zeit knapp wurde, hatte sie doch keine Angst, dass sie mit der Promotion scheitern könnte. Vor allem nicht seit dem klärenden Gespräch mit ihrem Chef Anfang der Woche, in dessen Verlauf sie ihm endlich einmal die Meinung gesagt hatte. Er war ziemlich sprachlos gewesen, weil sie erstmals so deutlich kritisiert hatte, dass er sie weitaus mehr als die anderen Mitarbeiter belastete. Offenbar war ihm das gar nicht bewusst gewesen, und sie hatten sich darauf geeinigt, dass Lehnert die letzten Monate ihrer Tätigkeit vor allem mit der Fertigstellung ihrer Doktorarbeit verbringen sollte.

    Jetzt aber wollte sie nicht allein hier bleiben. Die Begegnung mit dem neuen Kollegen hatte sie beunruhigt. Irgendwie ein seltsamer Kerl, der da unten herumgeisterte und Spaß daran zu haben schien, Leute zu verschrecken. Wenn er ihren Namen wusste, dann wusste er vielleicht auch, wo ihr Büro war? Abgesehen davon, dass man sie leicht finden konnte, weil das einzig erleuchtete Büro im gesamten Gebäude ihres war. Es gab viele Verrückte an der Universität – das war ihr schon zu Beginn ihres Studiums aufgefallen, und der von eben war offenbar einer von ihnen. Jedenfalls wollte sie ihm heute nicht mehr über den Weg laufen.

    Lehnert packte ihre Sachen zusammen. Mittlerweile war es fast 22:30 Uhr und draußen war es stockdunkel. Das Licht im Treppenhaus und auf dem Gang vor ihrem Büro hatte der Nachtwächter bereits wieder gelöscht. Er wartete scheinbar nur darauf, dass Leute wie sie das ganze Treppenhaus erleuchteten, damit er etwas zu tun hatte. Dass sie am Wochenende in ihrem Zimmer saß und arbeitete, konnte er nicht verhindern, aber seiner Meinung nach musste sie doch nicht im ganzen Gebäude Licht machen. Es dauerte in der Regel nur wenige Minuten, bis sie wieder von Dunkelheit umgeben war. Der Idiot, sie musste das Licht doch anmachen, sonst würde sie sich im Treppenhaus den Hals brechen.

    Ehe sie ihre Bürotür öffnete, lauschte sie nach draußen, aber es war nichts zu hören. Wo der Nachtwächter wohl gerade war? Heute wäre sie froh gewesen, ihm zu begegnen. Vielleicht hätte er sie sogar bis nach unten begleitet, wenn sie ihn freundlich darum gebeten hätte.

    Vorsichtig öffnete sie die Tür, schaute kurz nach rechts und links und verließ dann das Büro. Hastig schloss sie die Tür ab und wandte sich zum Treppenhaus, wo sie blind den Lichtschalter suchte und ihn erst nicht finden konnte. Panik kam in ihr hoch. Für einen Moment meinte sie, einen süßlichen Parfümgeruch wahrzunehmen, aber als sie endlich den Schalter gefunden hatte, war das Treppenhaus leer. Fast rannte sie die mit hellgrauen, stumpfen Granitplatten belegte Treppe hinunter, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, ihre Tasche fest unter den Arm geklemmt. Auf jedem Treppenabsatz blieb sie kurz stehen, um zu horchen, aber alle Geräusche kamen von ihr selbst – ihr Herz klopfte bis zum Hals und sie atmete heftig.

    Im Erdgeschoss angekommen, nahm sie ihren Schlüsselbund aus der Jackentasche und öffnete die schwere, mit Glaseinsätzen versehene Metalltür, die nach draußen in den Innenhof des Klosters führte. Sie wand sich durch die nur halb geöffnete Tür, drückte sie von außen mit ihrem ganzen Gewicht zu und drehte den Schlüssel im Schloss herum.

    An der frischen, noch sehr kühlen Luft fühlte sie sich sofort besser. Schon ärgerte sie sich über ihre eigene Hysterie. Wieso hatte sie sich von einem neuen Kollegen so erschrecken lassen, dass sie jetzt wie gehetzt aus dem Gebäude flüchten musste? Er hatte sie lediglich überrascht – und auch das war sicher nicht seine Absicht gewesen. Er war ihr zwar auf den ersten Blick unsympathisch gewesen, aber das war doch kein Grund, sich so zu verhalten. Sie musste sich eingestehen, dass die Angst, die sie von Beginn an in diesem leeren Gebäude verspürt hatte, nicht wirklich geringer geworden war. Jeder kleine Vorfall führte dazu, dass sie ständig das Schlimmste fürchtete, ohne eigentlich sagen zu können, was das war. Als sie ihrer Vermieterin erzählt hatte, dass sie häufig abends und am Wochenende im Büro war, hatte diese mit Entsetzen reagiert: Man konnte doch auch krank werden und dann wäre niemand da, der einem helfen konnte. Diese Sorge hatte sie nicht, sie war jung und gesund. Aber vielleicht würde sie in dreißig Jahren auch anders denken, wenn ein schwach gewordenes Herz ihr häufig die Luft zum Atmen nahm und rätselhafte Schwindelanfälle, die kein Arzt erklären konnte, ihr das Leben schwer machten. Hier und jetzt war es dagegen die Angst vor Menschen, denen sie im geschlossenen Gebäude nicht entkommen konnte.

    Aber welchen Sinn hatte es eigentlich, ständig über die eigene Psyche nachzudenken? Dann war sie eben ein ängstlicher Mensch. Im Übrigen würde diese Phase ihres Lebens bald zu Ende sein. In einigen Monaten würde sie ihrem Chef die fertige Arbeit auf den Tisch legen – und er würde in seinem Gutachten zum Schluss kommen, dass es sich um eine ganz herausragende Dissertation handelte. Da war sie ganz sicher, was viele ihrer Kollegen erstaunte. Und wenn sie erst einmal einen Job hatte, dann würde es mit dem einsamen Arbeiten in verlassenen Büros endlich ein Ende haben.

    Ihr altes Holland-Fahrrad, das sie vor einigen Jahren billig gebraucht gekauft hatte, stand angeschlossen am Fahrradständer. Sie hatte nichts anderes erwartet. Wer würde ein so altes Rad schon stehlen wollen. Genau deshalb hatte sie es ausgesucht, verbeult und zerschrammt, wie es war.

    Sie stellte ihre schwere Tasche mit ihren Unterlagen hinten in den Fahrradkorb, löste die dicke Kette und rollte das Rad nach hinten aus dem Ständer. Die paar Meter über das alte Kopfsteinpflaster bis zur Innstraße würde sie es schieben.

    Sie warf einen letzten Blick zurück auf das dunkel über ihr aufragende Gebäude. Nirgendwo in den fünf Stockwerken brannte Licht, selbst das Treppenhaus lag wieder im völligen Dunkel – der Nachtwächter hatte ganze Arbeit geleistet.

    In der Ferne hörte sie Stimmen und das Lachen junger Leute, die wohl gerade aus einer der umliegenden Kneipen kamen. Vielleicht Studenten, die über Ostern nicht zu ihren Eltern gefahren waren. So wie sie. Der Kontakt zu ihnen war in den letzten Jahren etwas abgekühlt, ohne dass sie hätte sagen können, woran das lag. Wahrscheinlich wünschten sie sich allmählich Enkel, aber damit würde sie nicht dienen können. Irgendwie komisch, dachte Lehnert, wie viel vertrauter ihr ihre alte Vermieterin war, mit der sie immer wieder auch über private Dinge sprach. Ihre Mutter dagegen wusste eigentlich nichts von ihr. Bei den wöchentlichen Telefonaten fragte sie auch nie nach, wie es ihr wirklich ging. Gerade ihre Arbeit an der Uni schien sie so gar nicht zu interessieren. Sie konnte oder wollte am Leben ihrer Tochter offenbar nur geringen Anteil nehmen, vielleicht auch deshalb, weil sie sich bis heute nicht wirklich vorstellen konnte, was Gabriele als wissenschaftliche Assistentin eigentlich zu tun hatte. Aber Gabriele Lehnert hatte sich daran gewöhnt. Sie hatte es aufgegeben, nach den Ursachen zu forschen. In vieler Hinsicht war ihr Leben durch die größere Distanz zwischen ihnen einfacher geworden. Und sie war froh, nicht nach Wien gefahren zu sein.

    Die Innstraße lag wenige Meter entfernt ruhig vor ihr. Im Hintergrund sah man im Lichtschein der auf der anderen Flussseite liegenden alten Häuser den Inn fließen, heute eher träge und gemächlich. Lehnert hatte schon mehrfach ein Hochwasser in Passau erlebt und wusste, dass dieser jetzt so harmlos aussehende Fluss zu einem wilden Strudel werden konnte.

    Sie schob das Fahrrad ein Stück weiter und warf dann einen schnellen Blick auf das vertrocknete Trauergesteck und die brennende Grabkerze an der Hauswand rechts von ihr. Hier war vor einigen Monaten eine Studentin beim Überqueren der Straße von einem Auto erfasst und tödlich verletzt worden. Die Straße war hier bis zu diesem Unfall nur spärlich beleuchtet gewesen, und die Autofahrerin hatte an dem dunklen, nebligen Novemberabend keine Chance zu reagieren, als das junge Mädchen nach einer Seminarveranstaltung schnell nach Hause wollte und völlig überraschend auf die Straße gelaufen war. Gabriele Lehnert hatte sie gekannt, wenn auch nur flüchtig. Sie hatte am Lehrstuhl von Wellinger einen Schein gemacht und war wirklich ungewöhnlich gut gewesen. Aber was nutzte ihr das jetzt? Lehnert schauderte bei dem Gedanken, wie schnell ein Leben von einer Minute auf die andere beendet sein konnte. Wenn diese Studentin gewusst hätte, dass sie am Abend nicht in ihr Zimmer im Studentenheim zurückkehren würde, hätte sie den Tag anders verbracht? Vielleicht war es gut, nicht zu wissen, was einen erwartete im Leben. Jedenfalls war es beeindruckend, mit welcher Ausdauer ihre Freunde den Unfallort immer wieder mit Blumen und Kerzen schmückten. Niemand wagte, das vertrocknete Gesteck zu entfernen, vielleicht weil es wie eine Art Grabschändung erschienen wäre. Der Platz wirkte wie eine Mahnung an alle Verkehrsteilnehmer, schon deshalb war es gut, dass das kleine Grablicht die ganze Nacht hindurch brannte. Auch in anderer Hinsicht hatte der Unfall auf gewisse Weise sein Gutes gehabt. Die Stadt hatte an dieser viel genutzten und schlecht einsehbaren Stelle einen Zebrastreifen errichtet und für bessere Beleuchtung gesorgt.

    Noch ganz in Gedanken versunken spürte Gabriele Lehnert plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter. Ihr Herz schien einen Moment lang auszusetzen. Dann drehte sie sich abrupt um. Ihr Erschrecken verwandelte sich in Erleichterung.

    „Ach du liebe Güte – du bist es. Hast du mich jetzt erschreckt. Warum schleichst du dich denn so an? Wir haben doch über alles geredet, es ist deine Entscheidung. Das weißt du." Ihre Stimme klang jetzt sehr hart und unfreundlich. Sie drehte sich halb weg.

    Von welcher Entscheidung sie sprach, sollte niemand mehr erfahren. Ihr Gegenüber holte mit einer schnellen Handbewegung aus und schlug mit voller Wucht zu. Als der Pflasterstein ihre Schädeldecke oberhalb des linken Ohres zertrümmerte, war auf Gabriele Lehnerts Gesicht nur Verwunderung zu sehen. Der Schlag war so heftig, dass der Schädelknochen zerbarst. Sie taumelte nach hinten, ihre Hand löste sich vom Lenkrad des Fahrrads. Dass ihr Körper ungebremst auf dem kalten Boden aufschlug, sollte sie schon nicht mehr mitbekommen.

    Teil 1

    Sylt

    Januar 2016

    Kapitel 1

    Sie erreichte den Autozug in Niebüll mit einer Verspätung von wenigen Minuten. Erstmals war sie der Deutschen Bundesbahn dankbar für ihre Unpünktlichkeit, denn die Ampel an der Zufahrt leuchtete im milchigen Winternebel noch hellgrün, und sie wurde gleich auf den oberen Zugteil dirigiert. Viel los war wirklich nicht um diese Jahreszeit, aber einige Menschen ließen sich offenbar auch im Januar nicht von einem Besuch „ihrer Insel abhalten. Sie selbst war nur ein einziges Mal auf Sylt gewesen – und das war gut 20 Jahre her. Den ganzen Rummel, den man ständig um diese Insel machte, hatte sie nie verstanden, es war halt eine Insel wie viele andere auch, und es gab sicher schönere oder jedenfalls genauso schöne in der Nordsee. Es war nur irgendwie alles teurer und voller, und wenn sie ihrer Freundin Traudl aus München, die jedes Jahr mehrmals in Kampen Urlaub machte, Glauben schenken durfte, war das in den letzten Jahren noch viel schlimmer geworden. Luxushotels schossen wie Pilze aus dem Boden, und mittlerweile reisten viele mit dem Flugzeug an statt mit der Bahn oder mit dem Auto. Schon der Gedanke daran, dass in unmittelbarer Nähe hässliche, bunt bemalte Touristenflieger starten und landen und womöglich bei einem Spaziergang dicht über ihren Kopf hinweg fliegen würden, ließ ihre ohnehin schon schlechte Laune nicht besser werden. Die Illustrierte Bunte hatte sicherlich Recht mit ihrem Werbespruch „Ohne Bunte wäre es nur eine Insel – aber vielleicht wäre Sylt ohne die Bunte eine bessere Insel, ohne all die dämlichen Promis und die Menschen, die sich in deren Nähe offenbar wichtig und bedeutsam vorkamen. Sie würde das nie verstehen, diese Promisucht. Mittlerweile konnte man keine Fernsehsendung finden, in der nicht wenigstens ein – meist auch noch vermeintlich – Prominenter saß und seinen Senf zu was auch immer dazu gab. Dabei spielte es überhaupt keine Rolle, ob er oder sie sich mit dem fraglichen Thema in irgendeiner Weise auskannte. Hatte es dieses Phänomen schon immer gegeben? Sie konnte sich erinnern, dass ihre Mutter früher vor Aufregung ganz rote Bäckchen bekommen hatte, wenn von Mitgliedern irgendeines Königshauses die Rede war. Aber das, was heute passierte, war damit sicher nicht vergleichbar.

    Ein heftiger Ruck riss sie aus ihren Gedanken. Mit mittlerweile mehr als 15 Minuten Verspätung setzte sich der Autozug endlich in Bewegung. Der Fahrtwind ließ sie schnell spüren, dass es Januar und wirklich noch Winter war. Sie ließ kurz den Motor an, schloss das Fenster auf der Fahrerseite und ließ Landschaft und Häuser dann an sich vorbeiziehen. Ein komisches Gefühl, im eigenen Auto zu sitzen und dabei entspannt nach rechts und links blicken zu können. Und als der Zug den Hindenburgdamm überquerte, war sie dann doch beeindruckt von der geradezu überirdischen Schönheit von Meer und Watt. Der von der Wintersonne milchig blau eingefärbte Himmel spiegelte sich auf der Wasserseite im völlig bewegungslosen Meer. Auf der anderen Seite ließen die vom langen und harten Winter zurück gebliebenen Eisschollen das Watt wie eine skurrile Mondlandschaft wirken. Mit ihrem iPhone 6, das sie sich selbst zu Weihnachten geschenkt hatte, machte sie eine Reihe von Schnappschüssen. Die würden nicht so toll werden, weil sich diese großartige Natur überhaupt nicht einfangen ließ, aber das musste einfach sein, weil sie ihr Glücksgefühl jetzt mit niemandem teilen konnte. Wem sie die Bilder eigentlich zeigen wollte, wusste sie auch nicht so genau, aber sie hatte einfach das Bedürfnis, jedenfalls ein bisschen von der Schönheit der Landschaft festzuhalten. Spätestens im Hotel würde sie wahrscheinlich sehen, dass das nicht gelingen konnte und die Bilder wieder löschen.

    Als die Keitumer Kirche zu sehen war, konzentrierte sie sich wieder auf ihren Wagen. Steckte der Schlüssel noch, würde sie es durch die enge Abfahrt schaffen, an die sie sich noch von ihrem ersten Besuch auf Sylt erinnern konnte? Sie war keine gute Autofahrerin, das wusste sie, aber ein bisschen breiter hätte man das alles doch auch wirklich konstruieren können. Sie merkte, wie ihre gute Laune wieder schwand. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut, weil sie von nun an nicht mehr schalten und walten konnte, wie sie wollte. Das Hotel hatte angekündigt, dass sie bereits am Bahnhof abgeholt und in das „Grand Spa Resort A-Rosa Sylt geleitet werden würde. Du liebe Güte, wie peinlich ihr das alles war. Hoffentlich kamen die nicht mit so einer albernen Stretchlimousine, die dann vor ihrem seit dem Herbst nicht mehr gewaschenen Kleinwagen über die Insel gleiten würde. Wenn sie eines von ihrer Mutter gelernt hatte, dann das Lebensmotto „Bloß nicht auffallen. Als ob sie nicht in der Lage wäre, allein nach List zu finden. Einfach lächerlich.

    Als der Autozug endlich in Westerland zum Stehen kam und die ersten Fahrzeuge die Rampe herunterrollten, bereute sie erneut, dass sie den 3. Preis im Bunte-Weihnachts-Preisausschreiben überhaupt angenommen und die Reise angetreten hatte. Eine Woche im Arosa-Hotel auf Sylt, was für ein Blödsinn, wo sie doch noch nie gerne gereist war. Sie hatte es eigentlich auf den Hauptpreis abgesehen, einen VW Touran – den hätte sie gut brauchen können. Abgasskandal hin oder her. Ihr Auto war nun schon 8 Jahre alt, und es war zu befürchten, dass demnächst die ersten größeren Reparaturen kommen würden. Bei ihrem Einkommen war die Anschaffung eines neuen Wagens keine einfache Sache. Am liebsten hätte sie sich den Urlaub in bar auszahlen lassen. Das war aber nicht möglich gewesen, und jetzt kam es eigentlich auch nicht mehr darauf an. Der „Vorfall, wie sie das immer nannte, war jetzt viele Monate her, und in dieser Zeit war ihr klar geworden, dass auch ihr Leben an diesem Tag ein anderes geworden war. Sie schlief seither schlecht und hatte kaum Appetit. Mittlerweile hatte sie mehr als 10 Kilogramm abgenommen, was sie Bekannten und Nachbarn gegenüber mit einer länger andauernden Darminfektion erklärte. Wie viele Diäten hatte sie in ihrem Leben schon gemacht – und nun purzelten die Kilos ohne jedes Zutun. Bevor der Anruf der Redaktion der „Bunten kam, hatte sie immer wieder darüber nachgedacht, ihrem Leben ein Ende zu machen. Geräuschlos und ohne jemanden zu stören. Aber ihre Katze hatte sie davon abgehalten. Das scheue Tier brauchte sie, sie würde sich nirgendwo anders als bei ihr wohlfühlen können.

    Und dann hatte sie sich doch bei diesem ersten Telefonat mit der Redaktion der Bunte ganz spontan entschlossen, die Reise anzutreten. Hier würde sie Klarheit gewinnen und die notwendigen nächsten Schritte planen. Das war nicht schön, aber sie hatte im Leben gelernt, zu ihrer Verantwortung zu stehen und würde dies auch jetzt tun. Gegebenenfalls würde sie die Katze einfach mitnehmen. Bezeichnete man das bei einem Haustier auch als erweiterten Selbstmord? Wie auch immer, ehe es so weit kam, konnte sie noch ein paar Tage auf Sylt genießen. Vielleicht ließ sich das Ganze auch hier zu Ende bringen? Nein, die Katze wartete zu Hause.

    Auf der Zufahrtstrasse am Autozug stand wie angekündigt ein Mitarbeiter des Hotels – allerdings ohne die befürchtete Stretchlimousine. Sie sah stattdessen einen mit dem Logo des Hotels versehenen kleinen weißen Wagen. Gäbe es nicht diese geschmacklose Rose, hätte das ganz hübsch aussehen können. Sie war vom Hotel vorab gebeten worden, ihren Fahrzeugtyp und ihre Autonummer durchzugeben, so dass sie jetzt sofort erkannt und an den Seitenstreifen gewunken wurde. Der junge Mann in Hoteluniform war groß und schlaksig und hatte noch ein paar Aknepickel im Gesicht. Er begrüßte sie dermaßen freundlich und überschwänglich, dass man wirklich glauben konnte, er freue sich persönlich, sie endlich kennen zu lernen.

    „Nun fahren Sie schon voraus, junger Mann" – mit diesen Worten kürzte sie die Begrüßung etwas rüde ab. Mats Weslow, der seit der Eröffnung des Hotels in List dort arbeitete, war von dieser Antwort überrascht. Denn die Frau, die er in Empfang genommen hatte, war das, was man üblicherweise eine reizende ältere Dame nannte. So um die 60, etwas rundlich, mit einem aschblonden Pagenkopf. Aber sie war offenbar schlecht gelaunt. Er war professionell genug, sich nichts anmerken zu lassen. Wahrscheinlich war sie noch immer in den Wechseljahren oder sie war von ihrem Ehemann verlassen worden – allerdings wäre all das seiner Meinung nach kein Grund, sich nicht über eine geschenkte Woche in einem Luxushotel zu freuen. Das konnte ja heiter werden, aber Gott sei Dank sollte er die Dame nur im Hotel abliefern. Sollten sich dann doch seine Kolleginnen und Kollegen mit ihr herumschlagen. Erstaunlich, dass der äußere erste Eindruck doch so täuschen konnte.

    Er startete den hoteleigenen Fiat und fuhr in gemächlichem Tempo vor ihr her auf die Hauptstraße Richtung List. Auf der gesamten Strecke begegneten ihnen nur wenige Fahrzeuge. Im Januar war es nach der Abreise der Weihnachtsgäste wirklich herrlich ruhig. Die Sommerheide lag düster über den Dünen, der Strandhafer blitzte immer wieder in der milden Wintersonne auf. Der Blick auf die Wanderdünen am linken Straßenrand war wie immer atemberaubend, Mats konnte sich auch nach fast fünf Jahren auf Sylt nicht daran satt sehen.

    Der Frau im Fahrzeug hinter ihm ging es ähnlich. Sie hatte sich gar nicht erinnern können, wie schön Sylt sein konnte. Die zarten Farben, das milchige Blau des Winterhimmels, gepaart mit dem hellen, in der Sonne fast weißen Sand, das Heidekraut und die wunderschönen Kiefernwälder, die all die Touristen, die über Westerland nicht hinauskamen, auf Sylt wohl nie vermuten würden – das alles war schon ein Traum. An der schmalsten Stelle der Insel glitzerte die Wattenmeerseite im Licht, die Sonne stand schon niedrig und warf einen Strahl über das stille Wasser. Es sah fast so aus, als hätte jemand im Himmel eine Taschenlampe angemacht. Sie konnte nicht leugnen, dass sie bei diesem Anblick so etwas wie Glück verspürte. Es war eine gute Entscheidung gewesen, doch noch einmal ans Meer zu fahren. Auch wenn es für sie das letzte Mal sein sollte.

    Schon von der Hauptstraße aus sah sie in der Ferne einen großen, beleuchteten Gebäudekomplex. Das musste das Hotel sein. Hoffentlich hatten die Sylter dem vorhandenen Elend nicht noch eine Bausünde hinzugefügt. Je näher sie kamen, umso größer wirkte der Bau. Ein bisschen so, als wenn Adolf das gebaut hätte – sehr kantig, sachlich und gleichzeitig beeindruckend mächtig. Kurz hinter dem Ortseingang von List bog der Fiat in eine mit dem Arosa-Logo gekennzeichnete Einfahrt ab. Eine Schranke versperrte die Zufahrt zum Hotel. In einem kleinen Häuschen saß ein uniformierter älterer Herr, der sich vornehm verbeugte, die Schranke hochfahren ließ und ihr höflich zunickte. In einer sanften Linkskurve ging es zum Eingang des Hotels. Erst jetzt sah sie, wie gut sich die Gebäude in die Dünenlandschaft einfügten – fast so, als seien sie ein Teil des Ganzen. Sie kam nicht umhin, den Architekten Anerkennung zu zollen, das war in ihren Augen endlich mal ein gelungener, wenn auch schlichter und etwas kantiger Hotelneubau.

    Vor dem Haupteingang wartete bereits weiteres Personal, das sie in Empfang nahm. Der mit einer schokoladenfarbenen Uniform gekleidete Portier verlud ihr Gepäck nach der wiederum sehr herzlichen Begrüßung auf einem Kofferkuli, und Mats Weslow, der den Fiat bereits geparkt hatte, streckte die Hand nach ihrem Autoschlüssel aus.

    „Ich darf Ihr Fahrzeug für Sie in der Tiefgarage parken? Wann immer Sie es brauchen, lassen Sie uns das an der Rezeption wissen – wir lassen es dann umgehend vorfahren. Ich darf Ihnen im Namen unseres Hotels einen wunderschönen Aufenthalt und eine besonders gute Erholung wünschen. Erholung? Sah man ihr an, was sie im letzten Jahr durchgemacht hatte? Sie nahm sich zusammen, dachte nur: „Wouh, was für ein Luxus hier und antwortete knapp: „Vielen Dank, ja."

    Der Portier geleitete sie zur wunderschön gestalteten Rezeption. Ein heller sandfarbener Empfangstresen, ein riesiger moderner Divan mitten im Raum und eine gut gewählte, sparsame Dekoration. Blickfang war die wie eine Skulptur gestaltete leuchtend rote und riesengroße Deckenlampe. Der erste Eindruck war wirklich positiv. Die hübsche junge Frau an der Rezeption – hier trugen alle blaue Uniformen – begrüßte sie ebenso herzlich wie es schon eine halbe Stunde zuvor „ihr Chauffeur getan hatte. Sie fragte sich, wo man als Hoteldirektor solches Personal herbekam – freundlich, ohne aufdringlich zu sein und in der Lage, den Eindruck zu erwecken, dass man sich über jeden einzelnen Gast persönlich wirklich freute. Nachdem ihr die junge Frau ihre Zimmerkarte ausgehändigt und alles erklärt hatte – Restaurants, SPA, Ausflüge, Service, W-Lan etc. – strahlte sie sie an und sagte herzlich: „Wir wünschen Ihnen einen rundum schönen Aufenthalt in unserem Hotel. Genießen Sie die schöne Insel Sylt und die Annehmlichkeiten, die wir Ihnen bieten. Wir werden versuchen, alle Ihre Wünsche zu erfüllen.

    Bei diesen Worten zog sich ihr Brustkorb zusammen Die junge Frau konnte ihre Wünsche nicht erfüllen, denn die Dinge, die in ihrem Leben passiert waren, konnte niemand rückgängig machen. Ob die junge Frau hier sie auch so herzlich begrüßt hätte, wenn sie wüsste, dass sie vor gar nicht so langer Zeit äußerst grausam einen anderen Menschen getötet und dabei sogar etwas wie Genugtuung empfunden hatte? Irgendwann in absehbarer Zukunft würde sie vielleicht in den Zeitungen davon lesen und sich mit Schrecken an die reizende rundliche Dame erinnern, die bei ihnen im Hotel gewohnt hatte und der sie so etwas nie zugetraut hätte.

    „Danke, ich denke, ich komme zurecht." Sie nahm ihre Handtasche und folgte dem Portier und ihrem Gepäck zum Fahrstuhl.

    Kapitel 2

    Als der Portier die Zimmertür öffnete, fiel mit einem Schlag aller Widerwillen gegen die Reise von ihr ab. Ein wirklich traumhafter Raum, groß, sparsam und sehr geschmackvoll eingerichtet – und mit direkten Blick auf das Wattenmeer. Das Glitzern des geradezu surreal blauen Wassers, auf dem noch letzte Eisbrocken schwammen, zog sich wie ein Lichtstrahl durch den gesamten Raum.

    In so einem Hotelzimmer hatte sie noch nie gewohnt, und sie würde es genießen, auch wenn der Aufenthalt das letzte Schöne in ihrem Leben sein sollte.

    Lächelnd drehte sie sich zum Portier um. „Haben Sie herzlichen Dank für Ihre Hilfe. Das ist wirklich ein schönes Hotel."

    Sie konnte dem jungen Mann ansehen, dass er von ihrem Stimmungswechsel überrascht war, vielleicht kannte er aber auch die Wirkung des Meerblicks im Zimmer 222. Ein kurzes Zögern, vielleicht die Hoffnung auf ein Trinkgeld, das jedoch nicht kam, dann nickte er noch einmal freundlich und wünschte ihr einen schönen Aufenthalt.

    Nachdem sie ihre Sachen ausgepackt und in den eleganten Einbauschränken verstaut hatte, setzte sie sich an die geöffnete Balkontür und schaute über das halb hohe Geländer auf das glitzernde Wasser. Zwischen ihr und der glatten blauen Fläche lag nur eine schmale, mit Strandhafer bewachsene Düne, an deren Fuß eine großzügige, mit Bankiraiholz belegte Terrasse zu sehen war, die sich das gesamte Gebäude entlang zog. Wie schön musste es sein, an lauen Sommerabenden dort zu sitzen und einen guten Rotwein zu genießen. Offenbar befand sich direkt unter ihr eines der drei hoteleigenen Restaurants. All das – und auch den viel gerühmten SPA-Bereich mit über 3000 qm Fläche – würde sie in den nächsten Tagen erkunden. Sie würde sich richtig verwöhnen lassen und sich selbst ein furioses Finale gönnen.

    Mittlerweile war die Dämmerung angebrochen. Offenbar hatte sie länger vor sich hingeträumt, als sie gedacht hatte. Sie schloss die Balkontür, durch die jetzt, nachdem die Sonne verschwunden war, die kühle Winterluft hereinzog. Sie war zu müde, um sich noch einmal aufzuraffen, und Hunger hatte sie ohnehin nicht. Sie zog sich aus, hängte ihre Kleidung ordentlich in den Schrank und holte ihr Nachthemd hervor. Die elektronische Anzeige an ihrer Zimmertür – früher hatte hierfür ein Schild gereicht – stellte sie auf „Nicht stören". Obwohl es nur wenige Grad über Null war, ließ sie einen Fensterflügel auf Kipp stehen und krabbelte unter die dicke Daunendecke. So konnte sie das auf der Wattseite leise Plätschern des Meeres und die vereinzelten Vogelschreie hören. Möwen waren das nicht, es könnten vielleicht … aber sie konnte den Gedanken nicht mehr zu Ende bringen. Erstmals seit vielen Monaten war sie innerhalb weniger Minuten eingeschlafen. Ihre Armbanduhr zeigte in diesem Moment gerade einmal 19 Uhr.

    Kapitel 3

    Durch die transparenten Vorhänge fiel diffuses Licht. Im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie war, aber dann wurde ihr klar: Sie lag in ihrem Hotelbett und hatte – ein Blick auf ihre Uhr brachte den Beweis – über 12 Stunden geschlafen. Nicht ein einziges Mal war sie aufgewacht, keine schlechten Träume hatten sie gequält. Fast wie im Koma hatte sie offenbar die Nacht verbracht, und nun fühlte sie sich ausgeruht wie schon lange nicht. Sie schwang die Beine auf den Boden und machte barfuß einige vorsichtige Schritte zum Fenster. Draußen war es zwar nebelig, aber trocken, und die Sonne war jedenfalls als diffuses Licht zu erahnen. Es würde ein schöner Tag werden, da war sie sicher.

    Im Bad war es dank der Fußbodenheizung herrlich warm. Sie brauchte einen Moment, um die modernen Armaturen in der großen Dusche zu verstehen, aber dann genoss sie das seidige Wasser, das aus dem Duschkopf auf sie herabrauschte. Die bereit gestellten Kosmetikfläschchen nutzte sie großzügig – was für ein herrlicher Duft. Und alles hier war fast nagelneu. Kein Wunder, das Hotel war ja auch erst vor wenigen Jahren eröffnet worden. Die Glastüren waren ebenso wie die Fliesen offenbar mit irgendetwas behandelt worden, was das Wasser einfach so abperlen ließ. Herrlich – auch wenn sie hier sowieso nicht putzen musste.

    Schnell war sie geduscht und angezogen. Voller Energie verließ sie ihr Zimmer und begab sich in den Frühstücksraum, den sie problemlos fand. Und wieder war sie fast sprachlos – ein sonnendurchfluteter und sehr geschmackvoll eingerichteter Raum, in dem sie sich sofort wohl fühlte. Sie suchte sich einen kleinen Tisch am Fenster. Ohne die Düne davor hätte man von hier aus direkt das Meer sehen können. Aber auch dieser Blick war einfach herrlich. Nachdem man ihr wunschgemäß Kaffee gebracht hatte, der im Übrigen ganz vorzüglich schmeckte, machte sie auf den Weg zum Frühstücksbuffet, das im Nebenzimmer aufgebaut war. Ihr fehlten die Worte, das hier konnte man niemandem beschreiben. Hier fand man wirklich alles, was das Herz begehrte. Wie alt hatte sie werden müssen, um so etwas zu erleben – und für all das nichts bezahlen zu müssen.

    Mit zahlreichen zusammengesuchten Köstlichkeiten kam sie zurück. Mittlerweile saß am Nachbartisch eine Frau etwa in ihrem Alter und nippte an Sekt oder Prosecco, den es hier offenbar auch umsonst gab. Jetzt wurde ihr klar, was sie als einziges an dem schönen Raum störte: Die Tische standen schon sehr nah beieinander. So viel Nähe war ihr persönlich zu viel.

    „Einen wunderschönen guten Morgen – ist das nicht ein herrlicher Tag? Wir sind vorgestern angekommen und bleiben eine Woche. Und Sie?" Die Frau strahlte sie förmlich an und wartete erwartungsvoll auf ihre Antwort. Sie war frisch frisiert und sehr gut gekleidet.

    Obwohl sie eigentlich keine Lust hatte zu reden, wollte sie nicht als unhöflich erscheinen. „Ja, wirklich, ein herrlicher Tag. Ich bleibe auch nur ein paar Tage, werde aber jede Minute in diesem schönen Hotel genießen."

    „Sie müssen unbedingt den SPA-Bereich nutzen. So etwas haben wir noch nie erlebt, obwohl wir nur in den besten Hotels absteigen."

    Sie verbiss sich jeden Kommentar und nickte nur freundlich, als ihre Tischnachbarin, scheinbar ohne Luft zu holen, weiter sprach: „Ein riesiges Schwimmbad, in dem man richtig schwimmen und nicht nur plantschen kann. Und man schwimmt durch eine automatische Schiebetür ins Freie – herrlich, sage ich Ihnen. Und erst die verschiedenen Saunen … und die vielen Anwendungen. Ich gönne mir heute Nachmittag eine Rundum-Massage, die kostet zwar 350 € für gut zwei Stunden, aber was soll’s? Man kann das Geld ja nicht mit ins Grab nehmen … das sagt mein Mann auch immer. Und … ja, wo ist er denn eigentlich? Ich warte hier schon mindestens eine Viertelstunde!"

    Ihr verschlug es für einen Moment tatsächlich die Sprache. So viel Geld für eine Massage? Ehe sie nachfragen konnte, klärte sich der Verbleib des Gatten. Er saß zwei Reihen weiter an einem anderen Tisch und genoss bereits Kaffee und ein frisch zubereitetes Kräuteromelette. Eine Tageszeitung lag ausgebreitet auf dem Tisch. Seine Frau stieß einen kurzen spitzen Schrei aus, der die Umsitzenden hochschrecken ließ.

    „Purzelchen, hier sitzen wir – komm her!"

    Purzelchen, wie peinlich … sofort hatte sie Mitleid mit dem Kerl. Der schüttelte jetzt den Kopf und rief durch den Raum: „Komm du her, bei mir ist schon gedeckt."

    Seine Frau war empört. Offenbar handelte es sich um den typischen Machtkampf zwischen Eheleuten, die sich sonst nichts mehr zu sagen hatten.

    „Nein, ich habe extra diesen hübschen Tisch am Fenster gesucht – nun komm endlich her!"

    Als er zögerte, setzte sie – nur scheinbar im Spaß – nach: „Bei Fuß, Schatzi, komm zu Frauchen."

    Der arme Kerl ergab sich in sein Schicksal. Eine reizende junge Bedienung, die den peinlichen Wortwechsel mitbekommen hatte, half ihm beim Umzug. Sie nickte „Purzelchen" nur kurz zu, als er sich endlich am Nachbartisch niedergelassen hatte. Um weitere Konversation zu vermeiden, vertiefte sie sich in das Hamburger Abendblatt, dass man ihr wunschgemäß an den Tisch gebracht hatte. Das Geplapper am Nachbartisch versuchte sie auszublenden.

    „Warum hast du denn einen eigenen Tisch genommen? Was sollen denn die Leute denken?"

    „Das war doch keine Absicht, Schatz. Ich habe dich gar nicht gesehen – ich dachte, du wärst noch beim Buffet."

    „Ja, wenn du auch nie aufpasst. Was soll ich denn so lange am Buffet … also wirklich."

    „Nun bin ich ja hier."

    „Ja, und nun mach hinne, wir wollen doch nach Westerland."

    Er rollte kaum sichtbar mit den Augen. Das war’s wohl mit seiner Vorstellung von einem gemütlichen Frühstück.

    Ob er wohl Mordgedanken hegte? Sie könnte es verstehen. Bei diesem Gedanken rief sie sich sofort zur Ordnung. Man konnte Probleme nicht einfach dadurch lösen, dass man seine Mitmenschen beiseite schaffte. Auch sie hatte das zu keinem Zeitpunkt geglaubt – und dennoch Fakten geschaffen, für die sie jetzt einstehen musste. Ob sie ihr Handeln wirklich ungeschehen machen wollte, wenn sie könnte, wusste sie nicht. Aber die Frage stellte sich ohnehin nicht.

    Nachdem die beiden weg waren, konnte sie sich endlich auf den Lokalteil ihrer Zeitung konzentrieren. Viel Aufregendes war seit gestern wirklich nicht passiert. Der Zeitung fehlte der regionale Teil, in dem über Ereignisse im Landkreis Harburg berichtet wurde. Klar, was sollten auch Leser auf Sylt damit? Nun blieben nur noch die Todesanzeigen und der Sportteil – beides konnte sie sich sparen. Sie legte die Zeitung zur Seite und trank einen letzten Schluck Kaffee. Das Frühstück war einfach köstlich gewesen. Entspannt betrachtete sie die Menschen um sich herum. Viele Tische waren nicht mehr belegt, insgesamt war das Hotel offenbar alles andere als ausgebucht in dieser Jahreszeit. Aber das konnte ihr nur Recht sein.

    Eine Reihe weiter saß ein jüngeres Paar. Er mit sichtbarem Bauchansatz und einem Teller vor sich, auf dem sich Rührei, Speck und gebratene Würstchen häuften. Sie, sehr schlank und durchtrainiert, schabte

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