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Der Kamin
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eBook308 Seiten4 Stunden

Der Kamin

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Über dieses E-Book

Ausgeraubte Zeitungs-Kioske sind nichts, was Kommissar Kerkbaum als besonders schwierige Fälle betrachten würde. Jedenfalls so lange nicht, bis die Besitzerin eines der Kioske ermordet wird.
Schnell merkt Kerkbaum, dass mehr hinter diesem Mord steckt. Und in diesem Mehr scheint die lokalen Frauenszene eine Rolle zu spielen. Wer könnte da besser ermitteln als Polizeifotografin Rosi Kramer und ihre Liebste, die Wen-Do-Trainerin Jana Müller?
Was diese beiden allerdings herausfinden, ist erschreckend – und reicht Jahrzehnte zurück, zu Ereignissen, die viele Leute lieber vergessen würden, nahe jener stillgelegten Fabrik, deren Kamin wie eine Mahnwache oben auf dem Berg steht.
Die Lösung des Falles eilt, denn es gibt weitere Tote. Und niemand weiß, wer noch auf der Liste des Täters steht.
SpracheDeutsch
HerausgeberMachandel Verlag
Erscheinungsdatum2. Feb. 2021
ISBN9783959593038
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    Buchvorschau

    Der Kamin - Martina Schäfer

    Der Kamin

    Martina Schäfer

    In memoriam Ernst Klee (1942-2013)

    ©Martina Schäfer 2017

    Machandel Verlag Haselünne

    Charlotte Erpenbeck

    Cover-Bild:Elena Münscher, Bildquelle PD, pixabay.com

    Hintergrund: Filter Forge

    Illustration: Stefanie Szabo

    1. Auflage 2021

    ISBN 978-3-95959-303-8

    1. Kapitel

    „Jetzt hat er ihn aber mal richtig zusammengeschissen!" Befriedigt ließ Rosi ihren Rucksack von der Schulter und vorsichtig auf den Boden gleiten, denn kein normaler Mensch feuert einen Rucksack, der Kameras im Wert von mehreren Tausend Euros enthält, so in die Ecke, als enthielte er abgegriffene Taschenkrimis, ausgeleierte Trainingshosen und abgegessene Bananenschalen. Das ist eher meine Art der Rucksackbehandlung.

    „Wer hat wen angeschissen?" Wenn es mir danach zumute ist, kann ich gleichzeitig reden und zur Begrüßung küssen.

    Rosi allerdings auch: „Na, von Kerkbaum den Schmidtken!"

    „Immer noch wegen der vermurksten Geschichte in dem Anthroposophenheim?"¹

    „Ja, auch. Von Kerkbaum sagte ihm, er habe mehr Vorurteile in seinem Kopf als zwanzig fundamental-katholische Lateinlehrerinnen und wenn er nur halb so viel Verstand hätte wie arrogante Ansichten, könnte er in Nullkommanichts einen Nobelpreis in Kriminologie erwerben!"

    Sie warf sich auf ihr Sofa und ich sauste los, um zwei Gläser Saft aus ihrer Küche zu holen. Ich war anlässlich eines Vortrages über Gewaltprävention, den das örtliche Haus für geschlagene Frauen, der Kinderschutzbund und die Kripo organisiert hatten, in Rosis hübscher Kleinstadt zwischen Bergischem- und Sauerland zu Besuch. Der Ort mit seinen fachwerkreichen Häusern und den in unendlichen Grautönen gedeckten Schieferdächern wirkte heimelig. Eigentlich stamme ich ja aus Westeuropa, also aus der linksrheinischen Eifel, aber ein etwas mörderischer Selbstverteidigungskurs in einem gewerkschaftsnahen Tagungshaus Mitteleuropas, genauer gesagt in den unendlichen Wäldern des sauerländischen Mittelgebirges, hatte mich verschiedenster Mordanschläge auf meine werte Person ausgesetzt sowie andere, sehr sympathische Personen, wie zum Beispiel die Polizeifotografin Rosi Kramer, in Lebensgefahr gebracht. Letztendlich gelang mir die Lösung meines ersten Falles, und wie das Leben so spielt, fand ich mich, gewissermaßen als Lohn für alle meine dortigen guten Taten, anschließend in den Armen dieser wunderlieben, lockigen Fotografin wieder, in denen ich, metaphorisch gesprochen natürlich, bis heute zu liegen die Freude habe.²

    „Danke - Sie nahm das Glas entgegen und zog mich auf das Sofa herunter. „Aber dieser Schmidtken sollte uns eigentlich egal sein. Erzähl, was hast du heute gemacht?

    „Nichts von Bedeutung, nur den gestrigen Vortrags- und Diskussionsabend ausgeschlafen."

    „Die drei Weizenbier?"

    „Ja, die auch! Also, er ist degradiert, die Schulterklappen abgetrennt, die feine Lederjacke in Fetzen gerissen und Schmidtken damit das arrogante Lächeln vom Gesicht gewischt?"

    „Nicht ganz – aber fast! Von Kerkbaum ist ein gütiger Vater in allen Lebenslagen, selbst solchen Kreaturen wie Schmidtken gegenüber."

    Vater – okay, über das gütig mochte man sich streiten, denn wir hatten ihn durchaus auch schon als etwas hinterhältig erlebt. Als Folge unseres ersten Falles im Sauerland hatte von Kerkbaum, Rosis und Schmidtkens gemeinsamer Vorgesetzter, eine seltsame Intrige eingefädelt, die uns alle drei – er nannte uns seitdem übrigens das Sauerland-Trio! – in eine anthroposophische Institution für Erwachsene mit geistiger Behinderung führte. Ein alter Freund von ihm war dort mächtig in Schwierigkeiten geraten. Schmidtken hatte sich vor Ort allerdings wahrlich nicht als der geniale Aufklärer erwiesen. Ohne das schnelle und mutige Eingreifen der so genannten `Behinderten` selbst läge ich nun wohl in der Familiengruft und ein irrer Schlächter liefe immer noch weiter frei in der Landschaft herum!

    „Schmidtken in die Produktion?" Ich fuhr mit allen meinen Fingern durch Rosis stürmische Locken und vergaß den Orangensaft im Glas und den Eintopf im Ofen.

    „So ungefähr. Von Kerkbaum hat ihm einen leichten Fall mit viel Lauferei zugeteilt. Diese Bande, die hier in der Gegend in letzter Zeit so viele Kioske überfallen und aufgebrochen hat, ist gestern Nacht weit über ihr sonstiges Maß hinausgeschossen: Die Kerle haben eine Kioskfrau erschlagen!"

    „Oh!"

    „Jana, wenn du dir überlegst, in welchem Alter Jugendliche heutzutage kriminell werden, Tankstellen ausrauben, Autos klauen und sogar Leute umbringen – es ist traurig!"

    „Und wir Frauen halten derweil kluge Vorträge über Gewaltprävention!"

    Es war eine ganze Vortragsserie zum Thema sexuelle Gewalt, die, auf Anregung verschiedener Frauen und durch Rosis berufliche Kontakte gefördert, in ihrem Ort stattfand. Vorige Woche hatte eine Juristin gesprochen, davor die Woche eine Psychologin zum Kindesmissbrauch, ich am gestrigen Abend über Deeskalationsmaßnahmen an Schulen, nächste Woche würde ich noch einmal vor einer Elterninitiative des hiesigen Gymnasiums sprechen. An dem Wochenende dazwischen gab ich einen Wen-Do-Grundkurs für zwölf Mädchen einer Hauptschule. Die Tage, an denen ich keine Pflichten hatte, verbrachte ich mit Spazieren gehen, für meine Liebste und mich russisch, chinesisch oder italienisch kochen, Schundromane lesen sowie allerlei gemeinsamen Aktivitäten.

    „Als du heute früh deine Weißbiere ..."

    „Na, nicht doch Rosi, die hochpolitischen Diskussionen!"

    „Gut, gut! Also, als du das Alles noch ausgeschlafen hast, haben die Kollegen mich zum Fotografieren an den Kiosk geschickt. Schmidtken war bereits gestern Nacht vor Ort. Immerhin – pflichtbewusst ist er ja!"

    „Wann ist denn der Überfall passiert?"

    „Ach, irgendwann wohl zwischen zehn und zwölf Uhr – eher zwölf, gab der Pathologe kurz vor Feierabend noch durch. Die Frau hatte ihren Stand in der Nähe des Bahnhofes und hielt offen, bis der letzte Zug durch war."

    „Als wir bereits mit den Organisatorinnen in der Kneipe waren?"

    „Ja. Das Schlimme ist..., Rosi trank nachdenklich einen Schluck Saft und richtete ihre honigfarbenen Augen auf mich, „... ich kannte die Frau sogar ein wenig.

    Rosi stammt eigentlich vom Bodensee und hat einen sehr starken alemannischen Akzent, der immer dann besonders durchklingt, wenn sie betroffen ist oder sich sonst aufregt. „Und keiner hat etwas gesehen? Euer Bahnhof ist nach der Rushhour tatsächlich nicht mehr ein Abbild des brodelnden Lebens. Aber immerhin doch der Bahnhof einer mittleren Kleinstadt mit kulturellen Bedürfnissen in der nächsten Großstadt? Da kommen doch immer noch allerlei Nachtschwärmer und Theaterbesucher mit dem letzten Zug zurück?"

    „Nein – kein Mensch! Sie schaute an mir vorbei in Richtung Fenster. „Bei all den anderen Überfällen hat fast immer irgendjemand irgendetwas gehört oder gesehen. Deshalb wissen wir ja auch, dass es sich sehr wahrscheinlich um eine Bande von Jugendlichen handelt.

    „Wenn du jemanden totgeschlagen hättest, würdest du auch nicht mehr lange dort herumstehen und allzu großen Lärm machen!"

    „Eigentlich sind sie noch nie in dieser Weise tätlich geworden." Rosi runzelte die Stirn und legte sich den kühlen Glasrand an die Schläfe.

    „Die anderen Kioskbesitzer waren doch immer schon zu Hause. Sie ist sicherlich die Einzige gewesen, die so spät abends noch geöffnet hatte. Damit haben die Kerle nicht gerechnet – Rums – Schlag...! Und ab klammheimlich, schnell und leise!"

    „So ähnlich mag das wohl gelaufen sein. Wirklich übel! Sie war eine Nette. Liebäugelte übrigens auch mit der hiesigen Frauenszene. Ich habe sie hin und wieder auf Festen oder größeren Veranstaltungen gesehen. Sie hatte ein tolles Mundwerk, fast so wie du, mein Herz." Sie lächelte mich mit diesem Blick an, der mich auf der Stelle durch die Sofakissen hinschmelzen ließ.

    „Aber bitte!"

    „Betonte die Worte wie du: ‚Fisternöllschen’ zum Beispiel."

    Rosi ist hinreißend, insbesondere, wenn sie versucht, meinen flotten, mit allen Abwässern des Altvaters Rhein gewaschenen Tonfall nachzuahmen! Während wir Rheinländerinnen meistens unser Leben lang unfähig sind, das CH und das SCH auseinander zu halten – wir essen und betreten Kirschen gleichermaßen – sind die Bewohnerinnen der voralpinen Seen auch nicht im Entferntesten in der Lage, das SCH zu artikulieren, nicht einmal ein sauberes CH, welches andere Leuten unter die Zungenspitze legen. Alles bleibt ihnen regelmäßig im Halse stecken – und ‚Fisternöllschen’ auf jeden Fall.

    Rosi Kramer, deren hoch privilegierte Geliebte ich zu meinem Glück bin, so dass sich anstrengende Aktivitäten wie Seitensprünge oder Zweitbeziehungen angenehmerweise erübrigen, runzelte nachdenklich die Stirn. Sie ließ den Saft in ihrem Glas schaukeln und rückte ein wenig aus meiner liebenden Umarmung heraus. Das macht sie immer so, wenn sie über etwas nachdenkt. Irgendwann hat es dann den Anschein, als stelle sie ihre Augen auf Fernsicht ein. Aber eine Fernsicht, die durch innere Landschaften streift, hunderte von Archivschubladen im Kopf aufreißt und tausende von Kontaktabzügen vor der Erinnerung vorbei ziehen lässt.

    Rosi Kramer, die Polizeifotografin, hat mehr als ein visuelles Gedächtnis, denn so simpel als ‚Gedächtnis’ lässt sich ihre Fähigkeit nicht mehr beschreiben, die sämtliche, aber auch sämtliche je von ihr gemachten Fotografien eines fast fünfzigjährigen Fotografinnenlebens auf Abruf im Kopf bereit hält.

    Ein Wunder, nicht nur für solch kuckfaule Personen wie mich!

    Schauen, kucken, beobachten, betrachten und ähnliche Tätigkeiten finde ich ungeheuer anstrengend. In Museen, selbst in naturwissenschaftlichen, die eher meinen Interessen entsprechen, überfällt mich meist gleich bei der Eingangstüre ein unwiderstehlicher Gähnzwang.

    Ich bin kaum weit- und ebenso wenig kurzsichtig, aber viele blaue Flecken und ein Fahrstundensoll von annähernd dreißig Stunden haben mich gelehrt, dass ich eigentlich die Welt eher flach wahrnehme, wie einen Kinofilm, weshalb ich auch gerne ins Kino gehe. Da zappelt diese flache Welt und ich kann ihre Tiefenschärfe bemerken, denn das ist ja der Sinn dieser bunten beweglichen Illusion.

    Möglicherweise ist das alte Echsenstammhirn ein bisschen überproportional bei mir entwickelt: Stille Dinge entgleiten mir rasch: Statuen, Tapetenmuster und Keramikornamente. Ich liebe das, was sich bewegt: Im Wind wehende Bäume, das vor- und zurück schwappende Meer, tanzende Frauen und springende Hunde, und bewege mich deshalb selber auch sehr viel. Zum Leidwesen der Menschen in meiner Umgebung, die diese Zappelei eines stämmigen Kämpferinnenkörpers vor ihren Nasen erdulden müssen.

    Die Art, wie ich als Kind mühseligst das Schreiben erlernte, muss meine Erziehungsberechtigten sehr erschrocken haben. Nur die Tatsache, dass ich in rasanten zwei Wochen oder gar Tagen lesen lernte, beruhigte sie einigermaßen in ihren Befürchtungen, etwas lern-, leistungs- oder gar geistig Behindertes in die Welt gesetzt zu haben. Aber Lesen hat eben etwas mit den Ohren zu tun: Natürlich kann jedes halbwegs aufgeweckte Kind einen Text, der schon dreimal von anderen MitschülerInnen vorgestottert wurde, dann auswendig herunterbeten! Da braucht`s echt keine Buchstaben mehr.

    Was in einiger Entfernung platt ist und nur durch die Beweglichkeit der flitzenden und flatternden Kinobilder Tiefenschärfe aufweist, diese seltsame Welt, genannt Erde des ausgehenden 20. Jahrhunderts, erhält in der Nähe ihr Profil durch eine Wahrnehmung, die der anthroposophische Teil meiner Familie „Bewegungssinn" nennt und die mir in meinem Beruf als Lehrerin für Selbstverteidigung und Selbstbehauptung sehr zustatten kommt: Ich spüre sehr gut, was sich wo in Bezug auf meinen Körper bewegt, parke Güllefässer oder Wohnmobile rein nach dem Gefühl für die Abstände ein und versuche Frauen, Mädchen und Menschen mit Behinderungen aller Art wenigstens eine Ahnung dieses Gefühls für Grenzen und grenzüberschreitende Körper, die meistens dem anderen Geschlecht gehören, zu vermitteln, oder Orientierungshilfen in dunklen Straßen und gefährlichen Wohnzimmern.

    „Irgendetwas war anders als bei den Überfällen davor."

    „Wie – anders?" Ich schrak aus meinen Selbstbetrachtungen hoch.

    „Ich krieg es nicht zusammen."

    Rosi legte den Kopf schief und schaute zum Fenster hinüber, was aber, wie ich wusste, eine Illusion war, denn sie kramte eigentlich eher irgendwo schräg in ihrer Erinnerung herum.

    „Der Eindruck, weißt du, der Gesamteindruck ..."

    „Ja?"

    Man sagt mir nach, dass ich sehr helle, blaue Augen habe und deshalb glaubt kein Mensch, dass es eigentlich meine Ohren sind, auf die man sein Misstrauen richten sollte. Aber Segelohren sind nun mal kein solch schönes Kompliment wie keltenblaue Augen, auch wenn sie das Niesen eines Regenwurmes an einem herbstlichen Nebeltag hören.

    „Ich würde gerne die verschiedenen Fotoserien von den Überfällen noch einmal vergleichen."

    „Na, dann schaust du halt gleich morgen früh mal nach?"

    „Weißt du, Jane, die Ermordete hat sich auch sonst für die Menschen interessiert: Häufig standen Leute stundenlang an ihrem Kiosk herum, ohne dass sie eine Zeitung kauften!"

    „Mit anderen Worten, sie ist es dir wert, gleich jetzt noch einmal die Fotos im Labor anzuschauen?"

    „Genau! Rosi holte ihren Blick in unsere Gegenwart zurück. „Woher weißt du das?

    „Für Leute, die dir nicht wichtig sind, bist du selten bereit, freiwillige Überstunden abzudienen."

    „Wir kucken nur schnell im Fotoarchiv nach. Wir wollten doch eh` noch einen Kleinen ziehen gehen, da kommen wir fast am Rathaus vorbei."

    „Einenziehengehen" heißt auf Alemannisch ein Bier trinken.

    „Außerdem, Rosi war schon aufgestanden, „ist heute Abend Frauenbeiz!

    Auf Hochdeutsch: „Frauenkneipe", eine nette Sitte, die viele alternative oder links angehauchte Kneipen in der deutschen Provinz eingeführt haben: Ein Abend, an dem nur Frauen in die Kneipe dürfen. Reine Frauenkneipen halten sich bei uns nur in den Millionenstädten und auch da nur mit Ach und Krach oder Hängen und Würgen.

    „Was ist mit dem Abendessen?"

    Als hätten die sich miteinander verbündet, fingen unsere Mägen nun unisono an zu protestieren, zu knurren wie ein Haufen Löwenbabies. Also gab es zuerst noch den Eintopf mit Weißbrot und Quarkhäufchen drauf. Solche Feinheiten gehören zu meinem unbewussten slawischen Erbe.

    Dann machten wir uns Hand in Hand durch einen leichten bergischen Nieselregen auf in Richtung Rathaus, in dem die Institutionen der Kriminalpolizei untergebracht sind.

    1 siehe meinen Kriminalroman: „Herz aus Stein."

    2 siehe den Krimi unter dem Pseudonym Magliane Samasow: „In Teufels Küche." Elsdorf, 1999 kbv-Verlag

    2. Kapitel

    Unter der Türe mit der Aufschrift „Fotolabor und Archiv" drang Licht hervor, als wir im Rückgebäude des von Fachwerk durchzogenen Rathauses den langen Gang des Kommissariats entlanggingen.

    Rosi stieß, ohne anzuklopfen, die Türe ihrer Arbeitsräume auf. „Wer ist denn da? Um diese Zeit?" Schmidtken schaute von einem großen Leuchttisch, der quer hinten im Raum unter einer Fensterfront stand, hoch.

    Das Licht warf von unten merkwürdige Schatten über seine wohlgepflegte Gestalt und gab seinem Gesicht tatsächlich den Anschein eines zutiefst beleidigten Adlermännchens. Oder sollte von Kerkbaums Standpauke tatsächlich Wirkung gezeigt haben?

    „Was machst du hier um diese Zeit?" Rosi trat an den Leuchttisch. Dadurch wurde der Blick frei auf meine bescheiden hinter ihr drein stolpernde, füllige Gestalt.

    „Oh! Nicht Sie auch schon wieder!" Schmidtken ließ ein paar Bögen auf den Tisch gleiten und griff sich an die Stirne. Rosi lachte mir über die Schulter zurück zu.

    „Dein Name fiel für seinen Geschmack ein bisschen zu häufig heute aus Kerkbaums wütendem Mund! Ja – sie auch!, wandte sie sich wieder an ihren unglücklichen Kollegen. „Und was machst du hier in meinen Räumen? Sie trat energisch vor und fasste nach den Fotografien, die auf den hellen Tisch gefallen waren.

    „Diese Zeitungsfraugeschichte ..."

    „Du auch?" Sie sah Schmidtken fragend an.

    „Es ließ mir keine Ruhe! Irgendetwas stimmte nicht an diesen Bildern!"

    „An dem, was sie abbilden!", führte ich ihn vorsichtig auf die Pfade ordentlicher Formulierungen zurück und Rosi brummte zustimmend. Er aber verdrehte schon wieder ungeduldig die Augen.

    „Ich weiß es auch nicht, was es ist, das Ganze wirkt irgendwie anders als die letzten Male!"

    Rosi beugte sich über die Fotografien und legte sie nebeneinander auf den Tisch. Man konnte heraus gerissene Schubladen erkennen, abgestürzte Zigarettenstangen, zerfledderte Zeitungen.

    „Hol` doch einmal ein paar Vergleichsfotos von den anderen Einbrüchen! Rosi wies auf einen der Karteischränke mit den großen Hängeschubladen und fügte hinzu: „Dritte Schublade, vierter, siebter und zehnter Hänger.

    Schmidtken bewegte sich gehorsam in den dunklen Hintergrund hinein, ich hörte ihn Schubladen herausziehen und die Hänger klapperten wie altjüngferliche Stricknadeln. Er brachte die Fotografien an den Tisch zurück.

    Rosi ordnete die anderen Gruppen in drei parallelen Reihen darüber an und lehnte sich stirnrunzelnd über den Tisch.

    „Lasst uns das einmal nach Themen geordnet von oben nach unten aufreihen: Alle Bilder mit aufgebrochener Kasse links, dann vielleicht die Zigarettenstangen oder was von ihnen übrig ist und dann..." Sie stockte und Schmidtkens Finger blieben in der untersten Reihe links stehen. Auch ich sah, was es gar nicht zu sehen gab: Kein Foto mit aufgebrochener Kasse, statt dessen eine kaum vorgezogene Schublade, in der wir eine wohl verschlossene Stahlkassette erkennen konnten. Rosi schaute Schmidtken fragend an und der nickte bestätigend.

    „Das Geld war unangetastet noch da. Die Tote ist ja über diese Schublade gebeugt vornüber gefallen. Anscheinend war es ihnen unheimlich, unter ihr nach der Kasse zu stöbern."

    „Sehr seltsame Rücksichtsnahme! Rosi schüttelte verwundert den Kopf. „Dann haben die ja kaum etwas erbeutet?

    Schmidtken nickte. „Die Zigarettenstangen und Zigarrenkisten waren auch alle noch da. Er deutete auf die Reihe mit den Zigarettenstangen aus den verschiedenen anderen Überfällen: „Kiosk Oberbergenbach: Zerfetztes Papier, fünf aufgerissene Kartons, zurück bleiben drei heraus gepurzelte Malboroughpäckchen und sieben Galloisstangen.

    „Die raucht hier oben auch kein Schwein!, murmelte Rosi. „Wären gar nicht rasch an den Mann zu bringen.

    „Kiosk Familie Meier in der Weimarerstraße: Die führten gleich gar keine Gallois, aber eine Menge leichter Marken, da ist nämlich ein Gymnasium in der Nähe. Alle Stangen weg, die ausgepackten Päckchen nur teilweise aus den Regalen gerissen. Sah nach einer überstürzten Flucht aus, nicht mal richtig Zeit haben die sich gelassen, noch ein, zwei in die eigenen Hosentaschen für den Eigenverbrauch zu stopfen. Hier wurden die Ganoven übrigens das erste Mal auch beobachtet!"

    Er atmete aus und ich wagte mich einzumischen: „Meinen Sie, Gymnasiasten stecken dahinter?"

    Er zog seine Luft schnaufend wieder ein und warf mir einen Blick zu, als hätte ich ihn gefragt, ob grüngelbe Marsmännchen an den Überfällen beteiligt gewesen seien. „Gymnasiasten?"

    Undenkbar anscheinend für Schmidtkens reine Waldorfschülermentalität! Wir etwas allgemeiner beschulten Frauen aus den Niederungen staatlicher Institutionen grinsten uns über die Fotos hinweg an.

    „Die Zeitschriften! Rosis Finger deutete auf die dritte Vergleichsreihe und wieder neigten wir alle drei unsere Köpfe über den Tisch. Friedenspapa von Kerkbaum hätte die helle Freude an seinem „Sauerland Trio gehabt. Seit einer Viertelstunde wieder traut streitend vereint!

    „Wieso sind die hier überhaupt herausgerissen? Die sind doch für einen Überfall gar nichts wert?" Ich deutete auf die durcheinander geworfenen Magazine, Tageszeitungen und Fernsehzeitschriften des Bahnhofkiosks.

    „Ist auch sonst nie der Fall. Hier, der Kiosk in der Neubausiedlung: Alle Zeitungen noch an ihrem Platz, Meiers auch, Oberbergenbach auch."

    „Und ich erinnere mich gut, Rosi schaute in ihre imaginäre Ferne, dass es bei den vier anderen Fällen ebenso war."

    „Dann hättet ihr also am Bahnhof ein ganz und gar untypisches Bild: Kein Geld geraubt, Zigaretten nur so pro forma herausgerissen, aber liegen gelassen, Zeitungen dagegen herumgefleddert?"

    „Und die tote Frau nicht zu vergessen, Frau Mertens, die Pächterin des Kiosks."

    „Vera Mertens, ergänzte Schmidtken und starrte nachdenklich weiter auf die Fotoreihen. „Vera Mertens, geboren am 15. Mai 1949 in Hamm.

    „Kinder?" Ich schaute ihn fragend an und er schüttelte den Kopf.

    Nein, sie war ihr Leben lang ledig.

    Ein typischer Schmidtkens-Schluss, Männerlosigkeit mit Kinderlosigkeit gleichzusetzen.

    „Das sollten wir trotzdem nachprüfen. Rosi schob die vier Fotografienreihen wieder zusammen. „Andere Verhältnisse?

    „Eine alte Mutter im hiesigen Altenstift, ein verheirateter Bruder, Elektrikermeister mit halb erwachsenen Zwillingen in Bochum sowie eine verheiratete Schwester, eine Frauenskatrunde und irgendwelche weniger wichtigen, flüchtigen Kontakte. Das brachte sicherlich auch ihr Beruf so mit sich. Aber wir haben das heute noch gar nicht weiter verfolgt, Rosi, der Fall schien ja auf den ersten Blick hin ziemlich klar! Schmidtken stopfte seine Fäuste ein wenig trotzig in die Taschen der feinen Wildlederjacke. „Bisher!

    „Immerhin ist dir das Gleiche aufgefallen wie mir!" Rosi klopfte Schmidtken ermutigend auf den Rücken und grinste ihn an.

    „Na gut, wenn dieser Überfall tatsächlich nicht auf das Konto der Jugendlichen geht ..."

    Er drehte sich herum und verließ das Labor, Rosi räumte die Bilder wieder in ihre Hängevorrichtungen und schloss mit Schwung die Türen.

    „Eigentlich im Zeitalter von Digitalkamera und Computervernetzung ein ziemlich altbackenes System, das ich da führe. Aber wenn ich zwanzig Bilder nebeneinander auf dem Monitor haben will, sehe ich außer Pünktchen und Flecken nicht mehr sehr viel. Außerdem geht das Gefühl fort! Frau muss ihre Fotos anfassen und hochheben können, sie ins Licht kippen ..."

    „Daran riechen?" Ich lächelte sie an und Rosi löschte die Lampe.

    „Irgendwie, nenne es riechen, fühlen. ... wie du willst."

    „Wie hat man eigentlich die Frau getötet?"

    Schmidtken hatte im Flur auf uns gewartet und ging jetzt mit uns heraus. Ich trottete hinter den beiden Kripobeamten den nächtlichen Gang herunter und wunderte mich wieder einmal darüber, wie weit gefasst doch die charakterliche Spannbreite der deutschen Polizei war, verkörpert in diesen beiden Gestalten da vor mir im nächtlichen Flurlicht.

    Alle drei schlossen wir wieder zu einander auf, als es galt, die nächtens ungenutzten Büroräume der örtlichen Kripo von außen zu verschließen.

    „Ziemlich gemein und hinterlistig: Die Täter sind von vorne an den Kiosk herangetreten, haben die Frau irgendwie vorgezerrt, ihr auf den Kopf geschlagen und sie wieder zurück auf ihren Stuhl gestoßen. Danach erst sind sie durch die Seitentüre in den Kiosk eingedrungen."

    „Also hat Vera Mertens sie gar nicht auf frischer Tat ertappt?" Ich fragte geduldig die Rücken der beiden KollegInnen aus, während die grüßend an der schummerig beleuchteten Kabine des Nachtportiers vorbei wieder auf die Seitenstraße des Marktplatzes traten.

    „Nein!" Schmidtken blieb stehen und schaute in den nieseligen Nachthimmel hinauf. „Dieser Mord war ihre erste Gewalttat in der Tatsequenz, wirkt ja fast wie geplant und das war es auch, was mich zuerst stutzig gemacht hat. Das war geplant und gemein! Sie hätten einfach weiter gehen

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