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Menschen und Männer
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eBook498 Seiten6 Stunden

Menschen und Männer

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Über dieses E-Book

Ralph Veltin ist kein Glückskind, eher das Gegenteil. Beim Rückblick in Kindertage wird klarer, warum hart macht, was einen nicht umbringt. Dass er in die Fänge von Geheimdiensten gerät, mit Erpressung und Mord konfrontiert wird und dennoch seinen Kopf über Wasser behält, ist womöglich damit begründet.

Spät entdeckt er die erotischen Reize der Männlichkeit und Hinwendung zum eigenen Geschlecht. Die Folgen daraus führen zu erheblichen Problemen mit seinem Umfeld. Der Leser bekommt das nicht unbedingt schamvoll beschrieben. Beziehungen und ONS wechseln in den verschiedenen Phasen seines Lebens.

Vor dem Hintergrund von Gesang, Musik und Theater spielen sich unerwartete Situationen ab.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum9. Aug. 2016
ISBN9783734524684
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    Buchvorschau

    Menschen und Männer - Siggi Koenig

    1

    Wenn ich etwas auf den Tod nicht ausstehen kann, dann, als begossener Pudel aus einer Situation rauszukommen. Das ist mir schon lange nicht mehr passiert. Wie konnte ich nur da reinschlittern? Mit ungutem Gefühl stehe ich vor dieser Wohnungseingangstür am Ostberliner Kollwitzplatz und lausche der Klingel nach. Ich habe mich schon wieder umgewendet, da höre ich ein leises Schlurfen hinter der Tür, die jetzt vorsichtig geöffnet wird.

    „Hallo, Herr Veltin, wat für ’ne Überraschung", säuselt sie und betrachtet mich herausfordernd von oben bis unten und wieder zurück.

    Und die hat sich krankgemeldet, stelle ich fest. Und deshalb dieses anthrazitfarbene Negligé mit rosa Rüschen und Pantöffelchen passend dazu.

    „Komm’n Se doch rinn, wenn Se schon mal da sind", die Tür weit aufmachend, wobei ihr das seidene Teil reichlich weit aufgeht.

    Das Spiel machst du nicht mit, denke ich, während ich schon im Flur stehe und in das Wohnzimmer blicke. Alter DDR-Charme mit Geschmack, das muss man schon sagen. Ich spüre den Umschlag in meiner Brusttasche. Den müsste ich bloß loswerden und dann nichts wie raus aus der Bude.

    „Ihre Kollegin hat mir freundlicherweise Ihre Adresse gegeben und gesagt, dass Sie sich krankgemeldet haben. So oft komme ich ja nicht nach Berlin. Ich wollte Ihnen eine kleine Überraschung machen", und reiche ihr den knisternden Umschlag.

    „Ach wie nett von Sie, is aber richtig nett", haucht sie, legt den Umschlag auf die Anrichte und fasst mit der linke Hand mein Handgelenk, an dem der Aktenkoffer hängt. Ich will den Koffer nicht fallen lassen und sie fasst mein Handgelenk noch fester.

    „Frau Jordan, was soll ..."

    „Sag’ Rosi zu mir, Ralphi, nich so förmlich, Mensch Mann, biste so’n Spielverderber?"

    Sie zieht mein Handgelenk in Richtung Busen, der Koffer fällt mit Gepolter auf ihren linken, grau-rosa Pantoffel mit Fuß drin, sie fällt nach hinten auf die Armlehne des hinter ihr stehenden Sessels, zieht mich mit, ich auf sie drauf, sie schreit hässlich laut und lange, während die Wohnungseingangstür zugeworfen wird. Ihr Schrei erstirbt.

    „Komm sofort runter von meine Frau", dröhnt hinter mir eine sonore Männerstimme.

    Ich muss mich erst von Rosi befreien, kann endlich wieder auf beiden Füßen stehen und dem Kerl ins Gesicht sehen. Der hat eine Pistole in der Hand und einen schwarzen Ledermantel an. Ist knapp 2 Meter und macht mir nun doch richtig Angst.

    „Die Situation hier sollten Sie nicht missverstehen, Herr Jordan. Veltin, Ralph Veltin. Ich hatte mit Ihrer Frau im Außenhandelsministerium einen Termin, aber sie ist ja nun krankgemeldet, deshalb habe ich diesen Besuch machen wollen und ..."

    „Ja, Besuch hört sich jut an, Sie wildjewordener Westvertreter, Sie. Lassen Se doch mal Ihren Ausweis sehen."

    Immer noch mit der Pistole in der Rechten. Ich krame in der Jackeninnentasche und reiche dem Langen meinen Reisepass.

    Jordan blättert die Seiten durch, lässt mich dabei nicht aus den Augen. Geht einen Schritt zurück und erblickt den weißen Umschlag auf der Anrichte.

    „Wat issn da drinne?"

    „Eine kleine Überraschung für Ihre Frau", stottere ich und spüre die Röte in meinem Gesicht. Wie konnte ich mich nur in eine solche Lage bringen?

    Jordan steckt die Pistole wieder in den Halfter unter seiner Jacke und reißt den Umschlag auf.

    „Nu gugge mal doa, äfft er mit sächsischem Zungenschlag. „1000 Westmark in neue Scheine! Is dit nich’n bisschen ville for eenmal meene Gattin ...

    „Bruno, spinnste nu? Dit is doch nich für’n Stößchen, du Dussel. Der Herr Veltin verkauft uns doch Schrauben, rostfreie, weeste? Waggonweise. Da is doch mal ne kleene Überraschung jenehmigt, meenste nich ooch?"

    Ich lasse mein Gehirn arbeiten. Bestechung oder Sex mit der Ehefrau des Langen. Was ist gefährlicher? Jordan nimmt mir das Ergebnis ab.

    „Passen Se mal uff, Sie Behördenbestecher. Ick sare Ihnen jetzt von Mann zu Mann: Sie haben maximal zwee Möglichkeiten. Ick rufe die Leute von meine Dienststelle und dann sind Se erst mal ne Zeit lang weg vom Fenster."

    „Oder?", bange ich.

    „Oder Sie verpflichten sich jetzt und ohne Vertun schriftlich, das Ministerium, Sie wissen schon, welches, in wichtigen Fragen der Aufklärung zu unterstützen." Jordan kann plötzlich Hochdeutsch.

    „Das muss ich mir aber überle ..."

    Jordan hat schon das schwarze Telefon in der Hand und drehte an der Wählscheibe. Binnen fünf Minuten stehen 4 Typen in der Wohnung und fordern mich unmissverständlich auf, mitzukommen.

    „Lassen Sie das bleiben. Ich bin einverstanden, das mit dem Ministerium ...", stotterte ich.

    „Das können Sie gleich dem Major erzählen", höre ich von dem Ältesten.

    Nach wenigen Minuten sitze ich in einem nach Plastik stinkenden, schwarzen Wolga. Bruno hat an meinen Aktenkoffer gedacht. Den Briefumschlag mit den 1000 Mark ließ er auf der Anrichte liegen.

    Unter dem Ministerium für Sicherheit hatte ich mir etwas anderes vorgestellt. Es ist offenbar eine Dependance in einem anonymen Wohnblock aus den Dreißigerjahren.

    Kahles Büro mit tristen Möbeln, am Tisch vor mir der Major in Zivil.

    „Wen hamse mir denn da anjebracht, Jenossen? Ick wollte jrade jehn."

    „Jenosse Major, der is in meene Wohnung einjedrungen und wollte meene Frau bedrängen ..."

    „Wollte oder hatterse?", fragt der Major.

    „Na ick war rechtzeitig zur Stelle, wie immer Jenosse Major." Bruno zwinkerte in meine Richtung mit dem linken Auge.

    „Also erstmal: Name, Beruf und Jrund ihres Aufenthalts hier in de Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik und Ihren Ausweis, wenn ick bitten darf."

    Der Major reicht meinen Reisepass an einen der vier, der damit verschwindet.

    „Erzählen Se doch mal frei wech, wat Se hier zu suchen haben."

    Also lüge ich etwas zusammen über den Besuch bei Rosi, die krankgemeldet ist und deshalb nur in ihrer Privatwohnung erreichbar war. Wegen der weiteren Aufträge über rostfreie Schrauben, über die sonst niemand Bescheid weiß im Außenhandelsministerium, deshalb der Besuch in ihrer Wohnung. In diesem Stil versuche ich den Besuch so harmlos wie möglich darzustellen.

    „Seid Ihr Verkäufer aus der BRD alle so hartnäckig oder wollt Ihr bloß unsere Damen im Ministerium an de Wäsche?"

    Hier war eine Tür geöffnet für mich, denn die 1000 Mark wollte ich möglichst nicht ins Gespräch bringen.

    „Dass Frau Jordan eine attraktive Frau ist, fiel mir schon beim ersten Besuch im Ministerium auf. Ist doch wohl keine Schande, das festzustellen." Jetzt war ich durch die Tür gegangen.

    Einer der vier kommt wieder herein und reicht dem Major meinen Ausweis und zwei Seiten eng beschriebener Informationen, so weit ich das sehen kann. Der Major liest aufmerksam und richtet sich an mich.

    „So, is ja wirklich interessant, Ihre Tante lebt in Binz uff Rüjen. Is ja sehr interessant. Hat nie eenen Ausreiseantrag jestellt. Will wohl nich zum Neffen nach Köln!? Sarichdoch, irjendwie hängt eens vom anderen ab, nichwah, Herr Veltin?"

    Dass ich auch mal in dieser DDR gewohnt habe, hat er wohl nicht auf den Seiten stehen.

    „Was hat meine Tante zu tun mit meinem Besuch bei Frau Jordan?", versuche ich zu stören.

    „Das können Sie mir doch besser saren, oder nich?", gibt der Major zurück.

    „Also meine Tante weiß nichts von meinem Besuch in Ostb ..., äh, in der Hauptstadt der DDR. Ich wollte nichts anderes, als die Geschäfte am Laufen zu halten zwischen meiner Firma und der DDR. Was ist daran falsch?", frage ich etwas beherzter.

    „Wenn unsere Deutsche Demokratische Republik rostfreie Schrauben von ihre Firma kaufen will, werde ick natürlich dajejen nichts einwenden wollen. Aba, wenn Se ihre Frau Tante nich in Schwierigkeiten bringen wollen, sollten Se mit uns vertrauensvoll zusammenarbeiten, sare ick mal janz freundlich zu Sie. Hamse dit verstanden?"

    „Nicht so richtig. Was erwarten Sie denn von mir?"

    „Wissense, wir haben da so unsere Methoden, klar? Besser, Se arrangieren sich mit uns, wejen de Schrauben und de Tante, oder sonst ... Wir können auch anders, jaaaanz anders, haben Se dit kapiert?" Der Major hatte plötzlich so etwas Schelmisches im Ausdruck.

    „Herr Major, was soll ich denn jetzt tun, was erwarten Sie von mir?"

    „Nich mehr oder wenijer als ne deutliche Vereinbarung, schriftlich, versteht sich, die Sie und uns bindet. Sie liefern uns Informationen über verschiedene, technische Hintergründe in der BRD, und wir helfen Sie beim Verkauf von Ihre Schrauben und kucken, dat es Ihre Tante jut jeht. Dit unterschreiben Sie uns hier und heute und anschließend könnse in Ihren joldenen Westen zurück, wo se herjekommen sind."

    Mir fällt ein Stein vom Herzen. Die wollen mich nicht einsperren. Benutzen meine liebste Tante Erna als Pfand und wollen mich unterstützen beim waggonweisen Verkauf von Schrauben in die DDR. Erst mal komme ich raus aus der Schlinge. Was die wissen wollen, wird ja so brisant nicht sein können. Da werde ich mir schon was einfallen lassen.

    „Also, ehrlich gesagt, finde ich nicht fair, dass Sie meine Tante hier reinziehen wollen. Aber am Schraubengeschäft hat ja die DDR ein ähnliches Interesse wie meine Firma." Ich klinge jetzt etwas politisch.

    „Se müssen mich nich uffklären, junger Mann. Jloben Se mir, wir wissen, wat wer wolln, kapito? Jetzt kriejense een Kaffee und in de Zwischenzeit lass ick die Vereinbarung schreiben. Anschließend fahren meene Leute Se zum Bahnhof Friedrichstraße, da könnse dann uff de S-Bahn Richtung Westen, klar?"

    „Jawoll, Herr Major. Wie ist doch Ihr Name?"

    „Nenn’ se mich Wagner, eenfach Wagner, kapito?"

    „Danke, Major Wagner", höre ich mich sagen und denke, ich bin im ganz falschen Film.

    So wird man also zum Spion für die Stasi, stelle ich, Ralph Veltin, dreiunddreißig, verheiratet, ein Kind, 120 Minuten später fest, mit wackligen Knien am Übergang Friedrichstraße. Bloß weg hier aus diesem verfluchten Ostberlin. Bis ich im Hotel Savoy angekommen bin, wird es wohl nach 20 Uhr sein. Eigentlich habe ich nur Hunger auf einen starken Drink. Bin froh, als ich am Bahnhof Zoo aussteige. Zum Savoy sind es nicht mal fünf Minuten. Ich setze mich gleich an die plüschige Hotelbar und bestelle einen Screwdriver, aber einen Dreifachen, bitte, den Koffer neben meinem rechten Fuß. Die elegante Dame gegenüber musterte mich aufmerksam. Mir ist nicht nach Small Talk. Zu alt und zu weiblich. Ein knackiger Typ wäre was anderes gewesen. Heute nur noch ’nen Happen essen und früh ins Bett. Morgen den 9-Uhr-Termin in Charlottenburg und dann ab nach Köln. Am Nachmittag kann ich noch mal im Büro vorbeischauen, abends wird die Welt wieder normaler aussehen. Ist ja dann auch Wochenende. Mensch, in welche Scheiße habe ich mich da reingeritten? Zum mindestens zehnten Mal überlege ich, zur Polizei oder gleich zum LKA zu gehen und verwerfe diese Idee erneut. Das kann ich eigentlich niemand erzählen, auch Thomas nicht.

    2

    „Doktor Savonne erwartet Sie bereits. Seine Sekretärin wird sie abholen. Einen Augenblick nur."

    Professioneller Empfang im Frankfurter Head Quarter der Schmuckkompanie. Frau Luger, seine Sekretärin, ist eine Augenweide.

    „Na, da sind Sie endlich. Herzlich willkommen, Herr Verkaufsleiter."

    Savonne steht vom Schreibtisch auf und streckt mir seine Hand entgegen. Dunkelblauer Anzug, zartlila Hemd mit blaugemusterter Krawatte, alles vom besten Schneider, schätze ich. So hatte ich ihn auch kennengelernt etwa sieben Monate zuvor, beim ersten Vorstellungsgespräch. Vielleicht zehn Jahre älter als ich, guter Kopf, langes, dunkles, gewelltes Haar. Ein Frauentyp erster Klasse.

    „Ich bin mehr als gespannt auf meine Aufgaben. Danke fürs Abholen am Flughafen. Was haben Sie mit mir heute geplant?" Ich kann locker reden mit meinem neuen Chef, das war mir nach zwei Vorstellungsgesprächen klar geworden.

    „Das sage ich Ihnen gleich. Aber erst mal: Wie sind Sie mit ihrer letzten Firma klargekommen? Kam Ihre Kündigung überraschend für den Inhaber?"

    „Die Kündigung habe ich am Telefon ausgesprochen, die schriftliche am nächsten Tag hinterher. Herr King wollte es nicht glauben und hat erst mal aufgelegt. Zehn Minuten später rief er dann zurück. Da hatte er sich dann gefasst. Ich war sehr ruhig und habe gesagt, neun Jahre gemeinsamer Aufbauarbeit lassen sich doch sehen. Ich bin doch kein Springer. Seine Frau war wesentlich emotionaler, mit Tränen, wie Frauen halt. Die Übergabe war ganz penibel, wir haben viele Stunden, über neue Kunden vor allem, geredet. Nachfolger wird noch gesucht. Ich fühle mich frei und freue mich auf Neues!" Savonne scheint zufrieden mit meiner Schilderung, nickt mehrmals. Er hat meinen neuen Kollegen, mit dem ich ein Büro teile, gebeten, die wichtigsten Leute in der Firma noch heute mit mir bekannt zu machen. Auch die Farbsteinschleiferei werden wir besichtigen, für die beim zweiten Vorstellungsgespräch keine Zeit war. Abends ist ein Essen zu viert geplant, er, Frau Luger, Herr Vorcher, der Kollege im Büro und ich. Ich bin kaputt und hänge für zwei Absacker kurz vor Mitternacht in der Hotelbar.

    Die folgenden Wochen sind zum Teil hektisch, zum Teil wieder ungewohnt ruhig. Vorcher ist ein umgänglicher Typ Anfang fünfzig, sehr erfahren in der Schmuckbranche und fängt nur an zu reden, wenn er dazu animiert wird, dann aber heftig. Witzig für mich sind die Bürotüren. Von außen fester Türknopf und Klingel. Man hat entweder den passenden Schlüssel oder man klingelt. Die Jalousetten vor den Fenstern zum Gang sind einen Spalt offen, sodass man erkennen kann, wer Einlass begehrt. Der ganze Laden ist derart eindrucksvoll, dass ich mir wie in einer anderen Welt vorkomme. Dreißig Schleifer in der Diamantschleiferei, etwa gleich viele in der Farbsteinschleiferei und dieses riesige Goldschmiedeatelier, nicht zu glauben, wenn man es nicht mit eigenen Augen sieht. Die Wochenenden beginnen Freitagnachmittag mit der nervenden Fahrt auf der A 3 bei Rushhour um Frankfurt. Bis ich in München bin, ist es kurz vor Tagesschau. Der Volvo, mein vorübergehender Firmenwagen, ist bockig, hat nicht mal Servolenkung. Gegen den Mercedes von King ist das absoluter Rückschritt.

    „Herr Veltin, haben Sie heute Termine, die nicht verschoben werden können?" Savonne fragt am Telefon, kaum dass ich am Platz sitze.

    „Für was Wichtigeres habe ich natürlich Zeit." Locker bleiben.

    „Gut, wir fahren zehndreißig vor dem Portal ab. Es geht nach Zürich. Bis dann." Der Zürcher Statthalter von Diamonds & Co ist ein sehr sympathischer Bursche, Ende dreißig, über einsneunzig, schlank und smart. Ich lernte ihn in der Kantine kennen, als er zum Rapport nach Frankfurt kam. Solche Typen habe ich immer insgeheim beneidet, wegen ihrer Größe und wegen ihrer Smartness. Savonne fährt selbst den Mercedes, S-Klasse mit jedwedem Schnickschnack. Vor dem Flughafen biegt er rechts ab, Richtung GAT, General Aviation Terminal. Der Schrankenwärter am Tor öffnet, als er den Wagen sieht. Wir fahren zu einem Hangar, weit entfernt vom Terminal für die Linienflieger. Vor der kleinen, zweistrahligen Cessna Citation hält Savonne. Nachdem wir aussteigen, wird der Wagen weggefahren. Ein Pilot in Uniform begrüßt uns unten an der Treppe. Drinnen gibt es acht Plätze, in hellbeigem Leder. Die Turbinen werden angeworfen, fünf Minuten später sind wir in der Luft. Savonne freut sich, dass ich meine Premiere habe in einem Flugzeug dieser Klasse.

    „Wir müssen den Tag nutzen, ich muss morgen dreizehn Uhr im Büro sein. Georgi hat sich frei gehalten für uns. Es gibt eine Vertragsverhandlung und zwei bis drei Besichtigungen. Nehmen Sie so viel auf, wie Sie können."

    Zwischen uns ein ovaler Tisch. Die Sessel breit und weich. Wir sind nicht angeschnallt, was mich irgendwann irritiert. Bis Zürich Small Talk.

    „Willkommen in der Schweiz, wie war der Flug?"

    Georgi steht unten an der Treppe. Wir steigen in seinen geräumigen Lancia. Es geht um weitere zehn Läden der Morat-Kette, Kaufhäuser der mittleren Klasse. Nachdem das Shop-in-Shop-Konzept in den großen Städten sich gut entwickelt hat, sollen jetzt kleinere Häuser mit Uhren und Schmuck-Abteilungen ausgestattet werden. Verhandelt werden Größe und Umsatzmiete. Die Kundenseite will klein und hoch, wir vertreten das gegensätzliche Programm.

    „Die Herren kommen zu zweit aus Deutschland plus dem Schweizer Vertriebsdirektor, da können wir ja nicht zurückstehen." Direktor Schwanli stellt seine Mitarbeiter vor, die Georgi locker begrüßt. Man kennt sich. Die Verhandlungen sind sehr weit gediehen, wir müssen dem Ganzen den gebührenden Rahmen verleihen. Ich merke, wie Savonne bemüht ist, den Schweizern ihren Komplex zu nehmen. Aus der King-Zeit weiß ich, wie tief der Komplex steckt, wenn sie mit ihrem bemühten Deutsch einem hochdeutsch sprechenden Geschäftspartner gegenübersitzen.

    „Meine Herren, wir müssen diesen Vertrag nicht heute zum Ende bringen. Es drängt uns nichts, weder zeitlich noch was die Partnerschaft angeht. Auch für uns gibt es Alternativen, aber das wissen Sie ja." Schwanli macht einen Schwenk, den ich nicht erwartet habe. Seine beiden Männer sehen ihn erstaunt an. Georgi schaut zu mir rüber und zuckt unmerklich mit dem linken Lid.

    „Herr Schwanli, wir wollen doch erfolgreich arbeiten, auf beiden Seiten. Sie stören sich an der Größe, wir wollen den Mietsatz tiefer haben. Können wir uns nicht auf neunzig und acht einigen?"

    „Lassen Sie uns fünf Minuten beraten, wir ziehen uns kurz zurück."

    Die drei verlassen, mit ihren Aktenkoffern, den Raum. Georgi legt den Zeigefinger auf seine Lippen. Wir flüstern und bestätigen uns in der bisherigen Linie.

    „Meine Herren, wir haben uns beraten und sind überzeugt, dass neunzig und neun sehr gut vereinbar sind mit den Interessen auf ihrer und auf unserer Seite. Wie stehen Sie dazu?" Savonne steht auf, gibt Schwanli die Hand, wir schließen uns an. Zufriedenheit strahlt aus allen Gesichtern.

    „Wenn es ihre Zeit erlaubt, würden wir Sie gerne zu einem kleinen Imbiss einladen." Savonne sieht mich, dann Georgi an. Wir schütteln sacht den Kopf.

    „Herr Schwanli, wir danken Ihnen herzlich für ihre freundlichen Einladung. Bitte haben Sie Verständnis, dass wir den Nachmittag und den Abend komplett verplant haben. Ich möchte Ihnen vorschlagen, dass wir uns zu einem Abendessen hier in Zürich treffen, und das wäre dann unsere Einladung. Über den geeigneten Termin werden wir uns telefonisch einigen können. Ist das akzeptabel für Sie?" Na, dann wird es wohl einen weiteren Ausflug in die Schweiz geben. Bis zum Abend besichtigen wir noch drei Shop-in-Shops, zwei von uns und einen vom Basler Wettbewerber. Ich falle nach einem Rotwein an der Hotelbar wie gerädert ins Bett.

    Savonne hat diesmal seinen Fahrer am Steuer sitzen. Wir fahren im Fond, Richtung GAT Frankfurt. Es geht nach Hannover, wo die Zentrale der Kaufland-Kette ihren Sitz hat. Kaum startet die Cessna, da setzt sie auch schon zum Landeanflug an. Hannover kann man ja wirklich auch mit dem ICE machen. Aber der Flieger muss ja bewegt werden, denke ich mir.

    „Sehen Sie mal diese Frau da vorn. Die mit dem Dutt, vielleicht Anfang fünfzig. Wenn Sie so eine kriegen können, sofort einstellen, glauben Sie mir. Jahrelange Erfahrung." Wir wollen nicht auffallen, was uns in den dunkelblauen Anzügen wahrscheinlich nicht gelingen wird. Die Konkurrenz hat hier ihren Uhren- und Schmuck-Shop etabliert, und der scheint nicht gut zu laufen. Warum nicht? Wir sehen uns die Preisschilder näher an. Savonne kann wohl einschätzen, ob zu teuer oder zu billig. Ich bin noch zu neu in diesem Metier. Kein Kunde im gleißend hellerleuchteten Shop. Es scheint der Filialleiter zu sein, der zielgerichtet auf uns zusteuert.

    „Was kann ich für die Herren tun?" Astreines Hochdeutsch, Hannover eben.

    „Ehrlich gesagt, wir sind von der Konkurrenz. Bitte verstehen Sie, dass wir Ihnen keine Visitenkarte anbieten können." Ich sehe Savonne entgeistert an. Na ja, er wird sein Konzept haben.

    „Sie haben sich besonders für die Verkaufspreise interessiert, wie ich gesehen habe. Hier können Sie nur Erfolg haben, wenn Sie mindestens zwanzig Prozent darunter liegen. Sonst können die Kunden ja auch in der City kaufen. Die erwarten hier einfach Discountpreise. Aber, das werden Sie ja selber wissen." Na, der traut sich was, will sich wohl gleich seinem neuen Arbeitgeber an den Hals werfen.

    „Vielen Dank für Ihre Offenheit, Herr ..., der zieht eine Visitenkarte aus der Geldbörse und reicht sie Savonne, „sollte es jemals zu einem Wechsel kommen, werden wir uns gerne an Sie erinnern. Stimmt es, dass die Umsatzmiete bei dreizehn Prozent liegt?

    „Das wäre ja die glatte Katastrophe! Nein, die acht Prozent machen uns schon schwer genug zu schaffen." Na prima, jetzt wissen wir das auch. So einen Mann kann man nicht als vertrauenswürdig ansehen. Der verrät auch noch den Safecode.

    Draußen sehe ich Savonne unentschlossen an.

    „Ist diese Kategorie von Markt eigentlich wirklich unsere Zielgruppe?"

    „Kompliment, Herr Veltin, genau das habe ich mir auch gedacht. Lassen Sie uns trotzdem mit dem Verkaufsdirektor reden. Man wird immer ein Stück schlauer." Das Gespräch mit Direktor Harmann bestätigt unsere Zweifel. Diese Kategorie von Verbrauchermärkten ist vermutlich passender für Modeschmuck. Nachdenklich, aber nicht enttäuscht, sitzen wir im Taxi zum Hannover Airport.

    „Doktor Savonne hat schon nach Ihnen gefragt." Vorcher ist wieder einmal vor mir im Büro. In Savonnes Büro sitzt zu meiner Überraschung Herr Völler, der Inhaber, den ich nur oberflächlich kennengelernt habe, beim ersten Vorstellungsgespräch. Man bittet mich in die Sitzecke.

    „Also, ich mache es nicht spannender als nötig." Völler sieht aus, wie aus dem Modejournal, allerdings etwas zu alt für einen Dressman und zudem schon mit leicht grauen Haaren.

    „Herr Veltin, ergreift Savonne das Wort, Völler nickt ihm zu, „Sie wohnen ja noch in München, was man ja verstehen kann, innerhalb der Probezeit. In München sind ja zwei Filialen der ersten und eine der zweiten Kategorie, wie Sie wissen. Für die letztere ist uns gestern der Filialleiter ausgefallen, wenn ich es mal freundlich ausdrücken will. So kurz vor dem Weihnachtsgeschäft können wir so schnell keinen Passenden finden. Er sieht zu Völler rüber, der sich mir zuwendet.

    „Wenn Sie diese Aufgabe, vorübergehend natürlich, übernehmen würden, wäre das für uns eine große Erleichterung. Für Sie ja vielleicht auch, denn die Pendelei auf der A3 ist ja nun mal kein Vergnügen. Was meinen Sie dazu?" Wollen die mich nach drei Monaten abschieben oder steckt man tatsächlich in der Klemme?

    „Wie sehen die Konditionen für die vorübergehende Aufgabe aus?" Beide sehen mich offen an.

    „Der Vertrag bleibt selbstverständlich bestehen, Sie behalten auch den Firmenwagen, der Krieger soll mal im Fuhrpark nach etwas Besserem sehen, und sobald wir einen neuen Filialleiter gefunden haben, kommen Sie zurück nach Frankfurt. Tun Sie uns bitte den Gefallen." Ich bin hin und her gerissen. Welche Alternative bleibt mir während der Probezeit?

    „Ich nehme Ihr Angebot an und sehe es als eine Art Training am Point of Sale an. Wann soll es losgehen?" Die beiden stehen lächelnd auf, reichen mir die Hand.

    „Danke, Sie haben sich richtig entschieden. Ich rufe Ihren Stellvertreter gleich an und kündige Ihr Erscheinen morgen Vormittag an."

    Auf der Fahrt nach München frage ich mich, ob ich wirklich richtig entschieden habe. So eine Schmuck-Discount-Filiale in Münchens bester Lage ist womöglich interessant, aber kann ich das? Zwar gab es unendlich lange Gesprächsrunden in Frankfurt zu Schaufensterdekoration mit immer neuen Konzepten, mit echten Warenpräsentationen und Beleuchtungsdesigns. Aber mitreden konnte ich da nicht, mangels Praxis. Die werde ich jetzt wohl kriegen. Die Vorstellung, jeden Abend zu Hause zu sein, hat allerdings etwas Verlockendes.

    „Herr Vorleger erwartet Sie in Ihrem, äh, in seinem Büro. Mein Name ist Grosser, freut mich, sie als Erste kennen zu lernen." Na, das ist mal ein Empfang. Frau Grosser strahlt mich an und ihr Schmuck an Hals, an Ohren und Händen ebenfalls.

    „Grüß Gott und herzlich willkommen, Herr Veltin. Doktor Savonne persönlich hat mich gestern Nachmittag telefonisch über Ihr Kommen informiert. Wir sind alle gespannt auf Sie und brauchen dringend ihre Unterstützung, weil das Weihnachtsgeschäft vor der Tür steht und wir alle Hände voll zu tun haben werden. Dies ist Ihr Chef-Schreibtisch. Ich, als Ihr Stellvertreter, sitze Ihnen direkt gegenüber, wie Sie sehen. Mehr Platz haben wir leider nicht zur Verfügung, aber es wird reichen, glaube ich." Vorleger ist etwa zwanzig Jahre älter, Altmünchner, das glatte Gegenteil von mir. Arbeitet sein Leben lang in der Uhren- und Schmuckbranche. Da habe ich meinen Meister gegenübersitzen. Herzeigbar ist er allerdings nicht unbedingt, wenn es im Laden Probleme mit Kunden geben sollte.

    „Bitte schließen Sie für drei Minuten die Ladentür und kommen alle in unser Büro." Gedrängt stehen sechs Verkäuferinnen in dem kleinen Büro.

    „Mein Name ist Ralph Veltin. Ich freue mich, Ihnen und der Firma durch meine Mitarbeit helfen zu können. Und ich freue mich, durch Sie und durch die tägliche Arbeit zu lernen, was in dieser Branche wichtig ist. Bisher habe ich das Handelsgeschäft aus der Sicht der Eisenwaren- und Beschlagbranche kennengelernt, also mit Architekten und Handwerkern zu tun gehabt. Das ist zwar nicht so strahlend wie diese Branche, aber interessant und sehr vielschichtig. Bitte sehen Sie mich als einen Chef an, der dankbar für Ihre Unterstützung ist. Ich werde Ihnen ein fairer Vorgesetzter sein. Jetzt lasse ich mich erst einmal durch Herrn Vorleger ins Bild setzen. Vielen Dank. Frau Grosser, bitte vergessen Sie nicht, die Tür wieder zu öffnen, sonst stimmt der Umsatz am Abend nicht." Alles lacht. Ich denke, den richtigen Ton getroffen zu haben.

    Vorleger zeigt mir die beiden Safes, die Codes, überreicht ein umfangreiches Schlüsselbund, alles mit Übergabebelegen einhergehend. Was ich hier in kurzer Zeit erfahre, würde ich in Frankfurt vermutlich nicht so praxisnah mitbekommen. Für die Zeit ab November werden acht weitere Verkäuferinnen angestellt, die in früheren Jahren schon im Einsatz waren. Meine Hauptaufgabe besteht in der Planung der Einsätze, der kritischen Betrachtung der wechselnden Dekorationen von Schaufenster und Verkaufstheken und sporadischen Auftritten vor Kunden, wenn sich eine Beschwerde andeutet. Der Filialdirektor Feiler, den ich aus Frankfurt recht gut kenne, lässt sich wöchentlich blicken, telefoniert mehrmals täglich mit mir oder Vorleger und so bin ich in kürzester Zeit ausreichend beschäftigt mit Dingen, die man eben nur in einer Kettenfiliale zu tun hat. Mittags nehme ich mir Zeit, Mittagessen mal hier, mal dort einzunehmen. Die Auswahl ist unendlich mitten in Münchens Fußgängerzone. Die Verkäuferinnen sind bemüht, mich nach Strich und Faden zu verwöhnen. Kaffee kommt ungefragt, immer mit Sahne, kleinem Gebäck und Zuckerzeug. Martina und Elaine werden wie Adlige behandelt, wenn sie mal hereinsehen. Im Freundeskreis sieht man mich als Herr über Gold und Brillanten.

    „Sie haben ja immer noch dieselbe Deko wie letzte Woche!" Völler ließ mich nach unten rufen.

    „Seit letzter Woche sind die Tagesumsätze um fünfzehn Prozent gestiegen, deshalb habe ich sie beibehalten." Kommt der jetzt jede Woche an zum Herummosern?

    „Wir hatten doch in Frankfurt festgehalten, dass Gelb- und Weißgold getrennt zu zeigen sind."

    „Ich erinnere mich, dass wir uns zu diesem Punkt nicht einig waren." Der Inhaber hatte damals zugehört und keine Meinung vertreten. Jetzt soll das plötzlich Vorgabe sein?

    „Machen Sie einfach, was ich sage, dann kommen wir gut miteinander aus." Jovial drückt er mir die Hand und stolziert von dannen. Wahrscheinlich direkt zum Kollegen von der ersten Linie, dreihundert Meter weiter auf der Neuhauser. Drei Tage später lasse ich umdekorieren nach Völlers Vorgabe.

    „Wollten Sie die Schaufenster nicht umdekorieren? Ich sehe keine Veränderung. Veltin, was ist los mit Ihnen?" Völler ist genau sieben Tage später wieder da. Hat der nur München im Sinn, bei mehr als sechzig Filialen, allein im Inland?

    „Wir haben völlig neu dekoriert, genau, wie Sie es wollten. Sehen Sie, Gelbgold hier, Weißgold da. Die Preiskategorien sind danach die Orientierung. So ist die Staffelung." Ich muss mich beherrschen.

    „Haben Sie schon mal was von ‚gegen den Wind segeln‘ gehört? Man muss sich einfach den wechselnden Strömungen anpassen, verstehen Sie?" Er sieht mich an und weiß, dass ich nicht verstehen will. Vorleger tröstet mich, oben in unserem gemütlichen Büro mit zwei Schreibtischen. Völler sei ja erst seit zehn Jahren Chef der Firma. Zuvor sei er Chauffeur des Gründers gewesen, bis zu dessen Tode. Dann heiratete er die Witwe und nun fliege er mit dem Firmenjet durch die Lande und ärgere aufmüpfige Filialleiter. Wir lachen laut und lange, einige der Verkäuferinnen blicken ins Büro und lachen mit, ohne zu wissen, worüber.

    Die Monate nach Weihnachten geben mir die Zeit, über meine Karriere in diesem Konzern nachzudenken. Vorleger zeigte mir, wie kurz vor Jahresende neue Preisschilder für Schmuck und auch die teuren Uhren angeliefert wurden, die teilweise das Zehnfache des vorhergehenden Preises aufgedruckt hatten. Diese sehr speziellen, nicht abreißbaren Schildchen, mit computergedruckten Warennummern und Preisen versehenen, stellen die Basis für die Inventur dar. Damit war klar, dass sich die Firma für die Bilanz schön rechnen wollte, und zwar in unvorstellbarem Ausmaß. Völler kommt zwar nicht mehr jede, aber jede zweite Woche zum Mosern vorbei. Wir hören, er habe in München eine heimliche Liaison, also deshalb die ständigen Flüge hier her. Wie lange will ich hier bleiben? Nach Frankfurt zieht mich nichts, also mache ich auch keinen Druck bei Savonne. Es muss ein neuer Job her. Aber so kurz nach Start bei Diamonds & Co? Das muss man bei Vorstellungsgesprächen gut begründen, um nicht als Springer oder Verlierer dazustehen.

    Zu Hause in Eichenau häufen sich die Auseinandersetzungen mit Martina, aber auch die Versöhnungen. Wir geben Partys, die wir uns nicht leisten können. Unsere Mietwohnung mit Garten und Kamin, die elegante, vom Schwiegervater bezahlte Einrichtung, lassen ein Einkommen vermuten, das es nicht gibt. Freunde wohnen in Ikea-Möbeln, die gerade aufkommen, aber in Eigentumswohnungen, wenn auch mit geringstem Eigenkapital finanziert. Wenn der Euroscheck nicht ausbezahlt wird, den man bei jeder beliebigen Bank einreichen kann, bringe ich, wie geübt, irgendeinen Wertgegenstand zum Pfandhaus, wie Martina das erstmals vormachte, als sie noch in ihrem Zimmer in Schwabing wohnte. Schmuck, Kameras, Uhren, für die man zwanzig, manchmal fünfzig Mark bekam. Und nach drei Monaten konnte man das Pfand verlängern, das kostete dann ein paar Mark fuffzig. Wehe, wenn der Zeitpunkt zur Abholung überschritten wurde. Bis das Teil dann öffentlich versteigert wurde, war es uns nichts mehr wert oder wir vergaßen das Datum. Die heile Familie mit der reizenden, von allen gehätschelten Elaine, inzwischen fast acht, wird als Vorbild angesehen. Gegenüber Martinas Eltern sieht es hinreißend aus, was Tochter und Schwiegersohn veranstalten. Und die Liederabende, wer konnte Vergleichbares bieten?

    Schwiegermutter schreit lallend am Telefon heraus, was sie längst ahnte und nun als Beweis in Form von Tonband-Rollen übergeben bekommen hat. Ihr Mann, ehrenwerter hanseatischer Kaufmann, hat seit mehr als fünfundzwanzig Jahren ein Verhältnis mit einer Frau in Bad Harzburg. Sie sehen sich mehrmals im Jahr, auf gemeinsamen Reisen, die Mutter für Kuraufenthalte hielt. Vater sagt gar nichts zu den täglichen Vorwürfen seiner Frau, streitet ab, nennt Mutter blöde Kuh. Beide telefonieren mit Martina mehrmals pro Tag und brüllen ihre Vorwürfe gegen den Ehepartner ins Telefon. Wir haben kaum noch ein anderes Thema. Mutter lallt bereits am frühen Morgen. Sie habe die andere vor fünfundzwanzig Jahren ein erstes und letztes Mal gesehen, als sie ihren Mann in Baden-Baden während dessen Kur überraschte. Sie saßen auf einer Parkbank nebeneinander. Als er seine Frau erblickte, rückte er sofort von der Banknachbarin ab. Mutter habe diese Situation nicht sonderlich ernst genommen. Erst, als der von ihr beauftragte Privatdetektiv ihr Fotos zeigte, glaubte sie die langjährige Freundin ihres Mannes wieder zu erkennen. Im Reihenhaus Iserbrook bei Hamburg tobt der Ehekrieg. Vater wird krank, er geht in Kur, Mutter kommt nach Eichenau, bezieht eine Zweizimmerwohnung, sie verkauft Wertpapiere, fährt nach Ascona und gibt Geld aus. Damit sie im Nobelhotel nicht allein an der Bar sitzen muss, wird Elaine zur Reisebegleiterin, so weit die Schulferien es möglich machen.

    Ich führe diverse Vorstellungsgespräche, nachdem ich die Bewerbungsschreiben breit gestreut habe. In der Uhren- und Schmuckbranche ist die Nachfrage gering. Eine Firma in Pforzheim inseriert in der FAZ, ohne Personalberatung. Ein Schmuckhersteller, Aktiengesellschaft, sucht einen Verkaufsleiter Inland. Ich entschließe mich, Vorleger einzuweihen. Er kennt die Branche, auch diese Firma, rät mir zu einem Vorstellungsgespräch.

    „Herzlich willkommen, Herr Veltin. Danke, dass Sie zu später Stunde bereit waren, zu uns nach Pforzheim zu kommen."

    Wildmann ist etwa fünf Jahre älter als ich, sportlich schlank, dunkelblauer Anzug, provinziell gemusterte, gelbe Krawatte, leicht ergrautes Haar. Sein Büro ist groß, aber nicht aufgeräumt. Überall liegen Kartons und Papiere rum. Die übrigen Büros scheinen menschenleer, jetzt um halb acht abends.

    „Herr Wildmann, mir passt die Uhrzeit sehr gut. Ich hatte ja bis fünf in der Filiale zu tun und muss morgen wieder präsent sein. Also, ihre Anzeige fand ich sehr interessant. Ehrlich gesagt, bin ich beeindruckt von der Größe Ihrer Firma. Sie wissen ja, dass ich noch nicht lange in der Schmuckbranche arbeite. Deshalb ist mir Pforzheim auch nicht so vertraut. Natürlich weiß ich, dass hier die Schmuckindustrie ihren Hauptsitz hat. Schade, dass ich wegen der Uhrzeit nicht wenigstens einen Teil der Herstellung sehen kann."

    Das rote Backsteingebäude hatte von außen eher den Eindruck einer chemischen Fabrik auf mich gemacht, so weit man im Auto-Scheinwerfer und durch die spärlich leuchtenden Straßenlaternen Genaueres sehen konnte.

    „Ich will Ihnen nichts vormachen, Herr Veltin, es war mir wichtig, dass niemand der Mitarbeiter Ihren Besuch mitbekommt. Sie wissen ja, wie vorsichtig man bei besonderen Personalentscheidungen sein muss, wenn es um so eine sensible Position wie die des Verkaufsleiters geht." Ich will nicht widersprechen, aber merkwürdig kommt mir die Situation schon vor. Wildmann ist Vertriebsvorstand, etwa drei Jahre in dieser Position und offenbar in der Schmuckbranche groß geworden. Es scheint ihn nicht zu stören, dass ich wenig Erfahrungen habe.

    „Meine Erfahrung ist, dass Vertrieb ein Metier ist, wo das Produkt, wo die Branche zweitrangig sind. Verkauf ist Kommunikation, Umgang mit Menschen, mit Kunden und Mitarbeitern, darauf kommt es in erster Linie an." Ich habe wohl den Kern getroffen. Wildmann will wissen, was genau meine Aufgaben in der Beschlagbranche waren, wie die Fertigung bei Diamonds & Co aussieht. Ich bin bemüht, keine allzu präzisen Details preiszugeben. Wir haben mehr und mehr einen lockeren Ton erreicht. Das Gespräch zieht sich, inzwischen ist es nach einundzwanzig Uhr.

    „Herr Veltin, Sie werden nun überrascht sein. Aber ich tue jetzt etwas zum ersten Mal. Ich biete Ihnen einen Vertrag ohne Probezeit an. Sie haben Familie und Sie brauchen Sicherheit. Dass Sie die ständigen Reibereien mit Herrn Völler nicht unendlich lange ertragen wollen, verstehe ich. Man redet über ihn in der Branche, seitdem er plötzlich auftauchte. So einen Chef will man ungern haben. Und vor allem: Sie haben mich überzeugt, durch ihre Antworten, durch die Zeugnisse, durch Ihre Erfahrungen und einfach durch Ihre Art des Auftritts. Also, was sagen Sie zu einem Jahresgehalt von achtzigtausend, plus Auto, Spesen, das Übliche?" Ich bin überrascht.

    „Danke, Herr Wildmann, das hört sich interessant an. Innerhalb welcher Zeit erwarten Sie eine Antwort? Zuvor hätte ich gerne noch eine Besichtigung der Fertigung gemacht. Gibt es einen Katalog über Ihr Lieferprogramm?"

    „Mein Angebot ist an eine Bedingung geknüpft. Sie unterschreiben hier und heute. Ich will endlich die Suche nach dem richtigen Mann abschließen, das können Sie sicher verstehen." Nein, kann ich nicht, aber was soll ich jetzt sagen?

    „Herr Wildmann, eine so wichtige Entscheidung kann ich nicht ad hoc treffen. Ich will auch mit meiner Frau drüber reden, bitte verstehen Sie mich." Mir ist sehr unwohl, es hat sich eine Spannung entwickelt, die ich nicht absehen konnte.

    „Schade. Natürlich will ich Sie nicht zu etwas zwingen. Dann höre ich in spätestens bis Ende der Woche von Ihnen?" Er wirkt resigniert. Wortlos begleitet er mich zum Nebenausgang. Um die Ecke steht mein Auto. Gut, dass ich vorsorglich ein Hotel gebucht hatte. Liegt gegenüber dem Hauptbahnhof. Morgen früh rechtzeitig raus, um neun will ich in der Filiale sein. Martina habe zweimal angerufen, sagt der Portier. Die Bar ist spärlich besucht. Entgegen der Gewohnheit bestelle ich ein Pils, das aus dem Hahn kommt. Beim zweiten erscheint der Portier. Ein Gespräch.

    „Herr Veltin, Sie haben ja die ganze Nacht, um sich den Vertragstext genauer anzusehen. Ich komme gerne morgen früh in Ihr Hotel und wir machen die Sache klar, ja?" Mir fehlen die passenden Worte. Der muss sehr unter Druck stehen.

    „Herr Wildmann, ich kann Ihnen das einfach nicht zusagen. Ich brauche mehr als eine Nacht für die Entscheidung, tut mir sehr leid. Ich melde mich bei Ihnen, wie besprochen." Was steckt bloß hinter dieser Eile?

    „Haben Sie eigentlich inzwischen was gehört aus Pforzheim?" Ich schüttele den Kopf. Telefonisch war Herr Wildmann nicht zu erreichen, deshalb habe ich um ein zweites Gespräch per Brief

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