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Samir, genannt Sam
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eBook298 Seiten3 Stunden

Samir, genannt Sam

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Über dieses E-Book

Temporeich, authentisch und unverschämt erzählt Mano Bouzamour von einer Jugend im Einwandererviertel von Amsterdam.

Auf einem gestohlenen Flügel spielt Samir, genannt Sam, morgens klassische Musik, beim Freitagsgebet in der Moschee kämpft er mit Fantasien von blonden, nackten Teufelinnen, im Geschichtsunterricht träumt er von Rache für die mutige Anne Frank, am glücklichsten ist er jedoch, wenn er nachts mit seinem geliebten Bruder auf der Vespa durch Amsterdam brausen darf. So wächst Sam als Sohn marokkanischer Einwanderer im bunten De-Pijp-Viertel heran, bis sein großer Bruder, der von Betrug und Diebstahl lebt, verhaftet wird und für sechs Jahre in den Knast muss. Doch Sam verspricht ihm, allen Widerständen zum Trotz den Schulabschluss im bürgerlichen Elitegymnasium zu schaffen, und meistert ein Leben voller Kontraste mit viel Witz und Frechheit.
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum1. Juni 2016
ISBN9783701745319
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    Buchvorschau

    Samir, genannt Sam - Mano Bouzamour

    Frank

    Prolog

    Mann, Maria voller Gnade, ich darf aufs Gymnasium, verdammt noch mal. Mein Bruder und ich liefen gut gelaunt zwischen rauchenden Jugendlichen die Eingangstreppe der Schule hinunter, wo ich gerade mein Kennenlerngespräch geführt hatte. Weil meine bescheuerte Grundschullehrerin mir nur eine Hauptschulempfehlung gegeben hat, obwohl ich laut Abschlusstest fürs Gymnasium geeignet bin, sollte ich mit einem Elternteil zum Gespräch kommen. Dann wollten sie entscheiden, ob ich aufs Gymnasium durfte oder nicht. Wie immer bei Schulgesprächen war mein Bruder dabei.

    Eine Niederländischlehrerin nahm mich ins Kreuzverhör. Hätte nur noch gefehlt, dass sie mich an den Stuhl fesselt. Eine Dreiviertelstunde später schloss sie mit der Frage: »Versprichst du mir, dir wirklich Mühe zu geben, wenn du hier bei uns einen Platz bekommst?«

    »Aber selbstverständlich.«

    Sie hatte zu meinem Bruder geschaut, der neben mir saß.

    »Sie haben das auch gehört? Sehr schön. Dann habe ich ja einen Zeugen. Sorgen Sie dafür, dass er Wort hält?«

    »Wie ein Gefängniswärter, da können Sie ganz beruhigt sein. Die nächsten sechs Jahre gehört er mir.«

    Mein Bruder legte mir seine warme Hand in den Nacken. Wir überquerten die Straße und gingen zu Soussi, dem engsten Freund meines Bruders, der auf dem Bürgersteig auf uns wartete. Er saß auf seiner eigenen Vespa, die Füße aber hatte er auf den Roller meines Bruders gestellt. Mein Bruder flüsterte: »Tu so, als wärst du ganz geknickt«, und dann rief er Soussi zu: »Nimm die Flossen von meinem Roller!«

    Soussi sprang auf, als er uns sah. Er sprach platteren Amsterdamer Dialekt als der Schlagersänger André Hazes. »Hier an der Schule laufen echt klasse Weiber rum, Alter. Und? Was hat se gesagt? Wie lief’s? Haste nen Platz gekriegt?«

    Ich spielte mit dem Schirm meiner verkehrt herum aufgesetzten roten Lacoste-Kappe, aus der meine Tolle wie eine hohe Welle aufragte, seufzte tief und sagte: »Nee, Mann.«

    »Nee? Echt jetz?« Er sah meinen Bruder an: »Soll ich denen mal Bescheid stoßen? Willste das? Ich geh da gleich mal rein, mir doch egal, das macht mich noch ganz meschugge!«

    Soussi klappte die Sitzbank seines Rollers hoch, steckte den Kopf halb ins Staufach und wühlte darin herum.

    Mein Bruder fragte: »Was hast du vor? Dem Direktor ins Bein schießen?«

    »Wenns sein muss.«

    »Ach, hör doch auf.«

    »Es sind doch alles nur miese Faschos. Wäre ich bloß mitgekommen, aber nee: ›Wart mal kurz‹, war die Ansage. Ihr schämt euch wohl für mich!«

    »Sam hat einen Platz bekommen.«

    Soussi schaute auf.

    »Echt?«

    Ich nickte eifrig.

    »Wusst ichs doch! Ich hab euch gleich durchschaut. Komm mal her, Kleiner.« Er umarmte mich und sagte: »Das muss gefeiert werden, gehn wir Eis essen?« Soussi schielte schelmisch auf eine Gruppe fröhlich hüpfender Sommerkleider, wahrscheinlich Abiturientinnen, angesichts der Tatsache, dass sie über alle weiblichen Attribute verfügten. »Kannste gleich mal mit dem Eis üben, hier an der Schule wirste die nächsten Jahre garantiert ne Menge lecken, das sag ich dir.«

    »Bäh«, sagte ich.

    »Der muss die nächsten Jahre einen Keuschheitsgürtel tragen. Dann kann er sich auf die Schule konzentrieren, stimmt’s, Sam?«

    Soussi ignorierte meinen Bruder und schaute mich an: »Bäh? Magst du kein Eis?« Jetzt erst wandte er sich an meinen Bruder: »Dir sollte man sonen Keuschheitsgürtel oder was umschnallen. Möchte ja gern wissen, wann dein Schwanz mal schlappmacht.«

    »Dafür sollte man dich lebenslang in eine Zwangsjacke stecken, Soussi. In die Geschlossene gehörst du, aber echt. Du wolltest dich gerade an einer unschuldigen Lehrerin vergreifen.«

    »Keiner ist unschuldig. Lehrer schon gar nicht. Wozu wären sie sonst Lehrer? Für Sam ist son Keuschheitsgürtel trotzdem ne geile Idee.«

    »Mann, du bist so versaut«, sagte mein Bruder.

    »Selber.«

    »Kein Wunder, dass du immer nur deine rechte Hand vögelst.«

    »Du kennst mich schon dein ganzes mickriges Leben, du Penner, ich wichse mit links. Aber jetz mal Klartext, wo geht’s hin? Pisa oder Venezia?«

    »Sam darf es sich aussuchen, heute ist sein Tag.«

    »Fahr bei mir mit, kleiner Tiger«, sagte Soussi, »erzähl ich dir ne krasse Geschichte von deiner zukünftigen Schule.«

    Ich stieg hinten auf und sagte: »Bei Venezia schmeckt es ekelhaft. Ich will zu Pisa.«

    Während wir über den Stadionweg fuhren, drehte sich Soussi immer wieder zur Seite und erzählte mir, im Zweiten Weltkrieg sei der Direktor des Hervormd Lyceum Zuid ein mieser Landesverräter gewesen, ein Faschist. Und dass ich aufpassen sollte, vielleicht wäre der jetzige Direktor ja sein Enkel.

    »Weißte, was du machst? Du findest raus, ob ers is, und wenn ja, dann fackeln wir sein Auto ab. Mit ihm drin, logo.«

    Soussi war der Geschichtsexperte schlechthin und total fasziniert vom Zweiten Weltkrieg. Er arbeitete schon seit Jahren für einen bekannten Händler auf dem Albert-Cuyp-Markt. Sein Chef, Benjamin der Jude, erzählte ihm bei der Arbeit faszinierende Geschichten über den Holocaust.

    Soussi war ein Marokkaner, der aussah wie ein Neger. Seine Eltern kamen aus Ouarzazate, der Hauptstadt der Provinz Ouarzazate im Süden Marokkos, wo die Sonne die Bevölkerung schwarzgebrannt hat und sich die großen Filmstudios befinden. Viele Hollywood-Regisseure haben ihre Wüstenszenen dort gedreht. Soussis vier Lieblingsfilme, Gladiator, Königreich der Himmel, Lawrence von Arabien und Star Wars sind alle dort entstanden. Manchmal frage ich mich, ob es auch seine Lieblingsfilme wären, wenn man sie woanders gedreht hätte. Egal.

    Hin und wieder lugte Soussis neues Tattoo aus dem Kragen seines Ajax-Trikots heraus: »Mokums Stolz« – Mokum ist der jüdische Spitzname von Amsterdam.

    Soussi hatte einmal gesagt: »Mokum liegt mir mehr am Herzen als meine eigene Mutter.«

    Zum Spaß sagte er, dass er sich die drei kleinen Kreuze des Stadtwappens, die auch auf den Straßenpollern waren, auf den Schwanz tätowieren lassen wolle. Damit die Mädchen, die er vögelte, gleich wüssten, mit wem sie es zutun hatten.

    Beim Hotel Okura in der Ferdinand Bolstraat fuhren wir neben meinem Bruder her. Tapfer und unerschrocken saß er auf seiner roten Vespa. In seinem flatternden T-Shirt von D&G, das sich aber straff um den Bizeps legte. Wegen der strahlend hellen Sonne sah man Reliefs auf seinen muskulösen Armen; Schatten, die alle Konturen betonten und gut zur Geltung brachten. Sogar seine Hände waren sehnig. Das lag daran, dass er so viel auf unserem Flügel spielte. An einem Handgelenk hing eine Ansammlung von Armbändern, am anderen eine Uhr, die funkelte wie die Lichtspiegelungen auf der Amstel. Es war eine speziell für Tiefseetaucher entworfene Rolex Submariner aus Gold und Stahl. »Schack Kusto-Uhr« nannte Soussi sie, gefolgt von »Wusstest du schon …?« Und dann erzählte er, dass Kusto nach dem Zweiten Weltkrieg die von den Moffen heimlich als Geschenk für die Alliierten in den französischen Häfen verteilten Seeminen, die nicht explodiert waren, entschärft hatte.

    Mein Bruder arbeitete bei Hello Sushi, in einer Seitenstraße des Albert-Cuyp-Markts. Wegen der ununterbrochenen Zufuhr schöner Mädchen, die er zum Essen dorthin zitierte, war sein Chef ganz versessen auf ihn und trug sich schon mit Expansionsplänen. Bei Sushi drehen die Mädchen einfach durch.

    Von seiner Schicht brachte mein Bruder immer kistenweise Essen mit: California Rolls, scharfe Thunfisch-XL-Rollen, Lachs Teriyaki, Edamame Bohnen und knusprige Handrollen mit Tempura-Garnele.

    Mit erhobenem Kinn fuhr er durch Amsterdam, als würde die Stadt ihm gehören. Hin und wieder zwinkerte er mir zu. Dann blinzelte ich zurück, total verkrampft und überhaupt nicht so mühelos wie er. Alles, was mein Bruder machte, wirkte lässig und ging mit einer ordentlichen Portion Selbstbewusstsein einher: wie er fremde Mädchen anquatschte, wie er seine Freunde im Griff hatte, schwierige Fragen beantwortete, Roller fuhr, ja, sogar wie er zu Fuß ging! Ich imitierte ihn so gut wie möglich, doch es wollte mir einfach nicht gelingen. Ab und zu blies er mir ein Kusshändchen zu, das ich krampfhaft abwehrte.

    Bei der Brücke über die Jozef Israëlskade stand ein alter Mann und fütterte Tauben. Er trug einen schäbigen Wintermantel, obwohl es Juni war. Immer sind es die zerlumpten Gestalten, die an die Tauben denken, nie die geleckten Typen in den Maßanzügen. Um die Enten in der Jozef Israëlskade zu erfreuen, warf der Mann Brot hinunter. Na ja, eigentlich enttäuschte er sie eher, denn ratzfatz kamen diese verdammt großen Möwen herbeigeflogen, wie eine Art Nazi-Adler. Wie kreiselnde Sturzbomber schnappten sie den Enten das Brot aus der Luft weg. Als wir vorbeiflitzten, flatterten tausende Tauben um uns herum, manche flogen sogar ein Stück neben uns her. Ich fand es sehr schön, aber Soussi nervte es ziemlich.

    »Fliegende Ratten!«

    »Nee, Turteltäubchen!«, schrie ich.

    »Gleich scheißen die uns noch voll!«

    »Das bringt Glück!«

    »Quatsch!«

    Die Sonne schien durch ihre zarten Flügel und eine Taube, die ganz dicht neben mir flog, hatte herunterhängende gekappte Füße, wie ein Landegestell mit Produktionsfehler. Die Taube legte die Füße eng an, als würde sie sich schämen. Am schönsten fand ich aber das Geräusch, das sie beim Aufsteigen machten, das Flattern der Flügel, mit denen die Tauben sich wie Schwimmer im Schmetterlingsstil gierig nach oben schraubten, sodass es aussah, als würden sie in der Luft ertrinken.

    Dann geschah etwas sehr Trauriges.

    Ein Auto vor uns hupte, aber zu spät. Es erwischte eine Taube. Das Rumpeln des Autos über den plattgefahrenen Vogel brachte meinen Bruder und Soussi dazu, am Tatort zu halten. Das schuldige Auto fuhr weiter, und bei jeder Umdrehung des Rads wurde ein Klumpen roter Metzgereiabfall sichtbar. Stumm betrachteten wir die Überreste der Stadttaube und die wie Trauerblumen auf der Straße verteilten Federbüschel. Der schäbige Typ kam auch herbei.

    Soussi unterbrach unser Schweigen. »Ah, das war bestimmt eine Brieftaube.«

    Der Vogelfütterer sah ihn eindringlich an. Dann warf er sich zu Boden und fing an zu singen, während er sich an der zerplatzten Taube zu schaffen machte, als wollte er sie für die Bestattung herrichten.

    Schubse doch nicht so, Täubchen Drängele nicht so, Täubchen

    Hab noch ein bisschen Geduld

    Pick mir nicht in die Hände

    Sind so bescheuert am Ende

    Ach, was bist du in schöne Farben gehüllt

    Er summte sein Lied, nahm die abgeknickten Flügel mit den Fingern, spreizte sie und fächelte sanft damit herum. Mein Bruder sah mich an, ich sah Soussi an, und in diesem einen Moment der Unachtsamkeit riss der Mann der Taube mit einem Ruck die Flügel vom Rumpf. Wir sahen ihm entgeistert zu, wie er sie in die Innentasche seines zerschlissenen Mantels steckte. »Es gibt welche, die sammeln Briefmarken, ich sammle Flügel.«

    Er lächelte stillvergnügt und wollte uns die Hand geben, wahrscheinlich, weil er es so nett fand, dass wir der Taube die letzte Ehre erwiesen hatten.

    Seine ausgestreckte Hand mit den in Vogelblut getunkten Fingerspitzen blieb zwischen uns in der Luft hängen.

    Stellvertretend für uns alle sagte Soussi: »Die Klauen behältste mal hübsch bei dir, Alter.«

    Der Mann trollte sich, ging am Ufer entlang und verschwand. Verstohlen lachend setzten wir unseren Weg fort, wir konnten nicht fassen, was gerade passiert war. Mein Bruder vorneweg, wir hinter ihm her. Bei der ewig verstopften Kreuzung der Scheldestraat und der Churchilllaan standen wir endlos lange an einer Ampel. Nichts rührte sich, als wollte auch der Verkehr der gefallenen Taube gedenken. Die Radfahrer standen mit den Füßen am Boden da, die Fußgänger drückten ungeduldig auf den Ampelknopf, die Autofahrer spielten mit der Kupplung und rollten immer wieder ein Stückchen vor. Genau gleichzeitig, als hätten sie sich telepathisch verständigt, schossen Soussi und mein Bruder als Einzige über die Kreuzung, rote Ampel hin oder her – mir gab es einen Ruck nach hinten.

    »Halt dich an meinen Speckrollen fest, Tiger.«

    Danach fassten auch die anderen plötzlich Mut und alle schoben sich kreuz und quer über die Straße. Mein Bruder und Soussi waren echte Vorkämpfer, ihr Verhalten war faszinierend und ansteckend, es verlieh ihnen Glanz. Beide tanzten aus der Reihe, als würden sie von einem besonderen Lebenslicht beschienen.

    Langsam fuhren wir durch die Scheldestraat. Dort fielen einem als Erstes die bunten Schilder an den Läden auf, manche einladend, andere abstoßend. Doch wenn man genauer hinschaute, merkte man, dass es eine Ganovenstraße war. Zwielichtige Gestalten aus der Oberund Unterwelt saßen gemeinsam vor den Lokalen an einem Tisch, aßen zusammen, stießen auf ihre neuen Projekte an und trotzten der Krise mit einem Grinsen im Gesicht.

    Soussi überholte genervt eine Radfahrerin und maulte: »Mach voran, du Fotze!«

    Dann sah er sich auffällig nach dem Imbissladen Sal Meijer um, wo ein Mann mit Kippa wie ein Torwächter neben der offenen Tür stand. Über ihm ein einladendes Aushängeschild mit drei hebräischen Buchstaben darauf. Wahrscheinlich stand da Sal. Doch ich wollte es genau wissen, also zeigte ich hin und fragte Soussi, was dort wirklich stehe.

    »Koscher«, erklärte er. »Du weißt ja, dass die Juden nicht alles essen dürfen. Und die drei Buchstaben heißen, dass sie sich hier getrost den Bauch vollschlagen dürfen. Und wir halbe Muslime also auch.«

    Soussi winkte: »Hey, Hebräer, bin gleich bei dir!«

    Der Torhüter hob den Daumen.

    »Ich hab in dem Laden anschreiben lassen. In der Pause hole ich da immer Brötchen mit Pökelfleisch und Leber für Benjamin und mich. Der Hebräer schaut alle elf Sekunden raus. Und die Tür steht immer sperrangelweit offen, auch im Winter.«

    Mein Bruder manövrierte sich neben uns und fragte: »Warum? Hat er Angst, dass auf der anderen Straßenseite ein Marokkaner mit einem Granatwerfer auf der Schulter steht?«

    »Nee«, lachte Soussi, »der wartet auf den Messias. Ohne Scheiß. Immer steht da ein Stuhl für ihn, damit er sich gleich zum Essen hinsetzen kann. Und jedes Mal, wenn ich hingehe, klopfe ich an und sag, der Messias ist da.«

    Unter Bäumen mit abblätternder Borke befand sich in einer Art Kiosk der Eissalon, davor eine lange Schlange langweiliger, sommerlich gekleideter Paare.

    Nach einer Viertelstunde waren wir dran. Die gut gelaunte Frau hinter den Behältern mit buntem Eis sagte: »Bongiorno, was kann ich für euch tun?«

    »Bon-was?«, fragte Soussi. »Wir sind hier in Mokum, Schätzchen, tu lieber was für dich und sprich Niederländisch. Oder hab ich etwa ›Schalom Aleikum‹ gesagt?«

    Mein Bruder schaute ihn verärgert an.

    »Tut mir leid. Das müssen wir sagen. Mein Chef meint, es gibt dem Ganzen italienisches Flair.«

    »Wo ist er denn, dein Chef?«

    Mein Bruder seufzte, weil Soussi immer weiter laberte.

    »Im Urlaub, in Italien.«

    »Mann, hat der’s gut. Sam, was willste?«

    Schließlich entschied ich mich für eine Waffel mit fünf Kugeln Schokoeis und Schlagsahne, Nüssen, Streuseln und Karamellsauce.

    Mein Bruder orderte einen Becher Joghurteis mit halben Erdbeeren und Bananenscheiben.

    »Mit Sahne?«

    »Ohne.«

    Soussi nahm eine Waffel mit drei Kugeln. Zimt, Backbirne und Amaretti. »Und wenn schon Italienisch, kipp Amaretto drüber. Por favor

    »Das ist Spanisch, auf Italienisch heißt es per favore

    »Und tuste mich dann auch noch verbessern?«

    Soussi wollte zahlen, doch da kam ihm wieder die Frau zuvor. Amüsiert zeigte sie auf einen Aufkleber: Da stand »Dafür haben wir leider kein Wechselgeld« auf dem Hintergrund eines lila Fünfhunderter-Scheins.

    Ungläubig drehte sich Soussi einmal um die eigene Achse und sagte: »Was bist’n du für ne Meckerziege.«

    Mein Bruder steckte die Hände in die Taschen und zog einen ganzen Stapel lila Scheine hervor.

    Beide sahen mich an. Ich stülpte meine Taschen um, ein Stoff fussel fiel heraus.

    Hinter uns fragte ein Herr mit schütterem Haar in Socken und Sandalen: »Wird’s bald? Hier werden doch keine Wohnungen verkauft!«

    Soussi sah ihn auf seine typische Soussi-Art an, jungenhaft und provozierend, was in zehn von zehn Fällen hieß, dass er gleich richtig pissig werden würde.

    Die Schlange hinter uns wurde immer länger, die Leute wurden immer ungeduldiger.

    »Weißte was?«, wandte sich Soussi an die Eisverkäuferin, gab ihr den Fünfhunderter und drehte sich dann um. »Ich spendiere der ganzen Schlange ein Eis. Allen außer dem Vollidioten mit den Sandalen hier.«

    Auf dem Turm des RAI-Messezentrums stand, dass es fünfundzwanzig Grad hatte. Sonnenlicht fiel durchs Laubdach, es sah aus, als wären leuchtende Scherben auf das Klinkerpflaster gestreut. Wir saßen neben dem Eiscafé auf einer Bank, die rund um einen Kübel mit Pflanzen aufgestellt war. Soussi legte mir die Hand auf die Schulter, mein Bruder massierte mir den Nacken. Wir polierten unser Eis mit der Zunge. Ich machte immer wieder Pause, wenn ich das Gefühl hatte, mein Gehirn würde einfrieren. Gegenüber waren dicke Männer mit orangefarbenen Westen und weißen Helmen mit Straßenbauarbeiten beschäftigt. Unter uns wurden mit riesigen Bohrmaschinen Tunnel für die Nord-Süd-U-Bahnlinie gebohrt. Soussi fand die ganze Sache bescheuert. Mein Bruder meinte, neue Vorhaben würden immer für Stress sorgen. Quatsch, sagte Soussi, da würden bloß seine Steuergelder mit vollen Händen verprasst. Was er eigentlich labere, fragte mein Bruder. »Deine Steuergelder? Seit wann bezahlst du Steuern? Du arbeitest doch schwarz auf dem Albert Cuyp! Und wenn du jetzt den Mund so weit aufreißt, will ich dich nicht in der U-Bahn fahren sehen, wenn sie dann mal 2073 fertig ist.«

    Die Leute, die aus der Eissalon-Schlange kamen, grüßten Soussi einer nach dem anderen wie einen alten Bekannten und bedankten sich für seine Großzügigkeit.

    Soussi lächelte: »Ein schöner Tag heute!«

    Er betrachtete die glücklichen Gesichter und prahlte: »Tu ich glatt auch mal was für den Glauben. Almosen geben, eine der fünf Säulen des Islam. Manchmal muss man barmherzig sein. Was steht noch mal auf dem Wappen von Amsterdam? Heldenhaft? Bin ich. Entschlossen? Auch. Barmherzig? Seit heute!«

    Mein Bruder flirtete währenddessen mit einer jungen Mutter, die ihrem Kind die schmutzigen Wangen abwischte. Soussi quatschte immer weiter und ich nickte alle zehn Sekunden, damit es aussah, als wäre ich ganz bei der Sache.

    Vor ein paar Tagen war ich aus dem Schlaf gerissen worden, als mein Bruder und Soussi sich mitten in der Nacht in unser Zimmer schlichen. Der Holzboden knarrte furchtbar. Mein Bruder schaltete das Licht im Wüstenterrarium ein und ein kaum hörbares Summen erfüllte den Raum – Sis, die Wüstenschlange. Sie hing spiralförmig an einem Ast. An ihrem Bauch zeichneten sich zwei Hubbel ab: ihr Abendessen, zwei Babyratten. Mein Bruder und Soussi sahen zu mir herüber, doch ich tat, als würde ich schlafen. Mit schweren Sporttaschen kamen sie auf Zehenspitzen ins Zimmer. Soussis Strumpf hatte ein Loch, sein großer Zeh lugte heraus, der Nagel war dick wie Pappe und musste dringend geschnitten werden. So weit würde mein Bruder es nie kommen lassen, er schnitt sich die Zehen- und Fingernägel immer rappelkurz, sodass es aussah, als kaute er sie ab. Er schnitt sogar mir die Zehennägel, einmal im Monat, weil ich mich selbst nicht traute. Wie bei allem, was er tat, war mein Bruder peinlich genau. Einmal hatte Soussi mir auf der Bank in unserer Straße von Schützengrabenfüßen erzählt, die die Soldaten im Ersten Weltkrieg bekommen hatten, und seither verfolgte mich die Angst, ich würde auch welche bekommen, wenn ich mir die Zehennägel schnitt.

    Als sie sich leise in unsere Wohnung schlichen, schliefen alle: meine Eltern, meine pubertierenden Zwillingsschwestern Mina und Lina – denn wenn die wach waren, war der Rest der Straße es auch. Aber vorläufig steckten sie noch tief im REM-Schlaf und träumten, wahrscheinlich von einem coolen Typen an ihrer Schule, der sich einen Scheiß um die Lehrer scherte, sie ständig provozierte, in den Pausen öffentlich kifft e und sich nach dem Unterricht leidenschaftlich mit den Schülern anderer Schulen in der Nachbarschaft prügelte. Vater träumte zweifellos vom heißen Saharawind, der durch die Straßen seines Geburtsortes fegte und diese feinen, roten Sandkörnchen auf die Orangenplantagen und das verwahrloste Land mit Kakteen voller Kaktusfeigen herabregnen ließ. Die Felder lagen inmitten von Hügeln, auf denen unter meerblauem Himmel Olivenbäume wuchsen. Zwischen den Olivenbäumen die streitenden Landbesitzer mit Gesichtern, so zerknittert wie unordentlich gefaltete braune Papiertaschen. Ewige Bauernfehden, tröstende und heilende Bilder aus seiner Jugend in Marokko. Mutter träumte garantiert von einem gewaltig dicken Leib, langen Tafeln voller gefüllter Hühner und Gläsern gluckernden Minztees, nicht mit zwei, nicht mit vier, sondern mit sechs Löffeln Zucker. Die Arme, alle ihre Freundinnen hatten die Ausmaße von Flugzeugträgern, und sie wäre liebend gern mit der Flotte mitgefahren, doch sie blieb immer weiter zurück; sie aß, so viel sie nur konnte, war aber trotzdem spindeldürr. Einmal hatte ich sie sogar zum Hausarzt begleiten müssen, als Dolmetscher. »Sag ihr, dass sie einen sagenhaft schnellen Stoffwechsel hat, wie der Heizraum eines großen Schiffes«, jubelte der Hausarzt und fuhr fort: »Das ist sehr positiv, Frau Zafar! Die meisten, ja eigentlich alle Frauen, würden dafür einen Mord begehen.«

    Egal.

    Alle träumten, nur ich nicht.

    Mein Bruder und Soussi waren gut gelaunt. Sie stellten die Sporttaschen sachte auf den Boden und fielen sich in die Arme, dort mitten in der Nacht. Soussi wiederholte ständig »der Knaller unseres Lebens«, als wäre es ein Mantra, während mein Bruder mit schwarzen Lederhandschuhen einen prall gefüllten lila Safebag nach dem anderen

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