Grabgeflüster: Das Böse ist unter uns
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Buchvorschau
Grabgeflüster - Ernst Friedrichsen
Grabgeflüster
Es ist endlich Wochenende! Das hat aber auch gedauert. Genau gesagt ist schon Freitagnacht, ich weiß nicht genau … null Uhr? Ich habe die Nase voll von dem täglichen Trubel. Mein Job bei den Husumer Nachrichten macht Spaß, aber er schlaucht zuweilen und dann ist es sehr erholsam, die Beine lang zu machen.
Meine Verlobte liegt bereits im Bett und schläft, ihr Schnorcheln dient als Hintergrundmusik für den Film, den ich mir ansehen will. Ich bin müde, aber noch nicht schlafwillig … dass mir die Augen zufallen merke ich gar nicht. Ob ich träume oder ob es der Film ist … keine Ahnung.
Dass ich beim Fernsehen einschlafe kommt nicht selten vor, das passiert, ohne dass ich es bemerke. Ich erinnere mich genau: Vor einem Jahr – ich war hellwach, hatte mir ein Bier bereitgestellt und wartete auf meinen Lieblingsfilm – sah ich den Vorspann und freute mich … und dann kam auch schon der Abspann. Den Film samt Werbung hatte ich verschlafen. Mein Name ist Thomas Weißroht, nicht zu verwechseln mit Pommes rot-weiß, und mir passiert so was öfter.
Nun liege ich also wieder auf dem Sofa, unbequem, aber was tut man nicht alles fürs Fernsehen. Ein Bier steht auf dem Tisch und ein zweites unterm Tisch. Es ist wie gesagt Mitternacht durch, wie ich vermute, und ich werde von einem seltsamen Geräusch, einem Knall, aus dem Fernsehschlaf gerissen. Etwas Kräftiges schlägt mir auf die Schulter. Ich schieße hoch … und falle vom Sofa. Im Fernsehen läuft irgendetwas Schmalziges Liebesromantik mit Landschaftsbildern und einlullender Musik. Ich habe meinen Film verschlafen. Na so was. Da war kein Knall. Auch war mir, als hätte ich einen Blitz wahrgenommen. Ob es gewittert? Ich sehe aus dem Fenster, aber der Himmel ist frei von Wolken und die Sterne funkeln, kein Mond am Firmament. Die Straße ist menschenleer.
Ich gehe ins Bett. Ich habe Wochenende, sage ich mir und bin ganz gerädert vom Sofa. Das ist einfach kein Ort zum Schlafen.
Martinshorn-Gedröhne reist mich erneut aus den Schlaf, diesmal im Bett. Ich sehe auf den Wecker: 3 Uhr morgens. Blaulicht kurvt nervend an der Zimmerdecke. Wir sitzen beide senkrecht im Bett … wach und sauer zugleich.
»Was für eine Scheiße ist denn nun schon wieder?« Ich sehe vorwurfsvoll meine Verlobte an.
Die Ärmste zuckt nur mit den Schultern und legt sich wieder hin. Ich gehe ans Fenster und sehe nach draußen. Am Grab von Storm … Ich kann von meinem Schlafzimmer hinschauen. Zu weit entfernt, um Einzelheiten zu erkennen, aber in der Straße stehen Streifenwagen und ein Krankenwagen, die Feuerwehr mit zwei Fahrzeugen und die Spurensicherung trudelt auch gerade ein – ich kenne berufsbedingt die Fahrzeuge zur Genüge. Aber es tauchen auch Fahrzeuge der Bundeswehr auf. Man beginnt sofort mit dem Absperren. Mit leistungsstarken Lampen wird der Bereich ausgeleuchtet. Die ersten Anwohner laufen zusammen …
Ich schnappe mir meinen Fotoapparat, ziehe mir einhändig Hose und Schuhe über, dann renne ich los.
»Bitte weitergehen, nicht stehenbleiben!« Die Ansage ist deutlich. Kein Zweifel: Notfalls würde die Aufforderung auch mit Gewalt umgesetzt.
Ich taste mich heran und suche den Augenkontakt zu einem bekannten Beamten.
Der gibt mir einen Rat: »Geh lieber weiter und mach auf keinen Fall Bilder, das gibt nur Ärger.« Sachte aber bestimmt drückt er mich von der Absperrung weg. Dann geht er schnell wieder auf seinen Posten.
Ich versuchte einen anderen Weg, aber alle Zugänge sind schon abgeriegelt. Aber wozu wohne ich im ersten Stock?
Ich laufe schnell zurück nach Hause und krame mein Teleskop vom Schrank.
Meine Verlobte steht nun auch am Fenster. »Was ist da los?«, fragt sie.
»Ich habe keine Ahnung, aber die machen einen Aufstand, als sei der Papst erschossen worden.«
Ich kann trotz Teleskop nichts sehen, alles ist mit Sichtschutzplanen verdeckt. Außerdem sind da mittlerweile zu viele Menschen. Aber wozu gibt es Telefone? Ich habe die Handynummer vom Chef der Spurensicherung und der tobt da ja auch rum …
Nach dem fünften Klingeln geht er ran. Ich spüre seine Anspannung bis zu meinem Fenster.
»Kannst du mir sagen, was da los ist?«, frage ich ihn.
»Mensch Thomas, leg auf.« Er drückt mich weg.
Ich betrachtete den Hörer, als wäre der schuld..
Ich hänge mich nun enthusiastisch aus dem Fenster. Meine Verlobte hält mich fest, denn sie befürchtet, ich könnte abstürzen. Aber diese Neugier … Ich kann deutlich erkennen, wie man etwas in einen Bundeswehrlaster lädt, obwohl man sich bemüht, auch das durch Sichtschutzplanen zu verdecken. Der Lkw fährt mit Streifenwagenbegleitung und Blaulicht los. Ich mutmaße, dass sich vielleicht ein Soldat das Leben genommen hat … hatten wir schon vor vielen Jahren: Mit einer Handgranate hatte der sich den ganzen Kopf weggeblasen, sein Hirn hing im Geäst der Sträucher.
Ich beschließe, das Wochenende Wochenende sein zu lassen, und lege mich wieder hin, schlafe auch auf der Stelle ein.
Ich erwache durch das Herumfuhrwerken meiner Verlobten, die freundlicherweise den Haushalt regelt, aber keine Rücksicht auf meinen Schlafbedarf nimmt.
»Ich gehe duschen«, rufe ich ihr durch die geschlossene Tür zu. Das heißt so viel wie: Mach schon mal Kaffee. Wahre Liebe kann man nur mit Kaffee ausdrücken.
Ich bekomme keine Antwort.
Ich dusche ausgiebig. Mir fehlt etwas Schlaf, darum gibts zum Abschluss einen kalten Schauer zum Erwachen. Ich bekomme eine Gänsehaut, aber es erfrischt.
Am Tisch versuche ich, die Kaffeekanne in der Hand, die Gedanken an die letzte Nacht zu verdrängen.
»Wir haben keine Brötchen … oder möchtest du Brot?« Sie hat eine Tüte mit altbackenen Resten in der Hand.
»Ich gehe ja schon«, murre ich und stehe auf.
Was man nicht im Kopf hat, hat man in den Beinen. Diese alte Weisheit schlauer Denker führt mich zum Bäcker. Dabei komme ich am Grab von Storm vorbei, das auf der anderen Straßenseite liegt. Die Absperrungen sind entfernt, alles sieht aus wie immer.
Die Neugier treibt mich über die Straße – nicht nur die berufliche. Ich werfe einen sichernden Blick in alle Richtungen und bemerke dann gleich etwas Bemerkenswertes: Da ist an der Wand zum Kloster ein verbrannter kreisförmiger Fleck, ein knapper halber Meter im Durchmesser, zwischen zwei Fenstern … mit deutlichen Kratzspuren – ich vermute, die Spurensicherer haben da ihre Proben abgeschabt. Ich gehe hin und fahre mit der Hand drüber … es fühlt sich an wie Eingebranntes in der Pfanne, es riecht aber nicht nach Verbranntem. Ich sehe mich genauer um: Nichts Ungewöhnliches zu sehen.
Die Brötchen!, schießt es mir durch den Kopf und ich will gehen, da sehe ich etwas am Boden liegen; sieht aus wie eine Schuhsohle, aber es ist keine. Ich stupse mit dem Fuß dagegen, denn es könnte auch von einem Hund verloren geworden sein, vom hinteren Ende, aber nein … Ich beschließe, es mitzunehmen und, bücke mich danach. Es fühlt sich ledrig, gummiartig an.
»Was machen Sie da? Da haben Sie nichts zu suchen!«, sagt eine Männerstimme harsch.
Ich schrecke auf. »Meine Senkel sind aufgegangen und ich schnüre sie nur zu«, sage ich schnell und stecke mir das Fundstück in den Schuh.
Ich richte mich auf und gucke, wer mich da unterbrochen hat. Es ist ein Uniformierter, der wie aus dem Nichts aufgetaucht ist. Ich hatte ihn vorher nicht bemerkt.
Der Bursche schaut mir auf die Hände und ungefragt zeige ich die diese vor, erwische mich bei einem Schuldgefühl. »Bin auf dem Weg Brötchen zu holen.«
»Dann machen Sie hin.« Der Mann wirkt gereizt, bleibt aber freundlich.
Nach dem Frühstück … das Teil steckt immer noch in meinem Schuh, lege ich es auf den Tisch und betrachtete es von allen Seiten. Es hat einen kaum wahrnehmbaren Hauch von verbranntem Haar und das auch nur, wenn man es sich genau unter die Nase hält. Es fühlt sich ledrig an aber eher so wie Teer, lässt sich biegen, ohne zu brechen … Ich nehm eine Lupe. Alles was ich erkennen kann ist, dass es etwas geschmolzen ist, aber was es ist, bleibt mir ein Rätsel. »Was hast du da?« Meine Verlobte nimmt mir das Ding aus der Hand, betrachtet es von allen Seiten, biegt und verdreht es. Es krümelte etwas ab, sieht aus wie Asche. Dann die unausweichliche Frauen-Logik: »Du brauchst ein Labor.«
Ein Gedanke, der unvermittelt und notgedrungen auftaucht. Da gibt es einen studierten Schulfreund– wozu sind solche Kontakte nütze, wenn man die nicht nutzt? Der arbeitet in Kiel in einem Labor für die Pharmaindustrie.
Ich rufe ihn an und erkläre ihm, was ich möchte.
Er sagt: »Brings vorbei.«
Ich fahre, mehr oder weniger noch mit Brötchenresten im Mund, los nach Kiel.
In seinem Keller betreibt Bernhard ein Labor, zusammengeschustert aus ausgemusterten Geräten.
Er betrachtete meinen Fund von allen Seiten. »Komisches Teil.«
»Ich weiß auch nicht, was es ist.« Ich sehe ihm über die Schulter.
»Das haben wir gleich.«
Mit einer Zange zwackt er Bruchstücke ab und gibt sie in verschiedene Lösungen.
»Das ist ja … Ich wiederhole den Test zur Sicherheit noch mal. Nimm dir noch Kaffee, das kann dauern.« Dabei schaut er mich mit einem Gesicht an, das nichts Gutes vermuten lässt.
Ich setze mich in seine Küche und spiele mit seinen drei Kindern Schwarzer Peter.
Dann der Ruf aus dem Keller: »Thomas, magst mal kommen?«
Ich springe auf und flitze los. Die Kinder machen lange Gesichter.
»Was hast du gefunden?«, frage ich erregt.
Er steht mit einem Bier in der Hand da und schluckt schwer. »Das sind eindeutig menschliche Überreste, verschmolzen mit Kleidung – ein Gummiregenmantel könnte ich mir denken – und Knöpfen eines Hemdes. Das Opfer muss sehr großer Hitze ausgesetzt gewesen sein, das Wasser in den Zellen ist in einem Moment verdampft und die Zellen sind geplatzt, alles ist zusammengeschmolzen, bei tausendfünfhundert Grad vermute ich. Das muss vom äußeren Rand des Feuers sein … nicht heiß genug, um zu verbrennen, aber die umgebende Kleidung, größtenteils eine Nylon-Mischung wurde heiß genug, um flüssig zu werden und zu einer Pampe zu verkleben. Der Rest, der dieser Hitze direkt ausgesetzt war, dürfte schlagartig verdampft sein, ohne Spuren zu hinterlassen. Am Ort des Geschehens müsste reichlich Asche vorhanden sein. Genaueres kann nur ein spezielles Labor herausfinden …« Es klang wie: Ich hätte da lieber nichts mit zu tun. Aber ich kenne ihn, schon zur Schulzeit war er der Ängstlichere von uns, aber immer der, der vorne mitmischen musste.
Ich frage: »Wüsstest du eins?«
»Ja, mein Dozent von der Uni hat die Möglichkeit. Der arbeitet in einem Molekular-Labor. Wir tauschen uns ständig aus. Ich will nicht so weit gehen und uns Freunde nennen, aber ja, der wird uns helfen. Ich werde ihm das schicken. Wo hast du das gefunden?«
»Durch Zufall. Magst mir das einmal teilen?«
Er hat Mühe, es mit einer Schere zu zerschneiden. Ich wundere mich, dass er so unbefangen an diesem Leichenteil-Dingsbums rumschnippelt.
Ich stecke meine Hälfte in die Hosentasche und mache mich nach lässigem Dank auf den Heimweg.
Auf der Heimfahrt beschließe ich, den Ort beim Grab von Storm genauer unter die Lupe zu nehmen, und schon spekuliere ich schon mal wild drauf los: Die Bundeswehr hat eine neue Art von Waffe entwickelt und jemand ist damit getürmt. Ich sehe Schlagzeilen und meinen Namen in den Medien als Retter der Nation. Schön, schön. Na, mal sehen.
Zu Hause stelle ich mein Auto ab und gehe zu Fuß zum Grab von Storm, aber da ist die Bundeswehr mittlerweile schon eifrig dabei, alle Spuren zu beseitigen. Mit Hochdruckreinigern, Harke und Besen wird alles penibel gereinigt, jedes Staubkorn beseitigt. Ich komme zu spät. Was ich noch zu finden erwartet habe, weiß ich sowieso nicht, die Experten von der Spurensicherung haben ja schon alles umgegraben, aber das verschmorte Teilchen ist ihnen ja auch entgangen.
Ich nehme mein Handy und frage bei den Kollegen in der Redaktion nach, was die inzwischen über diese Nacht wissen, aber Pustekuchen: keiner hatte eine Ahnung … wird wohl nichts von Bedeutung sein, meinen sie. Ich spüre Frustration, sehe eine Bombenstory davonschwimmen … Du spinnst dir da was zusammen, sage ich mir. Was soll da schon groß hinter stecken … Die Bundeswehr ist zwar maximal für Deichrettungen zuständig, solange kein Krieg herrscht, aber … Hm. Und warum wischen die erst jetzt auf? Verschlafen? Einer Berufsarmee sollte das nicht passieren. Na ja … Ich betrachte das Treiben. Eine Person mit viel Glitzer auf der Schulter bedeutet mir, dass ich ein Zuhause hätte, das ich am besten von innen betrachten sollte. Ich gehe mal lieber.
Meine Verlobte begrüßt mich mit einem Kuss. »Wo warst du solange?«
»In Kiel bei Bernhard Grönemann, meinem alten Schulfreund.«
Ich gehe an ihr vorbei ins Schlafzimmer ans Fenster. Meine Verlobte stellt sich neben mich und lehnt ihren Kopf an meine Schulter.
»Die sind schon den ganzen Tag dabei aufzuräumen. Die haben etliche Müllbeutel auf einen Laster geladen. Und Neugierige davongejagt. Einem haben die das Handy zertreten, weil der ein Bild gemacht hat. Meinst du, die haben was zu verbergen?«
»Die Soldaten haben das Handy zertreten?« Ich schaue ihr in die Augen.
»Nein, zwei in Zivil … die waren außerordentlich aggressiv.« »Aha?«
»Ja. Keiner durfte stehen bleiben, jeder wurde unmissverständlich weggejagt. Ich habe versucht, mit deiner Kamera Bilder zu machen.«
Ich sehe ihr in die Augen. »Du bist eine Wucht.« Und sehe mir sofort die Aufnahmen an: Alle verwackelt und unscharf.
Sie schaut bedrückt drein. »Nicht gut? Ich bin eben kein Profi.« Sie zieht traurig die Schultern hoch.
Ich küsse sie und lege die Kamera wortlos wieder auf den Schrank.
»Ich habe Hunger, gehen wir was beißen. Ich lade dich ein«, sage ich, aber nicht als Trost – ich habe einfach Hunger, schließlich war ich den ganzen Tag auf Achse.
»Wo? Können wir chinesisch essen?«
»Nein, mag ich nicht. Hab auch keine Ahnung. Wir gehen einfach durch die Stadt und wo es uns gefällt, da fallen wir ein.«
Spät nachts – im Kino waren wir auch – kehren wir heim. Auf der Höhe vom Storm-Grab bleibe ich stehen und sehe über die Straße, die von den Lichtern der Häuser und Laternen in ein Schatten-Licht-Spiel getaucht wird. Ich gehe – ich muss einfach – über die Straße. Meine Verlobte begleitet mich ohne zu zögern. Ich will noch sagen: Bleib besser da, aber lasse es dann doch.
So stehen wir im Halbdunkel der Stadt vor Storms Grab, unsere Schatten fallen dorthin, wo wir unsere Augen haben, und wir sind uns dadurch selbst im Wege.
»Was suchen wir?« Eine Frage, die nur Frauen mit ihrem klaren Blick fürs Unwichtige stellen können.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
Sie ergreift meine Hand. »Komm, lass uns nach Hause gehen und noch was mit der Nacht anfangen.« Sie lächelt mich vielsagend an. Beim Gehen streift sie mit den Fingerspitzen über den Deckel der Gruft, schaut mich an und fragt: »Kann es mit dem Storm zusammenhängen?«
Ich lege mein Ohr auf den Betondeckel – mit Kopf natürlich –, mache ein ernstes Gesicht und höre … natürlich nichts. »Da ruft einer!«, sage ich frech und gehe einen Schritt vom Grab zurück.
»Sollen wir den Deckel öffnen … die Polizei rufen?«
Ich grinse blöde und lache laut los.
Sie boxt mir in den Magen. »Du Arsch«, sagt sie. »Los, ich will nach Hause.«
Ich folge ihr. Mir ist auch nicht wohl … Nicht das ich mir erklären kann, woher dieses Gefühl kommt, es