Frische Märchen extra fein: Kann Spuren von Tieren und Hexen enthalten
Von Satyr Verlag
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Über dieses E-Book
Jede Generation hat ihre Märchen. Gesammelte von den Brüdern Grimm. Ausgedachte von Musäus bis Andersen, moderne von Brecht bis Wondratschek. Kaum ein Schriftsteller, der nicht mal ein Märchen geschrieben hat. Das geht Poetry-Slam- und Lesebühnen-Autorinnen und -Autoren nicht anders.
Dieses Buch versammelt die aller-aller-aller-neuesten und modernsten Märchen und märchenhaften Geschichten von neuen und jungen Autorinnen und Autoren. Sie wurden - wie die meisten Märchen aus alten Tagen - bisher nur mündlich weitergegeben, vor allem von Bühnen herab.
Mit Beiträgen von Lars Ruppel, Jan-Philipp Zymny, Andy Strauß, Thilo Bock, Björn Högsdal, Matthias Reuter, Ahne, Micha Ebeling, Sabrina Schauer, Heiko Werning, Sarah Bosetti & Daniel Hoth (Team Mikrokosmos), Leo Fischer u. v. a. m.
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Buchvorschau
Frische Märchen extra fein - Satyr Verlag
Autoren
Michael-André Werner
Vorwort
Es war einmal ein Märchen, das lag einsam und allein in einer Schreibtischschublade und war ganz traurig, weil niemand es lesen wollte. Da kam eine gute Fee und sprach: »Du hast einen Wunsch frei.« Das Märchen sagte: »Ich wär’ so gern in dem Buch ›Frische Märchen extra fein‹ vom Satyr-Verlag.« Die Fee schwenkte lächelnd ihren Zauberstab, rief »Simsalabim«, und der Wunsch des kleinen Märchens ging in Erfüllung.
Das ist natürlich Quatsch!
Das war vielleicht vor fünfzig Jahren so, als es noch Schreibtischschubladen gab und sich Schriftstellerinnen und Schriftsteller abends im Literaturcafé trafen. Heutzutage liegen diese Geschichten in Unterordnern auf Festplatten. Und Feen ... sprechen wir nicht von Feen.
Die Märchen in diesem Buch mussten nicht aus verklemmten Schubladen befreit werden, sie waren schon auf den Poetry- Slam- und Lesebühnen der Welt unterwegs – der deutschsprachigen Welt (inklusive Goethe-Institute). Sie wurden von vielen Menschen gehört. Nun sind sie in diesem kleinen Büchlein versammelt. Das ist schön, aber auch ein bisschen schade, denn eigentlich müsste man die Märchen hören. Denn sie wurden weitergegeben, wie es sich für ein anständiges Märchen gehört: mündlich. Also: Lesen Sie sie bitte laut. Auch unterwegs. Im Park. In der U-Bahn. Im Wartezimmer Ihres Zahnarztes.
»Aber es gibt doch schon so viele Märchenbücher!«, rufen Sie jetzt vielleicht entsetzt aus. »Die Grimms, der Musäus, der Andersen, Brecht, Hesse, Wondratschek!«
»Ja!«, rufe ich da freudig zurück – auch weil Sie so viele Dinge wissen. »Es gibt aber auch ganz viele Krimis und Liebesschnulzen.« Und jede Generation hat ihre Märchen. Kaum ein Schriftsteller, der nicht Märchen geschrieben hat. Das geht den Poetry- Slam- und Lesebühnen-Autorinnen und -Autoren nicht anders.
Und wenn es in den letzten Jahren einen Boom gab, dann einen Märchenboom. Jedes Märchen, das nicht bei drei hinter den sieben Bergen ist, wird von Hollywood verfilmt, manchmal gleich mehrmals: Schneewittchen, Aschenputtel, die Schneekönigin, die kleine Meerjungfrau, Jack und die Bohnenstange, die Shrek-Serie (voller Märchen), Hänsel und Gretel (jagen Hexen), die Brothers Grimm (jagen auch Hexen). Mein Lieblingsmärchenfilm ist ja Into the Woods nach dem Musical von Stephen Sondheim. Ja, da wird auch gesungen. Es ist ein Musical! Aber ich schweife ab. (Und vom Fernsehen fange ich gar nicht erst an.)
Was ich sagen will:
Machen Sie es sich gemütlich! Brauen Sie sich einen leckeren heißen Tee. Kuscheln Sie sich mit einer warmen Decke aufs Sofa. Im iPod läuft vielleicht gerade »Hänsel und Gretel« von Engelbert Humperdinck, auf dem Tisch brennt eine Duftkerze mit Zimtaroma.
Na dann …
Viel Spaß in der Märchenwelt!
Ihr Herausgeber
Micha Ebeling
Ausflug nach Irgendwo
Schreiben! Ach ja, schreiben! Das muss man in Kaffeehäusern. So haben es schon die Alten gemacht. So hat es Gilgamesch gemacht, so haben es Moses, Konfuzius, Homer, Sokrates, Jesus, Mohammed, Luther, Karl Marx, Karl Kraus und Charlotte Roche gemacht. So würde ich es auch machen. Das war schon so ziemlich alles, was ich darüber wusste. Aber da ich nun mal unwiderruflich beschlossen hatte, Märchenerzähler beziehungsweise Schriftsteller zu werden, klammerte ich mich an diesen Strohhalm und suchte von Zeit zu Zeit eines dieser Etablissements in der näheren Umgebung auf. So auch an jenem denkwürdigen Tage. In einem Seitengässchen des Scheunenviertels stieß ich unversehens auf das Café Schwester Käsetraut. Dies dünkte mich ein seltsamer Name. Doch dafür war’s zu meinem Glücke leer wie gefeget. Ich begab mich in die hinterste Ecke und bestellte eine mit Sahne verfeinerte Melange, die zu servieren man sich hier erbot. Dazu eine gedrittelte Schorle aus süßem Quittensaft, bitterem Rhabarbersud und Gänsefurther Gänsewein. Die belebenden Mixturen kamen in dem Augenblicke daher, da ich mich anschickte, mein Notizbüchlein aufzuklappen. Ich nippte von der Schorle und schloss ob ihrer Köstlichkeit die Augen. Als ich meine Augen wieder öffnete, war es passiert. An meinen Tisch hatte sich ein Mann gesetzt. Ein fremder, aber zweifelsohne ein schöner. Eine Mischung vielleicht aus Armin Mueller-Stahl und Sean Connery. Ich mochte ihn sofort, obwohl mir augenblicklich klar war, dass ich nun nicht mehr zum Schreiben käme. Er bestellte eine sehr teure, alte Weinsorte, einen 64er Bordeaux Château Branaire-Ducru, der mit Sicherheit nicht vorrätig war. Aber anstandslos brachte die Kellnerin den Wein, hielt ihm die Flasche vor die Kennernase, und mit einem freundlichen Nicken forderte er sie auf, die Flasche zu öffnen. Als ich das leicht angestaubte Etikett erblickte, durchschauerte es mich. Es war tatsächlich ein echter Branaire-Ducru aus dem Weingut von Saint-Julien. Vorsichtshalber überflog ich heimlich die Weinkarte, aber ich hatte recht, diese Sorte war nicht verzeichnet. »Für Sie auch ein Gläschen?«, fragte er mich. »Ja, gern«, war alles, was ich sagen konnte. Er nickte der Kellnerin diskret zu, sie entfernte sich mit einem unmerklichen Augenzwinkern, und er schenkte uns selbst ein. Dann holte er ein goldenes Etui aus seiner Jackettinnentasche und bot mir von seinen Zigaretten an, auf deren Mundstück ein Wappen und – vermutlich – seine Initialen gedruckt waren. Leicht verwirrt nahm ich dankend an.
»Sie schreiben?«, begann er leise und nahm sein Glas in die Hand. »Bitte, trinken Sie, der Wein ist recht gut!«, fuhr er fort, als er mein Zögern bemerkte. Ich bin wahrlich kein Weinkenner, aber dieser Wein war wirklich gut. »Ja«, sprach ich nun meinerseits, »ab und zu schreibe ich Geschichten.« Er lachte ein schönes Lachen. Ich fasste etwas Mut und sagte: »Wer sind eigentlich Sie, wenn ich mal so fragen darf?« – »Sie dürfen, junger Mann, Sie dürfen. Aber Sie würden es nicht verstehen, wenn ich es Ihnen sagte. Sagen wir mal, ich bin ein Freund, von dem Sie nichts wissen, der aber dennoch existiert.« – »Ei, da schau her! Ein Monsignore Geheimnisvoll. Und nun?« Ich sah ihn ratlos an. »Und nun«, sagte er etwas gedehnt, »nun haben Sie mir das Stichwort schon geliefert. Weil ich Monsignore Geheimnisvoll bin, wie Sie es etwas salopp auszudrücken pflegten, werde ich Sie auch in ein Geheimnis einweihen. Kommen Sie bitte mit!« Er stand vom Tisch auf und schritt zum Ausgang. Ich eilte ihm nach. Draußen fuhr eine Limousine vor. Der Chauffeur sprang heraus und öffnete uns den Verschlag. Ich sollte zuerst einsteigen. Mein neuer Freund nahm mir gegenüber Platz.
Wieder bot er mir eine seiner erlesenen Zigaretten an. Ich versuchte, sein Monogramm zu entschlüsseln. Vermutlich waren es die Buchstaben M, G und E, aber genau sehen konnte ich’s nicht. Nachdem wir geraucht hatten, bremste der Fahrer sanft ab und brachte den Wagen zum Halten. Als wir ausstiegen, blendete mich die Sonne. Wir befanden uns auf einem großen Platz voller Menschen, die an Tischen saßen, die von riesigen Sonnenschirmen beschattet wurden. Eifrige Kellner brachten in einem fort Getränke auf großen Tabletts daher. Jedoch herrschte eine unglaubliche, ja nahezu unheimliche Stille. Wir setzten uns an einen der Tische in der Nähe der Treppe, die zu diesem Restaurant führte, aus dem endlose Scharen unermüdlicher Kellner zu den anscheinend ewig durstigen Gästen strömten. »Was machen die alle hier?«, fragte ich meinen Monsignore. »Schauen Sie einmal genau hin!«, forderte er mich auf. Ich beschattete meine Augen und sah auf die Menge. Huch! Was war das denn – in drei Bertrams Namen? Vor wirklich jedem Gast lagen Stapel von Papier, und alle hielten einen Gänsekiel in der Hand, den sie ab und an in ein offenbar nie versiegendes Tintenfässchen tauchten. »Was denn«, spöttelte ich, »etwa alles Schreiberlinge?« – »Hm, hm«, bestätigte er gutmütig brummend. »Und was ist nun das großartige Geheimnis?«, platzte ich etwas ungeduldig heraus. Er lächelte sein rätselhaftes Lächeln und sagte: »Schauen Sie noch einmal genau hin! Fällt Ihnen nichts auf?«
Ich kniff die Augen zusammen. Auweia, was machten die denn da? Immer wieder steckten die Leute ihre Finger in den Mund und saugten daran. Saugten, kauten, schluckten und schrieben. Manchmal spuckten sie auch in einen Behälter neben sich, der regelmäßig, so wie sonst die Aschenbecher, von den Kellnern geleert wurde. »Ja, mein Lieber«, sagte mein Gegenüber, »hier saugen sich die Schriftsteller der ganzen Welt und aus allen Epochen die Geschichten, Gedichte, Romane oder was auch immer aus den Fingern. Aber nicht nur sich selbst, schauen Sie nur, dort drüben!« Vier bärtige, zerlumpte, alte Männer hatten sich gerade an den Nachbartisch begeben und saugten kräftig aus den Fingern eines offensichtlich kokainsüchtigen und unter Wahnvorstellungen leidenden jungen Mannes. »Das da sind beispielsweise die vier Evangelisten, die gerade Sigmund Freud aussaugen«, erklärte mir mein Freund. »Hier saugt jeder bei jedem, was das Zeug hält. Hier gibt es keine Grenzen von Zeit und Raum. Aber man fängt normalerweise bei sich selbst an zu saugen, dann folgt eine wilde Zeit, und später kommen die meisten wieder auf ihre eigenen Finger zurück, jedoch nicht ohne endlose, exzessive Saugorgien zelebriert zu haben. Versuchen Sie es nur auch einmal, junger Freund!« Ich kam mir etwas lächerlich vor. »Das geht doch gar nicht!«, widersprach ich. »Doch«, sagte der Geheimnisvolle, »hier an diesem Ort geht es und kann es ein jeder.« Vorsichtig steckte ich den kleinen Finger zwischen die Lippen. »Nur zu, nur zu, saugen Sie!«, ermunterte er mich. O Gott, ich fühlte, wie der Finger hohl wurde wie eine Patronenhülse. Und dann kam etwas heraus. Ich kaute. Es schmeckte nach nichts. Ich schluckte. Es war ein Substantiv, es war das Wort »Brunnen«. Ich schob jetzt Ring-, Mittel- und Zeigefinger in den Mund und saugte stärker. Einen ganzen Satz saugte ich mir aus den Fingern: »Ein jeder trinke aus seinem eigenen Brunnen.« Ich war verblüfft. »Und so«, fragte ich, völlig aus der Fassung geraten, »schreiben die Literaten aller Länder und aller Zeiten ihre Werke?« Er nickte und stand auf. »Ich lasse Sie jetzt ein bisschen allein. Saugen Sie sich ordentlich was aus den Fingern. Ich hole Sie später wieder ab, wenn die Sonne untergegangen ist.« Er winkte einem Kellner, der augenblicklich eine Flasche Wein brachte. Einen 64er Bordeaux Château Branaire-Ducru. Soso, dachte ich, irgendwie hängt doch alles im Leben zusammen. Nur wie es zusammenhängt, das kriegt man leider nicht immer raus. »Das stimmt«, sagte der Mann, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Aber nun versuchen Sie mal, was aus ihren Fingern herauszukriegen. Und trinken Sie ordentlich Wein dazu, denn nicht alles, was man sich so raussaugt, lässt sich auch verdauen. Und scheuen Sie sich nicht«, fügte er noch hinzu, »Unbrauchbares in den Kübel zu spucken, das macht hier jeder so.« Dann ging er. Eine Weile saß ich sprachlos da. Und plötzlich kam es über mich. Ich begann zu saugen wie ein Irrer. Aus jedem Finger kam etwas anderes heraus. Mit einem Mal hatte ich auch einen Stapel leerer Blätter vor mir, und ein Kellner brachte mir Feder und Tinte. Ich schrieb, als ritte mich der Lollemann. Die Stunden vergingen wie im Flug. Langsam machte sich die Sonne auf den Heimweg. Als ich kurz aufblickte, bemerkte ich, wie sich zwei verwegene Gestalten auf mich zubewegten. »Verzeihen Sie, mein Herr, ist bei Ihnen noch etwas frei?«, frug mich der erste. »Aber bitte, setzen Sie sich doch!«, freute ich mich über meine erste Bekanntschaft. »Sie sind neu hier?«, hub nun der andere an, der übel roch. Der erste griff nach meiner Hand. »Sie haben ausnehmend schöne Hände«, versuchte er, mir zu schmeicheln, und wollte meine Hand an seinen Mund führen. Angewidert zog ich sie zurück. »Es wird Zeit zu gehen, junger Freund!«, sagte unvermittelt eine liebevolle, aber starke Stimme hinter mir. Erschrocken sprangen die beiden Story-Schnorrer auf. Sich den Geifer von den Lippen wischend, suchten sie das Weite und verschwanden hurtig in der Menge. Mein geheimnisvoller Freund schien hier eine gewisse Autorität zu genießen. »Das eben waren übrigens die Gebrüder Grimm, raffgierige Fremdsauger der übelsten Sorte«, sagte er schmunzelnd und geleitete mich zum Wagen. Schweigend fuhren wir zurück. Ich bemerkte, dass man aus dem Wagen nicht hinausschauen konnte. Und zu spät bemerkte ich, dass ich sämtliche Aufzeichnungen zurückgelassen hatte. Als er mich an dem Ort unserer Begegnung aus dem Wagen steigen ließ, sagte er mit seiner warmherzigen Stimme noch: »Ich habe dir nicht gezeigt, wie du an diesen geheimnisvollen Ort gelangen kannst, aber ich habe dir gezeigt, dass es ihn gibt. Versuche nun selbst, den Weg dorthin zu finden!« Durchs offene Fenster reichte er mir noch eine letzte von seinen edlen Zigaretten. Erst jetzt fiel mir auf, dass die drei auf der Zigarette aufgedruckten Buchstaben – M G E – meine eigenen Initialen waren …
Ahne
Das Märchen von der Verliebten und wie es ihr geschah
Es war einmal eine Verliebte, die lebte in einem schönen Haus. Das Haus hatte einen Garten und ein Fenster und eine Hundehütte vor dem Haus. Dort lebte ein schöner Hund, der auf den Namen Hundi hörte. Hundi aß am liebsten Austern, aber weil die so teuer waren, kriegte er immer bloß Hundefutter. Deshalb wurde er depressiv und knurrte kaum noch. Eines Tages kam ein Verbrecher an dem schönen Haus vorbei und beschloss zu diebstehlen. Er stülpte sich eine Maske über, eine Manuel-Neuer-Maske, und kletterte in einem Satz über den Stacheldrahtzaun. Er war Parkour-Weltmeister, deshalb bereitete ihm das keinerlei Schwierigkeiten. Der Hund sperrte zwar ein Auge auf, aber es war ihm scheißegal. »Einbrecher, na und? Wenn man jeden Morgen und jeden Abend denselben widerlichen Fraß vorgesetzt bekam? Das hatte sie nun davon, die doofe Verliebte.« Hundi war stinkig, er hatte mit seinem Leben als Wachhund endgültig abgeschlossen.
Der Verbrecher dagegen hüpfte, wie er das in der Verbrecherschule gelernt hatte, mucksmäuschenleise durch den Garten, auf das schöne Haus zu. Er klimmte mit einem einzigen Klimmzug,