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Der Sinneswandler: Unterwegs in Lateinamerika
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Der Sinneswandler: Unterwegs in Lateinamerika
eBook229 Seiten3 Stunden

Der Sinneswandler: Unterwegs in Lateinamerika

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Über dieses E-Book

Pedro ist auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Von einer Reise nach Süd- und Mittelamerika erhofft er sich Antworten auf drängende existenzielle Fragen: Was ist meine Lebensaufgabe? Wie führt man ein glückliches Leben? Wie funktioniert die Liebe? Seine Reise führt ihn von der Copacabana bis in den tiefsten Amazonas. Dabei erlebt er viele Abenteuer, die er in Nachrichten an einen Freund äußerst lebendig schildert. Durch den ständigen Wechsel zwischen der distanzierten Erzähler- und der sehr persönlichen Ich-Perspektive lernt der Leser Pedro auf seiner Reise immer wieder neu kennen. Ein zugleich lehrreicher wie spannender Roman über Lateinamerika und den Sinn der Lebensreise.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum27. Feb. 2019
ISBN9783748243465
Der Sinneswandler: Unterwegs in Lateinamerika

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    Buchvorschau

    Der Sinneswandler - Peter Theisen

    Vorbemerkung zur 1. Auflage

    Liebe Leserin! Lieber Leser!

    Sie halten die erste Auflage des Romans „Der Sinneswandler" in Ihren Händen. Das freut mich! Ich hoffe, dass Sie das Buch mit Vergnügen und Gewinn lesen werden. Vermutlich wird diese erste Fassung nur in kleiner Auflage erscheinen und nur für kurze Zeit als E-Book.

    Der Grund: ich möchte weiter daran arbeiten. Ich würde mich daher über Kritik und Anregungen sehr freuen. Vielleicht reist Pedro dann in einer zweiten, verwandelten Auflage noch sinnerfüllter durch Lateinamerika. Schreiben Sie mir einfach!

    In diesem Sinne! Viel Spaß beim Lesen!

    Peter Theisen

    Wiesbaden

    Es regnete. Kein feiner Nieselregen, sondern dicke, schwere Tropfen fielen aus der grauen Wolkenschicht. Zwei Schritte vor die Tür, und schon spürte Pedro diese unangenehme, kalte Nässe auf seiner Haut. Noch ein paar Meter zum Fahrrad, das die ganze Nacht draußen gestanden hatte. Pedro suchte in seiner Hosentasche nach einem Tempotaschentuch. Während er den Sattel trocken rieb, und dann den Lenker, sah er, dass das keinen Sinn machte. Es prasselte so vom Himmel herab, dass alles gleich wieder nass war. Also setzte er sich auf den feuchten Sattel und radelte los.

    Das Kopfsteinpflaster im Westend rüttelte ihn durch und war zudem gefährlich schmierig. Seine Jeans waren schon nach wenigen Metern durchnässt. Die Kapuze des Anoraks hatte er sich bis weit über die Stirn gezogen. Sein Gesichtsfeld war stark eingeschränkt. Egal, da musste er noch einmal durch. Auch durch die Pfützen, deren aufspritzendes Braun seine Schuhe einfärbten.

    Warum muss diese blöde Ampel immer auf Rot springen, wenn ich gerade ankomme, ärgerte sich Pedro. Wieder eine Minute länger im Regen. Er hatte noch drei Kilometer bis ins Büro vor sich. Dunkle Gedanken flossen durch seinen Kopf. Heimtückisch wie die Nässe, die das Gewebe des Jeansstoffs durchdrang.

    Deutschland im November, dachte Pedro, ist einfach nicht lebenswert. Alles ist grau. So ist das Leben ein Grauen. Ein Graus. Er wunderte sich, dass sein Gehirn selbst in schlechter Stimmung noch Wortspielereien fabrizieren konnte. Galgenhumor an Allerseelen. Irgendwie passte das ja. Er fuhr nun durch die Bahnhofsstraße und wich gerade noch dem Wasserschwall eines vorbeifahrenden Busses aus. Als er gegenüber vom Hauptbahnhof wieder an einer Ampel halten musste, hatte er jegliche Hoffnung aufgegeben, noch einigermaßen trocken im Büro anzukommen. Er triefte und schniefte. Nur jetzt nicht krank werden, dachte er.

    Er betrachtete die traurigen Gestalten auf der anderen Straßenseite. Lange Gesichter unter Kapuzen und Schirmen. Die Mundwinkel merkelig nach unten gezogen. Die Armen, dachte Pedro. Seine Stimmung besserte sich nun ein wenig, denn er machte sich bewusst, dass er ein Glückspilz war. Denn anders als die meisten grauen Gestalten hier, würde er bald weg sein. Zwei Monate in Lateinamerika. Heute war sein letzter Arbeitstag. Den würde er auch noch überstehen.

    Als er klatschnass das Büro betrat, schauten ihn die Sekretärinnen mitleidig an. Tropfen perlten von seiner Nase, doch Pedro lächelte. „Ist heute viel los? Nein? Dann würde ich gerne früher Feierabend machen. Ich muss noch Koffer packen." Mit diesen Worten ging er in seinen Büroraum und fuhr den Rechner hoch.

    Mail aus Wiesbaden

    Mein Freund, heute ist mein letzter Arbeitstag. Deshalb wollte ich mich nochmal kurz bei Dir melden. Morgen geht es ja schon los nach Südamerika. Ich habe es aber auch wirklich nötig. Das Wetter ist doch nicht auszuhalten. Ehrlich gesagt: ich will nur noch weg. Das ist doch keine Lebensqualität hier über die Wintermonate. Du gehst aus dem Haus raus, wenn es noch dunkel ist. Und wenn Du das Büro verlässt, dämmert es auch schon wieder. Das kann doch nicht gesund sein! Gut, ich weiß, Du bist nicht so wetterfühlig wie ich.

    Wie Du weißt, stecke ich gerade in einer ziemlichen Sinnkrise. Da schlägt dieses Mistwetter noch mehr aufs Gemüt als sonst. Du hast mich letztens gefragt, ob ich das wirklich durchhalten würde: zwei Monate alleine durch Lateinamerika? Wenn ich aus dem Fenster schaue, kann ich nur sagen: Alles ist besser als hier zu bleiben. Was habe ich auch schon zu verlieren? Die Beziehung ist leider futsch, und im Job trete ich auf der Stelle.

    Ich muss mir mal über einiges klar werden. Es kann ja so nicht weitergehen. Jahrein, jahraus der gleiche Trott. Manchmal zweifle ich an der Sinnhaftigkeit meines Daseins. Ist das etwa die Midlifecrisis? Wie dem auch sei: Da kann doch so eine Reise nur guttun! Klar habe ich auch Manschetten, aber Du kennst mich ja: wenn ich die Chance habe, zu neuen Ufern aufzubrechen, bin ich nicht zu halten. Irgendwie steckt wohl immer noch ein kleiner Abenteurer in mir.

    Also, mein Freund, wenn alles planmäßig läuft, melde ich mich bald aus Rio de Janeiro.

    Rio de Janeiro

    Pedro trat auf die Terrasse. Hoch oben über dem Fels kreiste ein Adler. Wie leicht er in der Luft liegt, dachte Pedro. Wie muss es wohl sein, so zu schweben? Pedro zündete sich eine Zigarette an. Der Morgen war noch frisch, die Sonne gerade erst aufgegangen. Pedro nahm noch einen tiefen Zug, dann ging er zurück in die Wohnung.

    Er fühlte sich ein wenig einsam und setzte sich an den Computer. Ich werde ein Buch schreiben, dachte er. Darin werde ich all meine Fragen stellen und vielleicht bekomme ich dann Antworten. Doch als er das leere Blatt vor sich sah, wusste er nicht, wie er anfangen sollte.

    Er ging noch einmal heraus auf die Terrasse. Inzwischen war die Sonne über den Felsen gekrochen und schien ihm direkt ins Gesicht. Das tut gut, dachte er, endlich bin ich an einem Ort, wo es warm ist. Pedro hasste die Kälte des Winters in seinem Heimatland. Ein kleiner Vogel setzte sich ganz nahe auf eine Stromleitung und begann zu trällern.

    Pedro war mit so unendlich vielen Fragen nach Brasilien gereist. Was war eigentlich seine persönliche, ureigene Lebensaufgabe? Hatte er eine? Wie führte man ein glückliches Leben? Und auch – natürlich - die Liebe. Was ist die Liebe, wie funktioniert sie? So, dass sie bleibt, gedeiht. Er hatte sie noch nicht gefunden. Oder doch? Und er hatte es nur nicht klar genug gesehen, obwohl sie vor seinen Augen war? Hatte er sie vielleicht sogar ohne Not aus der Hand gegeben, sie losgelassen und ziehen lassen? So genau wusste er das gerade nicht.

    Er wischte die Gedanken beiseite und setzte sich an den Tisch, um Portugiesisch-Vokabeln zu pauken. Pedro hatte sich vorgenommen, die Sprache besser zu lernen, um mit den Einheimischen richtige Gespräche führen zu können. Ihn reizte es, tiefer zu gehen und er liebte es, Sprachen so gut zu lernen, dass er in die Begegnungen mit Menschen anderer Länder besser eintauchen konnte.

    Eine halbe Stunde später schob er das Vokabelheft beiseite. Schließlich war er in Rio, in einer der schönsten Städte der Welt. Er trat vor die Tür und lief dann an der Kaimauer von Urca entlang. Er sah die wunderschöne Bucht von Flamengo und dahinter die Hochhäuser sowie die mal grünen, mal braunen Hügel der Stadt. Rio de Janeiro. Was für ein schöner Ort, dachte er. Ich bin ein Glückspilz, hier sein zu dürfen. Er sah die Gesichter der vorbeieilenden Menschen und wunderte sich, dass die Meisten keinen besonders glücklichen Eindruck machten. Das Land befand sich in einer schwierigen politischen und wirtschaftlichen Lage. Er kannte die Brasilianer von früheren Reisen. Und obwohl Rio eine Stadt der Kontraste war und ist, auch Armut das Leben prägt, waren ihm die Menschen immer froh und optimistisch vorgekommen. Plötzlich schien genau das zu fehlen: Optimismus und Frohsinn.

    Er gelangte auf einen Platz, der nach Nelson Mandela benannt war. Er bewunderte diesen Staatsmann, weil der so viele Jahre zu Unrecht im Gefängnis verbracht hatte - Jahrzehnte - und trotzdem nicht auf Rache gesonnen hatte. Unglaublich! Ein großer Mann, der irgendwie auch immer glücklich wirkte. Wie hatte er das hingekriegt trotz seines Schicksals? Ein bestimmt vier Meter hohes Bild von Mandela war an die Wand gepinselt. Obwohl dieser Ort so weit entfernt ist von Mandelas Südafrika, schienen die Menschen hier ihn zu verehren. Sicher hatte es damit zu tun, dass auch in Rio viele Menschen mit verschiedenen Hautfarben zusammenleben. Und: es gab zwar keine staatliche Diskriminierung wie früher in Südafrika, aber es war überdeutlich, dass es den meisten dunkelhäutigen Menschen viel schlechter ging als der weißen Ober- und Mittelschicht.

    Auf dem Platz spielten Kinder. Es gab eine große Rutsche und witziger weise auch Trainingsgeräte, die ausschließlich von Senioren genutzt werden. Es könnte ein so gutes und nicht nur schönes Land sein, dachte Pedro, wenn es nicht so viel Ungleichheit gäbe. Warum überhaupt gibt es diese eine Menschheit nur im Arm-Reich-Paket? So absurd, dass wir das nicht besser hinkriegen.

    Am Rande des Platzes entdeckte er hinter einer Bank eine junge Familie. Das Baby mochte ein halbes Jahr alt sein, die Eltern hatten ihm auf dem Kopf ein süß aussehendes Löckchen mit Schleifchen gedreht. Doch irgendetwas stimmte nicht in diesem Bild. Der Vater lag im Gras und schien zu dösen. Die Mutter streichelte abwechselnd ihn und das kleine Kind, das immer wieder davon zu krabbeln versuchte. Sie saß auf derselben schäbigen Decke, auf der auch der Mann lag.

    Pedro war sicher, dass die Familie hier draußen übernachtet hatte. Er fragte eine junge Frau, die mit ihrem Hund spazieren ging, was mit der Familie los sei. Sie sagte, dass er keine Angst zu haben brauche. „Diese Leute sind nicht gefährlich, meinte sie. Auf den Gedanken wäre er gar nicht gekommen. Er hatte gar keine Angst, sondern einfach nur großes Mitleid mit dem kleinen Baby, das unter solchen Umständen sein Dasein fristen musste. Die Frau mit dem Hund schien das nicht groß zu wundern. „Es ist normal, dass hier Menschen schlafe, sagte sie. „Sie haben kein Zuhause. Und hier ist es sogar relativ sicher für sie."

    Pedro zögerte einen Moment, ob er die obdachlose Familie ansprechen sollte. Die Mutter wirkte auf die Distanz recht freundlich auf ihn, und so ging er hin. „Leben Sie hier?, fragte er die Frau, während der Mann neben ihr weiter döste. Sie hatten nur zwei Plastiktüten, die neben der schmutzigen Decke lagen. Darin schien ihr ganzes Hab und Gut zu sein. Die Frau lächelte. Sie mochte Mitte Zwanzig sein, und obwohl sie ärmlich gekleidet war, wirkte sie nicht verwahrlost, eigentlich sogar ganz hübsch. Nur ein paar Narben an den bloßen Beinen und im Gesicht verrieten, dass sie sicher kein einfaches Leben bisher gehabt hatte. „Ja, sagte sie freundlich, „seit ein paar Tagen sind wir hier, wir haben keinen anderen Ort zum Schlafen. Pedro fragte, warum. „Ich habe meine Arbeit verloren vor einiger Zeit. Ich hatte einen kleinen Laden, eher ein Büdchen, in dem ich Nüsse und kleine Speisen verkauft habe. Ich habe nicht viel verdient, aber es reichte zum Leben. Doch dann kamen die Olympischen Spiele. Leute aus der ganzen Welt besuchten die Stadt. Da wollte der Bürgermeister den Platz mit den kleinen Lädchen nicht mehr. Er wollte dort eine moderne Straßenbahn bauen, damit die Sportler und Touristen sich schnell und bequem fortbewegen konnten. Die Lädchen wurden alle komplett abgerissen, und so verlor ich meine Arbeit. Pedro erfuhr, dass es keinen Schadenersatz oder alternative Lösungen gegeben hatte. Der Bürgermeister hatte alle Büdchen-Besitzer ihrer Existenz beraubt - von jetzt auf gleich. Was für ein Mistkerl, dachte Pedro.

    Die Frau schaute jetzt sehr traurig, doch als das Baby sich an ihren Hals warf, lächelte sie wieder. Pedro bemerkte, dass der Mann neben ihr sich bewegte. Er hatte nichts als eine Badehose an. Mit schläfrigen Augen richtete er sich auf und begrüßte Pedro freundlich. Er schien überhaupt nicht misstrauisch gegenüber dem fremden Besucher.

    „Ich heiße Bruno, sagte er. „Du scheinst aus einem fernen Land zu kommen. Warum interessierst Du Dich für unser Schicksal? Er musste schon länger mitgehört haben. „Hier in Rio interessiert das niemanden." Es machte Pedro traurig, dass die meisten reichen Menschen in Rio anscheinend wenig Mitgefühl mit den Armen hatten. Und es gab auch keine funktionierende Solidargemeinschaft. Das kleine Mädchen mit dem witzigen Schleifchen schaute Pedro erwartungsvoll an und lächelte dabei. Es konnte noch nicht ahnen, dass seine Eltern in großem Elend leben – es schien sehr glücklich zu sein und strahlte immer, wenn seine Mutter es auf den Arm nahm.

    Kleinkinder brauchen nicht viel, um glücklich zu sein, dachte Pedro. Sie denken nicht in sozialen Kategorien. Sie brauchen Liebe von den Eltern, Windeln und genug zu essen. Mehr nicht. Das kleine Mädchen hieß Clarissa, und es sah wohlgenährt aus. Seine Mutter allerdings wirkte recht mager. Pedro ärgerte sich über den Mann an ihrer Seite. Warum gab er ihr nicht genug zu essen? Deshalb fragte er Bruno, ob er keinen Job habe.

    „Leider kann ich zur Zeit nicht arbeiten, erzählte Bruno und schaute dabei traurig drein. „In Brasilien braucht man dafür ein Dokument, es heißt „Arbeitsbuch. Da stehen alle bisherigen Anstellungen drin. Aber als wir nachts auf der Straße schliefen, nicht hier, sondern im Zentrum der Stadt, da haben Diebe meine Tasche mit allen Dokumenten darin geklaut. Ich habe jetzt auch keinen Personalausweis mehr, aber am meisten fehlt mir das Arbeitsbuch, ohne das ich keine Anstellung finden kann. Früher habe ich mit einem kleinen Lastwagen Sachen ausgeliefert. Aber jetzt kann ich nur noch Nüsse auf der Straße verkaufen. Ich verdiene damit sehr wenig Geld."

    Bruno erzählte, dass er eigentlich sogar ein kleines Häuschen besitze. „Doch das liegt oben auf den Hügeln in einer sehr gefährlichen Favela. Dort handeln sie mit Drogen, und jeden Tag werden Menschen auf der Straße erschossen. Wir können dort mit unserem kleinen Kind nicht mehr hin."

    Pedro war geschockt. Er wusste, dass die Armut sehr groß und die Kriminalität sehr hoch waren in Rio. Aber jetzt wurde er zum ersten Mal direkt damit konfrontiert. Diese Familie musste draußen auf der Straße leben, weil sie nicht in ihr Haus zurückkehren konnte. Und eine bessere Bleibe konnten sie sich nicht leisten, weil sie keine reguläre Arbeit fanden. Und das nur, weil ein paar blöde Papiere fehlten. Vom Arbeitsbuch existierte nämlich keine Kopie.

    Trotz allem machten die Drei keinen unglücklichen Eindruck. Bruno meinte, dass er wohl bald wieder Ausweispapiere bekommen könnte. Allerdings würde es ohne das Arbeitsbuch schwer, eine reguläre Arbeit zu finden.

    „Ich brauche einen starken Glauben, meinte Bruno. „Aber manchmal mangelt es mir daran. Gottseidank ist meine Frau optimistischer. Es muss etwas geschehen, denn sie ist wieder schwanger. Und meine größte Angst ist, dass die Polizei uns nach Papieren fragt. Die von der kleinen Clarissa sind nämlich auch gestohlen worden. Wenn die Polizei kommt, kann sie uns das Baby einfach wegnehmen.

    Pedro fragte sich, ob Bruno und Rosana - so hieß die Frau - selbst einen Anteil Schuld an ihrer Lage tragen würden. Dann schämte er sich, dass er das überhaupt dachte. In Deutschland jedenfalls würden Leute wie Bruno und Rosana nicht so leicht auf der Straße landen. Dort gab es Hilfe vom Staat. Und dass man durch den Verlust eines Arbeitsbuches keinen Job mehr finden kann, war geradezu absurd. Er fragte die Beiden, ob er ihnen etwas zu essen kaufen dürfe, und sie nickten froh mit dem Kopf. Er brachte ihnen zwei warme Käsebrote und ein Mousse aus Acai, einer Beere, die besonders viele Vitamine enthält. Das Baby konnte das sicherlich gut gebrauchen. Sie bedankten sich herzlich, als er sich verabschiedete.

    Er war froh, dass er der Familie ein bisschen hatte helfen können. Er fühlte sich viel zufriedener als zuvor. Und Gottseidank gibt es in wahrscheinlich jedem Land dieser Welt Menschen, die eine soziale Ader haben und anderen helfen. Oder sind die Mutter Teresas dieser Welt am Ende auch weniger geworden? Er beschloss, sich in Zukunft mehr um sozial Benachteiligte zu kümmern. Die gab es schließlich auch in Deutschland.

    Er nahm sich auch vor, in Zukunft zufriedener zu sein. „Diese Leute haben wirklich Probleme, und ich jammere oft schon über Kleinigkeiten", meinte er zu sich selbst. Aber ich habe immer genug zu essen, eine schöne Wohnung und genug Geld zum Reisen. Trotzdem sind diese Leute vielleicht gar nicht unglücklicher als ich. Sehr seltsam, dachte Pedro, wie schnell man mit etwas unzufrieden sein kann, obwohl es einem materiell ausgezeichnet geht.

    Andererseits hatte Bruno ihm etwas voraus. Obwohl der viel jünger war als er selbst, hatte der schon eine Frau und bald zwei Kinder. Pedro spürte leichten Neid aufkommen. Aber das ist doch nicht möglich, dachte er. Wie kann ich allen Ernstes Menschen beneiden, die auf der Straße leben und kaum genug zu essen haben?

    Er blickte noch einmal zurück. Immer noch schauten ihm Rosana und Bruno nach und winkten. Eine schöne Erkenntnis: Anderen helfen macht glücklich. Pedro lief zurück nach Urca, um das aufzuschreiben. Er dachte: Das sind die Mosaiksteine, die ich für mein Buch gut gebrauchen kann. Die muss ich suchen und sammeln - wie ein Goldschürfer…

    Mail aus Rio de Janeiro

    Mein Freund, Du

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