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Dita und die 70er
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eBook313 Seiten4 Stunden

Dita und die 70er

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Über dieses E-Book

Die 70er- ein ganz gewöhnliches Jahrzehnt?
Die goldenen 60er sind vergangen, einfach an uns vorbeigezogen. Und dennoch, besondere Ereignisse, wie Mauerbau und Prag 1968 gleiten in das nächste Jahrzehnt hinein. Mit viel Engagement lässt uns Christiane Kriebel am "Alltagsleben in Ostberlin" der 70er teilhaben. Nichts wird ausgespart. Sei es die Kulturszene der DDR, die Stasi oder aber auch nur der allgemeine "Wahnsinn" dieses Jahrzehnts, mit dem die Menschen zu kämpfen haben oder es einfach nur genießen. Ein Roman, der bei "Älteren" Erinnerungen hervorruft und "Jüngeren" zum Verständnis dient.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum26. Juni 2020
ISBN9783752905564
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    Buchvorschau

    Dita und die 70er - Christiane Kriebel

    1. Kapitel

    „Die Wölfe schleichen ums Haus, sagte ich und gähnte. „Bei uns gibt es keine Wölfe, antwortete meine Schwester ängstlich. „Doch, entgegnete ich, „Sie kommen aus dem Erdengraben und heulen die ganze Nacht den Vollmond an. Hätte Luise nur zum sternenlosen Himmel geblickt, sie hätte sofort bemerkt, dass ich wieder einmal übertrieb. Versteckt unter der Decke flüsterte sie Minuten später: „ich ersticke. Ich liebte es, unter der Decke zu liegen, so dass nur meine Nase hervor sah, dann fühlte ich mich geborgen. Oft träumte ich von einem schwarzhaarigen Schäfer, der mich mit einem Kuss sanft weckte. Allabendlich spann ich unter der Decke Geschichten. Ich sah mich als mildtätige Helferin in Angola, fuhr zu den Indianern an den Orinoko. Mein Lieblingstraum aber war, nach bestandenem Abitur Regie zu studieren. Das wäre was - Regisseurin sein und mindestens so berühmt werden wie der schwedische Regisseur Ingmar Bergman. Wie ich das in der DDR 1968 anstellen sollte, wusste ich nicht. Aber ich würde einen Weg finden. Nach dem Abitur bewarb ich mich beim Deutschen Fernsehfunk in Berlin. Mein Abgangszeugnis gefiel der Prüfungskommission nicht, die schlechten Noten in Staatsbürgerkunde und Betragen störten. Aber von meiner kreativen Seite zeigten sie sich angetan. Wochenlang war ich durch meinen kleinen Ort getigert. Mit meiner neuen Kamera, einer Exa, die sogar ein Zeiss-Objektiv hatte, fotografierte ich die wehrlosen Bewohner. Ich fotografierte die Maurer beim Richtfest, kletterte mit meinen Freunden auf den Kirchturm und fotografierte das Goethe-Schloss aus der Vogel- perspektive. Ich nahm eine Hochzeit im Altersheim auf, ich fotografierte die Bauern auf dem Feld und meine Schwester Luise bei ihrem ersten Versuch Fahrrad zu fahren. Dazu schrieb ich lustige Geschichten und schickte sie zur Prüfungskommission nach Berlin. Irgendwie muss denen das in der Hauptstadt gefallen haben. Ich wurde eingeladen, um eine Prüfung abzulegen, obwohl die Studienplätze für das Jahr 1968/69 belegt waren. Ich saß mit vielen Bewerbern tagelang in der Betriebsakademie und wurde auf Herz und Nieren geprüft. Meine Organe hatten wohl funktioniert, denn ich bekam einen Studienplatz für das Jahr 1969/70 und gehörte zu der neuen „Kader- schmiede - ausersehen, Kunst und Kultur im Fernsehen der DDR zu gestalten. „Schicken sie uns vierteljährlich Fotos, damit wir ihre Entwicklung sehen können", verabschiedete mich der Vorsitzende der Prüfungskommission des Deutschen Fernsehfunks der DDR. Da er mir tief in die Augen sah, wusste ich nicht hundertprozentig, welche Entwicklung er meinte, die meinige, die meiner kleinen Stadt oder die unserer sozialistischen Gesellschaft. Ich musste ihn so verdutzt angesehen haben, dass er noch einige erklärende Sätze hinzufügte. Bewerben sie sich in der Produktion, arbeiten sie das Jahr bis zum Studienbeginn. Voller Optimismus und Tatendrang fuhr ich nach Hause. Ja, ich wollte mich bewähren, mein eigenes Geld verdienen und meinen Eltern zeigen, dass ich nicht nur träumen, sondern auch arbeiten konnte.

    Körperliches Arbeiten kannte ich seit meiner Kindheit, jedes Frühjahr ging ich zum Rübenverziehen. Das hieß, stundenlang auf den Knien Ackerfurchen entlang zu rutschen, die kleinen Rübenpflanzen, die überzählig waren, herausziehen und möglichst nur ein Pflänzchen stehen lassen. Am liebsten nahm ich drei Reihen, das trauten sich nur die großen Jungen zu. Wenn das Geld am Abend ausgezahlt wurde, hielt ich in meinen grünen klebrigen Händen neun Mark, eine Summe, die sich sehen lassen konnte. Für das Geld kaufte ich mir diese teure Exa. Die ersten Fotos schoss ich mit schmerzendem Rücken und wunden Fingern. Gute Fotos, es hatte sich gelohnt.

    Sommer 1968.

    Meine Eltern und Luise tummelten sich an der Ostsee. Luise war mitten in der Pubertät. Pickel zeigten sich auf ihrer Stirn und ihr blondes Haar hing ihr oft strähnig in den Nacken. An der Ostsee ließ sie sich in ihrem ersten Bikini von der Sonne braun brennen, ihr Haar bleichte weißblond. Ich lag in unserem Garten. Eigentlich sollte ich die Eierpflaumen ernten, doch bei der sengenden Hitze fiel mir das schwer. Mein Vater hatte befohlen, jede Pflaume einzeln abzupflücken, vorsichtig in den Korb zu legen, und sie so wie rohe Eier zu behandeln. Er nahm wie immer alles wörtlich: Eierpflaumen. Träge stand ich auf und rüttelte müde am Baum, einige wurmstichige Pflaumen bequemten sich hinunter- zufallen. Da ich meinen Fotoapparat überall dabei hatte, stieg ich auf die Leiter und fotografierte Pflaume für Pflaume. In meinem Kopf türmten sich Gedanken. Wo sollte ich während meines freien Jahres arbeiten? In der hiesigen Brauerei? Meinem Vater wäre es recht, dann bekäme er Abend für Abend mein Deputat Bier. Es war immer noch drückend heiß und ich trank aus unserem Brunnen eiskaltes Wasser. Nach einiger Zeit des Überlegens musste ich auf unser Holzhäuschen. Durch das große Herzchen fiel genügend Licht in den Raum, so dass ich die zurechtgeschnittenen Zeitungsrechtecke lesen konnte, bevor ich sie benutzte.

    Eine Annonce fiel mir sofort ins Auge: Arbeiterinnen in der Maschinenpappfabrik gesucht! Guter Lohn garantiert. Ich spazierte von unserem Garten in den Schlossgarten, stellte mich an die Schlossmauer und sah durch den Sucher meines Fotoapparates aufs Saaletal. Am Horizont entdeckte ich verschwommen die alte Maschinenpappfabrik. Fragen kostet nichts, ich spaziere da einfach mal hin, dachte ich und ging langsam durch die Stadt nach Hause.

    In der Nacht wachte ich auf, die Wände des Neubaublocks ließen alle Geräusche durch, besonders in der Nacht. Unser Nachbar, der aus der Nachtschicht kam, hustete und ließ die Toilettenspülung minutenlang laufen. Dann ließ er sich müde in sein Bett fallen. Ich lag einige Minuten wach und grübelte, dann kam mir eine grandiose Idee. Vor meiner Bewährung in der sozialistischen Produktion werde ich ins sozialistische Ausland reisen und Fotos schießen, so wie es mir der Prüfungsvorsitzende geraten hatte. Vor meinem geistigen Auge tauchte die Silhouette Prags auf. Meine Eltern schwärmten von der goldenen Stadt an der Moldau, und was lag näher, als Fotos in dieser herrlichen Stadt zu schießen. Ach, hätte ich bloß vorher die Zeitung gelesen und nicht nur die Anzeigen, dann wäre mir einiges erspart geblieben.

    Am 17. August jenes denkwürdigen Monats des Jahres 1968 fuhr ich am frühen Morgen nach Prag. An der Grenze standen Beamte mit Spürhunden. Sie suchten nach Drogen, vermutete ich. Die Soldaten marschierten durch den Zug und schrien: „Aufstehen! Dann suchten sie unter den Sitzen, ein Hund schnüffelte unter meinem Minirock, bevor ich ihm eins auf die Schnauze geben konnte. Sie zogen weiter, klopften von unten den Zug ab. Im Abteil schwiegen alle, außer einem langhaarigen Studenten, der summte „Völker hört die Signale.

    Der Zug kam auf dem Hauptbahnhof Hlavni nadrazi an. Er wurde 1871 gebaut und hieß zuerst Kaiser- Franz-Joseph-Bahnhof, hatte mir mein Vater erzählt. Und, dass die Strecke von Wien über Prag nach Budweis führt. Nun, nach Wien würde ich nie kommen, aber meinem Vater würde ich ein Bier, ein Budweiser Bier, mitbringen, das nahm ich mir vor, als ich die Bahnhofshalle durchquerte. Es war Mittag. Die Prager essen jetzt bestimmt ihre Semmelknödel und ihren Gulasch, dachte ich hungrig. Doch das wenige tschechische Geld, das ich besaß, wollte ich für Mitbringsel aufheben. Um zu sparen, nahm ich mir vor die Stadt zu Fuß zu erobern und schritt zielstrebig in Richtung Stadtzentrum. Ein älterer Bahnbeamter zuckelte mit seiner dicken schwarzen Aktentasche unterm Arm neben mir her. Er öffnete im Gehen seine Tasche, holte eine Flasche Bier heraus und trank in kräftigen Zügen. Er zwinkerte mir zu, ich lächelte freundlich und ging weiter. Einige Straßen weiter geriet ich in eine Demonstration. Sprechchöre riefen etwas auf Tschechisch, ich zückte meinen Fotoapparat mit dem Zeiss-Teleobjektiv und fotografierte. Eine Nonne kam auf mich zu. Sie spuckte in meine Richtung. „Du Deutsche, du Faschist! Voller Scham und Wut schrie ich ihr hinterher, ich bin doch kein Faschist und leise fügte ich ein „blöde Kuh hinzu. Der ältere Bahnbeamte, der die Szene beobachtet hatte, riet mir zur Heimreise: „Es wird gefährlich werden hier in der Stadt, die Russen werden kommen und schießen mit Panzer. „Ich will nur Fotos machen, sagte ich erschrocken. Ich hatte mich während meiner Abiturzeit nur mit Algebra, nicht mit Politik beschäftigt, Zeitungen waren mir eher ein Gräuel. Deshalb wusste ich nicht, was in Prag los war. „Warum wird denn demonstriert?, fragte ich. „Wir Tschechen wollen Reformen, den Sozialismus menschlicher machen, erklärte er. „Das werden die Russen doch begreifen, bemerkte ich kleinlaut. Der Bahnbeamte zog mich in eine Nebenstraße. Wir setzten uns auf eine Bank, er nahm seine Mütze ab. Freundlich bot er mir eine Flasche Bier aus seiner Tasche an. Nachdem wir getrunken, seine Frühstücksstullen gegessen und über die Situation in Prag gesprochen hatten, fragte ich ihn: „Woher können Sie so gut deutsch? „Meine Frau kommt aus Dresden", erwiderte der Bahnbeamte. Er stand auf, klopfte sich die Krümel von seiner Uniform und verabschiedete sich. Auf dem Bahnhof kaufte ich für meinen Vater Budweiser Bier. Es war so teuer, dass ich für den Rest der Familie nichts mitbringen konnte. Meine verurlaubte Verwandtschaft kam am nächsten Tag braungebrannt von der Ostsee. Vater freute sich über das Bier, trank es genüsslich in langen Zügen.

    Die Situation in der CSSR hatte sich in der Zwischenzeit zugespitzt. Am 20. August 1968 walzten sowjetische Panzer mit Hilfe des Warschauer Paktes den „Prager Frühling" nieder.

    Ich saß im Schlossgarten und blickte auf die Saale, wieder stieg Wut in mir auf und wieder war sie mit Scham gepaart. Ich fragte mich, wieso sowjetische Soldaten, die doch Deutschland vom Faschismus befreit hatten, auf friedlich demonstrierende Menschen schossen. Am Abend saß die ganze Familie vorm Fernseher. Mein Vater trank seine Stammmarke, Apoldaer Glockenhell. Die Panzer rollten über den Bildschirm.

    Wie konnten sie so still in ihren Sesseln sitzen. „Die wollen doch nur Reformen, den Sozialismus verbessern, sagte ich vor Empörung zitternd. Meine Mutter schloss das Fenster. Mein Vater schwieg. Seine Lippen wurden immer schmaler. Nach dem vierten Bier zischte er „diese Russenschweine. „Unsere sind auch einmarschiert, entgegnete meine Mutter. „Du hast wieder mal keine Ahnung, schimpfte mein Vater. „Wieso denn? Meine Mutter ließ sich nicht so leicht einschüchtern. Was sie gesehen hatte, hatte sie gesehen. „Unsere müssen, brüllte mein Vater. „Die Russen zwingen uns. Damit war jegliche Diskussion im Keim erstickt. Ich ging ins Bett und presste mein Gesicht ins Kissen. Meine Schwester fragte leise, „kommt jetzt Krieg? „Nein", sagte ich fest.

    Im September hatte sich die Situation in Prag etwas beruhigt. Am ersten Montag des Monats im heißen Sommer 1968 wanderte ich, ein Buch in der Hand, das Saaletal entlang. Es war ein russisches Buch und hieß „Wie der Stahl gehärtet wurde, von Nikolai A. Ostrowski. Die Russen, die in Prag einmarschiert waren, lehnte ich ab. Aber Ostrowski, der in der Roten Armee im Bürgerkrieg gekämpft hatte, schwer verwundet und später gelähmt war, bewunderte ich. Seine Erfahrungen hatte er in diesem Buch niedergeschrieben. So wie sein Protagonist, Pawel Kortschagin, wollte auch ich mich durch harte Arbeit stählen und für das Gute und Sinnvolle im Leben kämpfen. Ich überquerte die Bahnschienen, lief weiter und kam zum Eingang der Maschinenpappfabrik. Im Volksmund hieß sie Knochenmühle. Voller Optimismus klopfte ich beim Kaderleiter an. Ich gab ihm den Zeitungsausschnitt und lächelte. „Oh, Sie haben Abitur. Gut, dann werden Sie die persönliche Assistentin des Direktors. Er mag Mädchen, die wissen, was sie wollen. „Nein, sagte ich, „ich will in die Produktion. Der Kaderleiter stutzte und strich sich eine graue Strähne aus der zerfurchten Stirn. „Hm, sagte er, „dann stehen Sie acht Stunden lang am Fließband oder Sie arbeiten bei den Frauen, sortieren Lumpen oder zerreißen alte Pappe. Es ist harte körperliche Arbeit, und wenn ich Ihre schmalen zierlichen Hände ansehe, eine Abiturientin passt da nicht hin. Ich dachte an Pawel, der war blind, schonte sich nicht und arbeitete für das Wohl seines Volkes. „Doch, das schaffe ich, sagte ich voller Überzeugung. „Gut, sagte der Kaderleiter und gab mir die Papiere. Während ich unterschrieb, entzifferte er den Titel meines Buches. „Sieh an, Pawel Kortschagin. Wie der Stahl gehärtet wurde. Auch er kannte das Buch, denn es war Pflichtlektüre in der Schule. „Da wollen Sie bestimmt auch in die Partei? Er lächelte mich überlegen an. „Ich würde bei Ihnen sogar Pate stehen. „Ich will nur arbeiten, sagte ich. Er nickte, gab mir die Hand und schickte mich anschließend in die Halle zu den Arbeitern. Ich sollte mich beim Meister vorstellen. Da ich ihn in seiner Meisterbude nicht antraf, fragte ich die Männer an der Maschine, aus der unaufhörlich Pappe quoll und zu meterlangen quadratischen Bögen geschnitten wurde. Sie starrten mich an, als wäre ich ein außerirdisches Wesen. Einer der Männer antwortete: „Der hilft der Kati Stoffballen aufschneiden. Er grinste und schickte mich in die Lumpenhalle. Dort fand ich ihn hinter einem Stoffballen liegend. Die rundliche Frau neben ihm lächelte mich aus graugrünen Augen an. Der Meister versuchte, die zweideutige Situation zu retten. „Diese Kerle, schimpfte er. „Kann man nicht mal in Ruhe seine Mittagspause machen …? Die Frauen vom Turbolöser, die die ganze Szene aus der Ferne beobachtet hatten, kreischten los. Mein „ich bin die Neue löste weitere Lachsalven aus. Die Frau mit den schönen graugrünen Augen sagte: „Ich bin die Kati". Der Meister zurrte seinen Gürtel zurecht. Was hatte ich mir unter Produktion vorgestellt? Ehrlich gesagt, nichts. Vierfachschichten, arbeiten bis in den frühen Sonntag hinein, unter die Maschine kriechen, den Staub wegkehren, mit dem ersten Zug nachhause fahren, den Sonntag schlafen und am Montagmorgen mit schmerzenden Gliedern in die Frühschicht fahren.

    Es gab kaum Facharbeiter, alle wollten Geld verdienen, schufteten bis zum Umfallen. Die Männer tranken am Abend ihr Bier und redeten über Frauen und Fußball. Mich beobachteten die Arbeiter am Anfang argwöhnisch, doch da ich ihnen zuhörte und ihnen ihre derben Scherze nicht übel nahm, gewöhnten sie sich an mich. Am Monatsende, wenn der Meister den Lohn auszahlte, begleitete ich Kati zur Sparkasse, damit sie ihr Geld einzahlte und nicht in die Dorfkneipe trug. Mein Idealismus hatte dem Kaderleiter gefallen. Und er hatte mich zur leistungsstärksten Brigade geschickt. Acht Stunden lang stand ich vorne an der Maschine. Aus der kam unaufhaltsam Pappe in gewünschter Stärke und Größe. Zwei Schichtarbeiter nahmen sie aus den Formen und stapelten sie auf Paletten. Ich schnürte die jeweiligen Stapel. Die Pappe schnitt mir die Finger blutig, mit dem Schnürmesser hackte ich mir am Anfang in den Zeigefinger, doch ich hielt durch und verdiente dreihundert Mark im Monat. Das war wahnsinnig viel Geld für mich. Ich ließ mir einen Minirock nähen und kaufte mir weiße Lackstiefel. Den Rest legte ich auf die hohe Kante, für schlechte Zeiten, wie mir meine Oma Tilde geraten hatte.

    Das Jahr verging wahnsinnig schnell. Beim Abschied von meiner Brigade heulte ich. Die sonst so harten Männer umarmten mich und drückten mir einen Präsentkorb in die Hand. Sie hatten für mich gesammelt. „Damit du in Berlin nicht verhungerst, verabschiedete mich der Meister und drückte mir einen langen Kuss auf die Wange. Kati begleitete mich bis zum Fluss, dort zeigte sie mir ihr Sparkassenbuch. „Mit dem Geld fahre ich mit meinem Sohn in den Urlaub, sagte sie stolz. Wir umarmten uns zum Abschied.

    Ein neuer Sommer schwebte überm Saaletal. Doch die Weiden trauerten und erzählten vom Abschied. Auch mein Vater sorgte sich um mein Wohlbefinden, stopfte mir kiloweise Gartenäpfel in den Koffer und hätte mir am liebsten noch ein Kellerregal voller eingeweckter Pflaumen, Kirschen und Erdbeeren mit eingepackt. Bevor ich nach Berlin fuhr, bemalte ich meine hellen Leinenturnschuhe mit Blumen, ließ mir von meiner West-Oma Schlaghosen schicken und nähte dünne Ketten an den Schlag. Nun konnte mein Studium beim Deutschen Fernsehfunk beginnen, ich war gewappnet. Ich fühlte mich glücklich und frei. Meine Locken waren nur durch ein breites buntes Stirnband zu bändigen. Die Nacht vor meiner Abreise schlief ich kaum. Ich dachte an meine Eltern: was sollte nun aus ihnen werden? Sie würden sich nicht mehr streiten. Meine Schwester bereitete ihnen nie Kummer, ganz im Gegensatz zu mir. Doch auch sie würde bald das Elternhaus verlassen. Mein Freund Fred war spät in der Nacht nach Hause gegangen, doch er fehlte mir jetzt schon. Nein, im Ernst. Panik überfiel mich, Berlin war riesengroß. Wie sollte ich mich da zurechtfinden, fragte ich mich und drückte mein Gesicht ins weiche Daunenkissen, das nach meiner Oma mütterlicherseits roch. Im Morgengrauen schoss mir die Frage durch den Kopf, ob ich überhaupt Regisseurin werden wollte. Nach dem Aufstehen packte ich Omas Kissen in meine Sporttasche. Meine Mutter sah das mit Besorgnis. Und umarmte mich. Mein Vater murmelte „wird schon, wird schon", aber seiner Miene sah ich an, dass er das Gegenteil annahm.

    2. Kapitel

    Berlin, Herbst 1969

    Mein Stirnband gab mir in Berlin ein neues Image. Eine Rolle, die es auszufüllen galt. Meine Mitstudenten sahen in mir einen Menschen, der ich gar nicht war. Ich wollte nur meine allzu widerspenstigen Locken bändigen, das Stirnband aber brachte mir bei den Regiestudenten den Namen Blumenkind ein. Meinen richtigen Namen kannte kaum einer. Meine Mutter hatte mich Dita genannt. Der Name kam aus Friesland, das lag in der BRD und dazu noch im Norden Deutschlands. Deine Mutter ist schuld, sagte mein Vater, als ich mich über meinen Namen beschwerte. Meine Mutter war an allem schuld, auch an meiner Erziehung. Diese und ein warnendes Verbotsschild an der Tür hinderten mich nicht, auf unserem Dachboden herumzustöbern. Die Dielen waren morsch oder fehlten an manchen Stellen gänzlich. Fremde Katzen huschten übers Dach. Es knisterte geheimnisvoll. In einer alten braunen Kiste fand ich eines Tages Briefe, die mit einer roten Schleife zusammengebunden waren. Auf dem Poststempel konnte ich die Jahreszahl 1946 erkennen. Vorsichtig öffnete ich sie. Das Papier war vergilbt, doch die Schrift konnte ich gut lesen. Die Briefe erzählten von einer Liebesgeschichte meiner Mutter mit einem Dittmar aus Friesland. Ich fand dieses poetische Intermezzo höchst interessant und stellte voller Genugtuung fest, dass es für meine Mutter noch eine andere Welt gegeben hatte. Wenn auch nur für kurz. Dann kam mein Vater zurück aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft. Er sah meine Mutter beim Heimatfest und tanzte mit ihr zu den Klängen des Boogie-Woogie. Meine Mutter entschied sich für ihre Jugendliebe. Zwei Jahre später heirateten sie und wenige Monate später kam ich auf die Welt. Seit dieser Zeit heiße ich Dita Rolle.

    Die erste Hürde auf dem Weg zur berühmten Regisseurin war genommen. Ich lebte 1969 in Berlin, der riesigen Stadt an der Spree. So groß und verwirrend hatte ich sie mir nicht vorgestellt. Da gab es Straßenbahnen, S-Bahnen, U-Bahnen, breite Alleen, enge Gassen mit wandelnden Touristen aus aller Welt, pöbelnde Berliner in Kaufhäusern, hupende Autos und kesse Jören, die den Fahrern einen Vogel zeigten. Berliner haben es immer eilig. Was für ein Gegensatz zu den Thüringern, die gern einmal verweilen, eine Bratwurst essen und mitten auf der Kreuzung nach den Wolken sehen. In der Hauptstadt stand ich am ersten Tag meines Aufenthaltes aufmerksam an einer Ampel und wartete geduldig auf die Grünphase. Bei Grün darfst du gehen, bei Rot bleibe stehen. Aber noch während der Rotphase hatte eine alte Oma gerempelt und geschubst, „nu jeh endlich übern Damm oder willst hier übernachten, motzte sie mich an. Die Begrüßung aller Studenten und die ersten Seminare fanden im großen Saal des Deutschen Fernsehfunks in Berlin-Adlershof statt. Jeden Morgen setzte ich mich in die S-Bahn, um zum Fernsehfunk zu fahren. Aber immer wieder landete ich, obwohl ich laut Karte in Adlershof landen sollte, in Berlin-Spindlersfeld. Nach einigen Wochen sagte mir ein Kommilitone, dem ich mich anvertraute: Du musst in Berlin-Schöneweide umsteigen. So kam ich anfangs immer zu spät. Ich betrat mutig den hell erleuchteten Seminarraum, zog mein Stirnband fest und lächelte schräg. Das empfanden meine Kommilitonen als stille Opposition. Nur meine blumenbemalten Turnschuhe hielten diesen Oppositionshabitus nicht lange durch, beim ersten Regen waren nur noch bunte Kringel zu sehen. Einerseits schmeichelte mir die Aufmerksamkeit meiner Studenten, aber irgendwie nervte sie mich auch. Ein stämmiger Typ unter ihnen, unter dessen Nase ein prächtiger Walrossbart prangte, zog ebenfalls die Blicke der anderen auf sich. Schon am ersten Tag war er mir aufgefallen, denn sein runder, kahl geschorener Kopf leuchtete im Neonlicht der Empfangshalle. Mit seinen blauen Knopfaugen musterte er die Runde und blieb bei mir hängen. Zuerst starrte er auf mein Stirnband, dann visierte er meine blumenverzierten Turnschuhe an. „Kommst du aus San Francisco oder aus Sachsen? Berliner mochten keine Sachsen, das wusste jeder. Der Kahlkopf war im Prenzlauerberg, in der Schönhauser Alle geboren, das hatte ich auf seinem Anmeldeformular gelesen. „Thüringen, nuschelte ich. „Ah, Bratwurst, sagte er und schmatzte. Mit seinem kurzen Zeigefinger zeigte er auf sich: „Bin Klaus und liebe Bratwurst. „Ich mag es, in den Wald zu gehen. „Aha, sagte Klaus und lächelte mich an. Von diesem Tag an waren wir Freunde. Er kam immer zu spät oder gar nicht. Wenn er in seinem roten Cordanzug den Hörsaal durchquerte und sich die letzten Frühstückskrümel aus seinem Bartgestrüpp zupfte, trommelten wir auf die Bänke. Er verbeugte sich, erklomm die Stufen zur letzten Reihe und setzte sich neben mich. Da saß oder lag er nun die nächsten Stunden und ließ die Ergüsse der jeweiligen Referenten über sich ergehen. Irgendwie sah er am Tag immer müde aus. In der Nacht erwachte er und sprühte vor Lebensfreude. Sobald Aufgaben verteilt wurden, wurde Klaus krank. Er hustete, röchelte und spülte seinen Hals mit hochprozentigem Alkohol. In den ersten Tagen hatten sich unter den Studenten Gruppen gebildet - die Angepassten, die Fleißigen, die Auffälligen, die stille Opposition, die Extremen, die Anarchisten. Es fiel mir schwer, mich irgendwo einzutakten. Manchmal schwieg oder träumte ich, ein anderes Mal stritt ich mit den Referenten und Kommilitonen. Mitunter neigte ich dazu, alles viel zu ernst zu nehmen. Egal – bald würde ich meine eigenen Filme machen.

    An den Wochenenden fuhr ich nach Hause. Während der langen Zugfahrt konnte ich es kaum erwarten, die Berge, den Fluss, meine kleine Stadt und meine Familie zu sehen. Meine Freunde nannten mich plötzlich die Berlinerin. Es klang wie: Du hast es geschafft. Auf dem sonntäglichen Tanztee forderte mich ein Junge auf, der mich früher nie angesehen hatte: „Du, Dita, wie ist es in Berlin? Wann bist du mit deinem Regiestudium fertig? Ich fühlte mich plötzlich fremd. Mit dem Frühzug am Montagmorgen fuhr ich zurück in die geteilte Stadt an der Spree.

    Das nächste Wochenende blieb ich in Berlin. Ich wurde zur Party der so genannten Anarchisten eingeladen und nahm Klaus mit. Einer der Anarchisten, der mit den langen dunkelblonden Haaren und den lustigen Sommersprossen im Gesicht, forderte mich zum Tanzen auf. Eng umschlungen standen wir in seiner unaufgeräumten Küche. Auf der blau lackierten Anrichte stand ein nagelneues Tonband. Es dröhnten Songs der Stones durch die große Wohnküche. Unsere Körper bewegten sich zum Takt von „Sympathy for the devil und „Satisfaction. Der Anarchist sprach von Trotzki und der kommenden Revolution. Klaus baggerte eine unscheinbare blonde Studentin an, die einsam auf einem dreibeinigen Stuhl kippelte. Er ließ sich vor ihren Füßen auf ein altes Bärenfell nieder und sprach unentwegt von Liebe und Kirschblüten. „Wer bist du?, fragte Klaus, als ihm der Gesprächsstoff ausging. „Die Tochter des Ministerpräsidenten, antwortete sie schlicht und legte die Hände in ihren Schoß. Mein Tanzpartner, der diese Worte ebenfalls vernommen hatte, bewegte sich nun wie in Trance auf das blonde Mädchen zu. Um Mitternacht, als wir auf dem morschen Dach des alten Mietshauses die Lichter der Großstadt bewunderten, verliebte sich die Tochter des Ministerpräsidenten in den dunkelblonden Anarchisten. Klaus blickte melancholisch in den Himmel und faselte was von unerfüllter Liebe. Die junge Frau, die bald im Zentrum des gesellschaftlichen Interesses stehen würde, verschwand mit dem jungen Anarchisten, um ihn zu zähmen.

    In den darauffolgenden Wochen wuchsen mir die Menschen des Fernsehfunks immer mehr ans Herz. Ich liebte es, meinen Ausweis beim Pförtner vorzuzeigen, ich liebte es die heiligen Hallen, sprich Studios, zu betreten. Mir schmeckten die Bouletten in der Kantine, ich mochte die Gespräche der Kameraassistenten über die neuesten Filme und die Witze der Beleuchter über meine Bemühungen die Scheinwerfer zu unterscheiden. „Das ist ein 5 kw, nein, ein Zehner, riet ich. „Nee, det sind gar keine Scheinwerfer, det sind Ditas Augen, erwiderte Manne stotternd, der adrette Beleuchter mit dem Kaiser-Wilhelm-Bart. Ich bewunderte die Schauspielerinnen, die moderne Kleidung trugen, lässig über den letzten Dreh sprachen und mit den Regisseuren flirteten, als wäre das alles ganz normal und landläufig. Ganz anders unsere Dozenten. Sie schienen die Realität nicht zu kennen. Sie sprachen über Politik, sie sprachen über Volkswirtschaft, sie sprachen über den real existierenden Sozialismus, den wir in unseren zukünftigen Filmen, so schien es mir, erschaffen sollten. Meine Geschichten aus der Knochenmühle zweifelten sie an oder hielten sie für übertrieben. Klaus hielt sich bei Diskussionen mit den Seminarleitern zurück. Obwohl er sehr gute Argumente hatte und jeden aus dem Feld schlagen konnte, öffnete er während des Seminars seine blauen Augen nur so leicht, dass er seine Taschenuhr erkennen konnte. Wurde er zur Diskussion aufgefordert, blickte er den Dozenten müde an. An einem Wochenende im Oktober fuhren wir an den Müggelsee. Klaus rauchte Pfeife, blies den Rauch übers leicht gekräuselte Wasser, trank Rotwein und philosophierte. Er las mir aus einer Westzeitung vor, die Besucher aus West-Berlin liegen

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