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Marie - Ein stiller Tod: Mord in Bonn
Marie - Ein stiller Tod: Mord in Bonn
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eBook318 Seiten4 Stunden

Marie - Ein stiller Tod: Mord in Bonn

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Über dieses E-Book

Vorweihnachtsstimmung kommt bei den beiden Bonner Kriminalhauptkommissaren Margot Lukas und Fabian Faust erst einmal nicht auf. Sie haben einen ganz besonderen Fall zu lösen: Wenige Stunden, nachdem sie ihre Pflegetochter getötet hat, wird die Mörderin umgebracht und zwar auf die exakt gleiche Weise.
Nun müssen Margot und Fabian den Mörder der Mörderin finden. Und das, obwohl die beiden viel mehr interessiert, warum das kleine Mädchen sterben musste.
Vor allem Margot macht der Fall mehr zu schaffen, als ihr lieb ist.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Lempertz
Erscheinungsdatum13. Aug. 2018
ISBN9783960582731
Marie - Ein stiller Tod: Mord in Bonn

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    Buchvorschau

    Marie - Ein stiller Tod - Ditmar Doerner

    schmoren!

    Kapitel 1

    Ich bleibe noch einen Augenblick vor dem Hauseingang stehen. Die Luft ist ungemütlich feucht und kalt, vor zwei Stunden hat es erneut begonnen zu schneien. Dicke, nasse Schneeflocken, die am Boden augenblicklich schmelzen.

    Langsam schaue ich nach oben. Die Wohnanlage ist vierstöckig, drei graue, versetzt gebaute Quadrate aus den 70er Jahren. Aus ein paar geöffneten Fenstern schauen Mieter auf uns herab. Zigarettenspitzen glühen orangefarben in der Dunkelheit. Ein älterer Mann winkt lächelnd, als hielte er das Ganze für eine Fernsehshow, und ich schaue weg. Es ist trostlos, immer wieder festzustellen, dass Leid mehr Aufmerksamkeit erregt als jedes andere Empfinden. Mein Blick wandert zu der braun-grünen Rasenfläche links von der Anlage. Ein trostloses Klettergerüst mit einem aufgehängten Reifen und zwei schmutzig wirkenden Schaukeln rostet vor sich hin. Die Rutsche daneben ist vielleicht vor Ewigkeiten einmal rot und gelb gewesen.

    Eine alte Frau in einer dicken Strickjacke und einer ballonartigen Hose neben mir beobachtet ihren kleinen Hund. Das Tier hockt mit gespreizten Hinterläufen nur einen Meter neben der rostigen Rutsche und verrichtet dort sein Geschäft. Der Schatten des Hundes auf dem Rasen zittert, angestrahlt vom Lichtschein, der aus den Fenstern fällt.

    Ich sträube mich, ins Haus zu gehen. Ich möchte nicht hinein, nicht jetzt und nicht später. Ich weiß, was mich erwartet … Kinder sind das Schlimmste.

    Die Meldung über Funk ist nur kurz gewesen, aber Fabian wusste schon so viel, dass das Mädchen in Bad Honnef erst acht gewesen ist. Ich krame in meiner Manteltasche, um irgendetwas zu tun, vielleicht finde ich ein Hustenbonbon, einen Kaugummi oder sonst etwas. Nachdem der kleine Köter sein Geschäft beendet hat, trollt er sich geduckt zu seinem Frauchen. Sie nimmt ihn sofort in die Arme, versteckt ihn vor Kälte und Nässe unter ihrem weiten Mantel, ohne ihn sauber gemacht zu haben.

    Ich schließe die Augen, drehe den Kopf nach rechts und öffne sie wieder. Der Notarztwagen steht immer noch halb auf dem Bürgersteig. Das Blaulicht wirbelt lautlos auf dem Dach des Wagens. Die Hecktüren sind weit geöffnet, die Trage verschwunden. Hinter dem Notarztwagen parkt ein orangefarbener alter Golf. Ich erinnere mich, dass ich zu Studienzeiten mal einen ganz ähnlichen gehabt habe. Einmal hat er es sogar bis nach Südspanien geschafft mit mir und meinem damaligen Freund … Conil. Zwei Jahre später ist der Golf dann eines Tages auf dem Weg zur Polizeihochschule Münster einfach stehen geblieben. Ich weiß noch, dass ich ihn reparieren lassen wollte, aber die Werkstatt, in die ich ihn damals bringen ließ, sagte mir, dass ich mir für die Kosten der Reparatur fast einen neuen kaufen könnte.

    Ich schaue auf die Uhr und merke, dass ich mich mit solchen unnützen Gedanken nur abzulenken versuche. Meine Hände bleiben ruhig, ich versuche mich zu entspannen. Fast vorsichtig, als trüge ich Ledersohlen auf einer Eisfläche, mache ich einen Schritt nach vorne, dann noch einen. Ich betrete die Wohnanlage.

    Kapitel 2

    Ich steige die Treppen hoch, langsam, jede Stufe wird schwerer. An der Wohnungstür bleibe ich stehen und atme tief durch. Die Tür ist angelehnt und ich drücke sie auf. Das Licht im Flur ist schummrig, fast dunkel. Ein blauer Läufer bedeckt größtenteils die schwarz-grauen PVC-Quadrate. Links neben der Tür, in einer Ecke, stehen zwei Paar Kinderschuhe und ein kleines Paar pinkfarbener Hello-Kitty-Gummistiefel, die fein säuberlich nebeneinander aufgestellt wurden. Daneben ein großer tönerner Topf mit zwei Regenschirmen. Es riecht nach Duftspray. Vielleicht Nadelholz oder Moos, etwas Herbes. Ich gehe ein paar Schritte weiter und schaue in den Raum links, die Küche. Eine beleibte Frau sitzt an einem Tisch und weint. Die grauen Locken, die ihr wirr vom Kopf stehen, zucken heftig. Ich schätze sie auf Mitte fünfzig. Sie trägt eine Art Küchenkittel, so dunkel und nichtssagend, wie ich sie nur von den Großeltern aus meiner Jugendzeit kenne.

    Ein Notarzt redet leise auf die Frau ein. Ich bleibe stehen, so als habe ich aus einem Versehen heraus diese Wohnung betreten und das erst jetzt bemerkt, und schaue mich um. Am Ende des Flures erkenne ich das Badezimmer. Ich sehe Fabian und den Kollegen Peter Braun von der Spurensicherung in ihren Plastikanzügen auf dem Boden knien. Peters Anzug ist bei seiner Größe natürlich viel zu klein, der Gummizug der Hosenbeine endet knapp unterhalb seiner Knie. Ich frage mich wieder, was es in seinem Fall überhaupt für einen Sinn hat, solch einen Anzug zu tragen. Die Flusen, die sich von seinen Hosenbeinen lösen, könnten uns auf eine falsche Fährte lenken.

    Peter wirkt wie immer ruhig und abgeklärt, nichts scheint ihn erschüttern zu können, nichts und niemand. Kurz frage ich mich, ob er Drogen nimmt. Dann merke ich, wie kaputt es ist, so etwas zu denken.

    Jemand anderes, den ich nicht erkennen kann, macht Fotos. Weiße Blitze zucken durch den Raum. Nach dem, was Fabian mir gerade eben zugeraunt hat, empfinde ich kein Mitleid mit der Frau, die in der Küche weint. Fabian sagte mir, dass es Spuren gibt, die darauf hindeuten, dass sie das Kind unter Wasser gedrückt haben könnte.

    Fabian ist der Kollege, mit dem ich ein Büro und häufig die Fälle teile. Wäre ich eine Figur in einem amerikanischen Kriminalfilm, würde ich sagen, er ist mein Partner. Fabian ist das genaue Gegenteil von mir: Klein, eher dick, obwohl er seit neuestem versucht, Sport zu machen, und fast immer ohne jeden Zweifel an seinem eigenen Handeln. Er hat bereits einige Zeit in Asien verbracht – ich denke, es war Bangladesch. Dort hat er mitgeholfen, eine Polizeiakademie aufzubauen oder so etwas. Daher kommt wohl auch seine innere Ruhe. Wenn ich wieder einmal ungehalten oder missmutig bin, hält er mir immer wieder vor, wie gut wir es doch hier haben. Ich entgegne ihm dann meist nur, dass seine eher positive Weltsicht wahrscheinlich daher rührt, dass ich es in den allermeisten Fällen bin, die die unangenehmen Aufgaben übernimmt. Fabian ist mit einer wirklich sympathischen, hübschen Frau verheiratet, mit der er zwei Kinder hat. Familie nennt man das wohl, auch da hat er mir etwas voraus. Außer ein paar ehemalige Freunde habe ich nichts vorzuweisen. Dafür, dass ich seit vier Jahren allein lebe, habe ich mich bis vor kurzem fast geschämt, mittlerweile macht es mir nichts mehr aus. Ich empfinde das nicht als Makel.

    Das, was der Notarzt vorgefunden hat, war für ihn so merkwürdig, dass er uns sofort gerufen hat. Ich sehe kurz in den Spiegel über einer braunen Kommode, mein Gesicht ist milchig weiß und wirkt ausgesprochen ungesund. Das wenige Make-up, das ich am Morgen aufgetragen habe, hat sich im Laufe des Tages verflüchtigt. Ich seufze lautlos, versuche mein Gegenüber anzulächeln und gehe Richtung Badezimmer.

    Auf mein Klopfen am Türrahmen drehen sich drei Augenpaare zu mir. „Guten Abend, die Herren!", sage ich.

    „Von wegen ‚Guten Abend‘! Peter kommt mit ausgebreiteten Armen auf mich zu, was bei seiner Reichweite wirkt, als versuche er zu fliegen. „Zieh dir erstmal was über, bevor du hier reinkommst.

    Ich schaue mich um und finde im Tatortkoffer mehrere Schutzanzüge, Mundschutz, Handschuhe und Schuhüberzieher. Während ich die Sachen anziehe, beobachte ich die arbeitenden Kollegen. Niemand sagt etwas, nur ab und zu fallen kurze Sätze.

    Ich betrete den Raum. Die Luft hier ist wärmer und stickiger als im Flur. Fenster und Spiegel sind beschlagen. Ich frage mich, an was das liegt. War bis vor kurzem die Tür geschlossen? Lief die Heizung auf vollen Touren oder war die Badewanne mit heißem Wasser gefüllt? Es ist ein gewöhnliches Badezimmer, wahrscheinlich aus den 60er, 70er Jahren, ein bisschen alt und antiquiert, aber auf den ersten Blick sauber. Zwei Handtücher hängen ordentlich links vom Waschbecken, ein Stück Seife liegt neben einem Becher, aus dem drei Zahnbürsten ragen, zwei große und eine kleine. Gelb, orange und blau.

    Ich schaue mir diese unwichtigen Dinge sehr genau an und weiß, dass ich wieder nur Zeit schinde. Dann gehe ich in die Hocke.

    Das tote Mädchen liegt auf der Seite, die kurzen, dünnen Beinchen sind leicht angewinkelt, die Hände liegen gefaltet vor den schmalen Knien. So als wäre sie während des Nachtgebetes eingeschlafen. Die Kleine sieht hübsch aus. Acht Jahre. Die Augen des Kindes sind noch offen, der Mund ist ebenfalls leicht geöffnet und ich sehe ihre weißen Zähne.

    „Was weißt du?", frage ich leise.

    Fabian verlagert sein Gewicht auf das andere Bein und schaut Richtung Flur. Er schnauft, und ich kann nicht entscheiden, ob es eher sein Gewicht oder das tote Kind ist, das ihm zu schaffen macht.

    „Ich weiß es noch nicht, sagt er leise, „aber was die Mutter erzählt, passt irgendwie nicht. Sie behauptet, die Kleine habe nicht abwarten können zu baden. Sie sei einfach in die Wanne geklettert, als sie selbst gerade etwas in der Küche machen musste. Er schaut mich herausfordernd an. „Kannst du dir das vorstellen?"

    Ich bemerke einen unterdrückten Zorn bei Fabian, der mir bislang nicht aufgefallen war. Es macht ihn mir noch sympathischer, weil ich nun weiß, dass es das tote Kind ist, das ihn aus der Fassung bringt. Es gibt also doch etwas, das er nicht ruhig wegatmen kann.

    „Hat sie gesagt, ob das so lange gedauert hat, dass die Kleine in der Zeit ertrinken konnte?"

    Fabian verzieht den Mund, und ich weiß nicht, ob das eine Antwort sein soll, sage aber nichts. Ich richte mich auf und bemerke wieder einmal seine lichte Stelle mitten auf seinem Kopf. Ich überrage ihn um fünfzehn Zentimeter, aber er ist einer der wenigen kleinen Männer, die sich von Körperlänge nicht einschüchtern lassen. Auch das gefällt mir an ihm.

    „Steht da etwas auf dem Ofen, das sie gekocht haben könnte?", frage ich.

    „Ja, Spiegelei. Fabian schaut Richtung Küchentür. „Aber das heißt ja nichts.

    Von irgendwoher höre ich Musik. Entweder aus der Wohnung nebenan oder der Küche. Ein Weihnachtslied, irgendetwas Amerikanisches im Bing-Crosby-Stil. Viel Schmelz, viel Glückseligkeit, Tradition und Frieden.

    Ich schaue wieder auf das tote Kind und mein Kopf beginnt zu schmerzen. Ihre Fingerkuppen sind immer noch runzlig vom Wasser, so als sei sie gerade erst aus der Wanne gehoben worden. „Acht Jahre?", frage ich.

    „Ja. Sagt die Pflegemutter. Acht Jahre, Marie."

    Plötzlich höre ich ein Gluckern über mir. Ich schaue hoch und bemerke zwei dicke, weiß gestrichene Rohre unter der Zimmerdecke. So etwas wird seit Urzeiten nicht mehr so verlegt. Vielleicht ist das Haus doch älter, als ich gedacht habe.

    „Die Pflegemutter sagt das, wiederhole ich, als würde das etwas erklären. „Seit wann war die Kleine hier?

    „Seit einem halben Jahr. Wir haben das Jugendamt verständigt. Da kommt vielleicht noch einer."

    Ich schaue aus dem Fenster. Es ist immer noch beschlagen, außer der Dunkelheit draußen und den langsam nach unten laufenden Kondenstropfen innen ist nichts zu erkennen. „Hat jemand schon mit den Nachbarn gesprochen?"

    „Nein. Fabian schüttelt den Kopf. „Ich bin nur vier, fünf Minuten vor dir gekommen.

    Plötzlich hören wir zu unseren Füßen ein Seufzen. Ich fahre entsetzt zurück und trete rückwärts gegen die Trage des Notarztes. Auch Fabian starrt auf das Kind, das sich aber nicht rührt. Ein wenig Wasser läuft ihr aus dem Mund.

    „Das ist nur Luft, die entweicht, das solltet ihr eigentlich wissen. Peter schüttelt ärgerlich den Kopf, als sei er böse, dass ich die Fassung verloren habe. Einen Augenblick ist es still, dann fragt er: „Braucht ihr noch etwas?

    Ich betrachte den Oberkörper des Kindes. Was ist das für eine Frage? Wir brauchen alles, wir haben gar nichts. „Was sind das für Flecken auf den Schultern?"

    Peter nickt langsam. „Das wird sich Mateus sicher genauer anschauen."

    „Der Notarzt vermutet, sie könnte unter Wasser gedrückt worden sein, oder?, frage ich leise. Ich schaue in die Wanne. Ein blauer Gummielefant verharrt wie zementiert auf der Wasseroberfläche. „Hat die Pflegemutter gesagt, dass das Mädchen nicht schwimmen konnte?

    Fabian und Peter nicken.

    Ich will das Fenster öffnen, bemerke aber, dass der Griff mit einer Plombe gesichert ist. Kurz frage ich mich nach dem Grund, denke dann aber, dass das keine Rolle spielt.

    Langsam gehe ich Richtung Küche. Ich atme tief durch und versuche mich wieder zu entspannen. Es ist jetzt wichtig, unvoreingenommen zu sein.

    Der Herd ist voller Fettspritzer. Auf dem Ceranfeld steht eine große Pfanne mit vier fast verkohlten Spiegeleiern. Die Spüle daneben ist trocken gewischt. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes steht neben einem leeren, gelben Aschenbecher ein elektrischer Mini-Weihnachtsbaum. Auf einem der Stühle am Tisch sitzt die dicke Frau nach vorne gebeugt, den Kopf in beide Hände vergraben.

    Ich höre sie schluchzen, fühle aber kein Mitleid. Es gelingt mir nicht, unvoreingenommen zu sein, mir kein Bild von ihr gemacht zu haben, nach dem, was ich von Fabian gehört habe. Mit ihren grau-schwarzen Strähnen, einer etwas zu engen dunkelroten Bluse und der grauen Trainingshose wirkt sie klassisch vernachlässigt. Sie schaut nicht auf, als ich mich setze.

    Der Notarzt sitzt der Frau gegenüber. Er ist jung, vielleicht Anfang dreißig. Trotz der klobigen Notarztkleidung wirkt er sportlich. „Dr. D. Walinska lese ich auf einem blauen Aufnäher in Brusthöhe. Ich nicke ihm kurz zu, dann spreche ich die Frau an: „Frau Rist, darf ich Sie etwas fragen?

    Sie schaut immer noch nicht hoch. Ich will ihr Gesicht sehen, ihre Augen, ich bin ungeduldig. „Frau Rist, was ist mit Marie passiert?" Vielleicht sollte ich sie berühren, meine Hand auf ihre legen oder ihre Schulter streichen, aber das kann ich nicht.

    Eine Windböe trifft das Küchenfenster und die Blättchen einer kleinen Birkenfeige auf der Fensterbank zittern kurz. Ich warte auf eine Antwort, aber die Frau bleibt still.

    Der Arzt schaut mich strafend an und macht das, was ich nicht kann, weil die dicke Frau mich abstößt: Vorsichtig legt er eine Hand auf ihren Unterarm. Er scheint eher Therapeut als Arzt zu sein. „Können Sie heute Nacht zu einer Freundin?, fragt er. „Haben Sie jemanden, den wir anrufen sollen?

    Die Frau schüttelt den Kopf. Dann höre ich, wie sie sagt: „Ich möchte nur alleine sein."

    Ihre Stimme ist hell, passt nicht zu ihrem massigen Körper. Sie hebt den Kopf und schaut an mir vorbei Richtung Flur. „Kann ich sie noch einmal sehen? Ich möchte sie noch einmal sehen, bevor sie weggebracht wird. Kann ich das?" Tränen laufen ihr über die Wange.

    Ich verlagere mein Gewicht ein wenig nach links, so dass sie mich ansehen muss. „Frau Rist, wie ist das passiert?"

    Unsere Blicke treffen sich, wenn auch nur kurz. Sie wirkt überrascht, als sehe sie mich zum ersten Mal, dann versucht sie wieder Richtung Flur zu schauen. „Ich stand am Herd, ich wollte uns etwas zu essen machen, sagt sie stockend, „und ich hatte Marie vorher das Wasser einlaufen lassen. Sie badet doch so gerne. Und ich habe, ich habe ihr gesagt, dass sie sich schon einmal ausziehen kann. Sie macht eine Pause und sieht den Arzt fast flehend an. „Wie hätte ich denn wissen können, dass … es waren doch höchstens fünf Minuten!"

    Ich beobachte ihre Hände. Sie liegen ruhig auf dem Tisch, gänzlich unverkrampft, spielen nicht mit den Spitzen des kleinen Weihnachtsbaumes oder wischen unsichtbare Brotkrumen von der Tischplatte, sie liegen einfach ganz ruhig mit den Innenflächen auf dem Tisch. Ich glaube ihr nicht.

    „Und Sie haben nichts gehört?" Meine Frage klingt wie eine Unterstellung.

    Die Frau reagiert nicht.

    „Dann sind Sie ins Badezimmer", stelle ich weiter fest. Mein Blick wandert zu dem Hängeschrank hinter der Frau. Ein Stundenplan von Marie ist angeklebt, daneben der Müllkalender. Aber kein gemaltes Kinderbild, keine unorthodox dimensionalen Strichmännchen, keine windschiefen Häuschen oder riesige, magere Druckbuchstaben. Ich drehe den Kopf. Nein, nirgends, kein einziges Bild oder ein Poster.

    „Dann sind Sie ins Badezimmer!", sage ich jetzt etwas zu laut.

    Der Arzt schaut mich erneut strafend an. Einige Sekunden vergehen.

    „Ja, dann bin ich ins Badezimmer."

    Ich warte sicherlich eine halbe Minute, aber sie sagt nichts mehr. Wieder bläst eine starke Böe gegen das Haus. Ich runzle die Stirn und schaue den Arzt an:

    „Was haben Sie ihr gegeben?", frage ich leise.

    „Diazepam. Aber erst einmal eine geringe Dosis."

    „Sie haben Marie sofort aus dem Wasser geholt?", versuche ich es erneut. Noch nie habe ich eine Mutter vernommen, die gerade ihr Kind verloren hat. Oder eine Pflegemutter.

    „Ja, ich … ich habe sie aus dem Wasser geholt und auf den kleinen Teppich gelegt. Ich habe, ich habe …" Sie beginnt wieder zu schluchzen.

    Hinter mir klopft jemand an den Türrahmen. Peter Braun. In einer Hand einen der Koffer, in der anderen seinen dunklen Mantel. „Wir sind soweit. Ich fahre sofort rüber und beginne mit der Arbeit. Kommst du noch vorbei?"

    Ich nicke. „Vielleicht. Ich wollte noch zu meinem Vater."

    Peter geht. Kurz danach klingelt es an der Wohnungstür. Einer der Kollegen öffnet und sofort höre ich einen Tumult, jemand stürmt durch den Flur in die Wohnung.

    Eine helle Stimme schreit: „Wo ist sie? Was ist mit Marie?" Die Stimme überschlägt sich.

    Irritiert drehe ich mich um. Auf dem Flur ist ein Gerangel, Peter ruft „Hey, stopp!", dann eilt Fabian dazu. Ich stehe auf, stoße dabei fast den Stuhl um.

    Im Flur sehe ich Fabian und Peter mit einem Jungen rangeln. Er ist vielleicht zehn. Verzweifelt versucht er, sich aus Fabians Armen zu winden.

    „Wo ist Marie?, schreit er wieder. „Wo ist sie? Seine dunklen Haare wirbeln um seinen Kopf, als er sich losreißt. Jetzt steht er in der Küchentür und starrt auf Ruth Rist. „Du hast sie umgebracht, stimmt’s? Du hast sie umgebracht!"

    Er will sich auf die Frau stürzen, aber ich stelle mich vor ihn und versuche seine Arme festzuhalten. Ich spüre, wie stark er zittert.

    Dann plötzlich, von einem auf den anderen Augenblick verstummt er, sackt in sich zusammen und fällt nach vorne. Ich versuche ihn zu halten, Peter und Fabian helfen mir.

    Der Notarzt ist ebenfalls aufgesprungen. „Legen Sie ihn auf den Boden. Schnell."

    Der Junge liegt ganz ruhig auf dem Rücken, seine Augen sind geschlossen. Ich drehe mich zu Maries Pflegemutter um. „Kennen Sie den Jungen?"

    Sie schaut kurz auf und für eine Sekunde sehe ich in ihren Augen einen Ausdruck des Hasses, der mich erschreckt. Doch dann überlege ich, ob ich mich nicht vielleicht doch in ihr getäuscht habe, denn sie beginnt erneut zu weinen.

    Ich mache einen Schritt auf sie zu. Wieder sollte ich ihr eine Hand auf die Schulter legen, lasse es aber erneut. Stattdessen macht mich ihr Weinen aggressiv. Möglicherweise ist es falsch, aber meine Geduld ist aufgebraucht. „Wer ist der Junge, Frau Rist?"

    Sie schnieft und vergräbt ihr Gesicht noch tiefer in die Hände. Zuerst kann ich sie kaum verstehen, dann vernehme ich die Worte: „Das ist Konrad, Maries Bruder."

    Zuerst weiß ich nicht, wie ich die Frage formulieren soll, dabei ist es ganz einfach: „Wo kommt er her?"

    Die Frau schaut wieder auf. Ihr Blick streift den Jungen, dann sieht sie mich an. „Ich habe seine Eltern angerufen. Seine Pflegeeltern. Sie wohnen fast nebenan. Ich wollte, dass sie es direkt wissen. Verteidigend hebt sie eine Hand. „Ich konnte ja nicht ahnen, dass sie den Jungen hierhin schicken.

    Ich nicke nur, gleichzeitig frage ich mich, welchen Sinn das hat, was sie mir gerade gesagt hat. Bevor ich Zeit habe, mir darüber Gedanken zu machen, ruft mich Fabian ins Badezimmer.

    Kapitel 3

    Die Eingangshalle ist in ein dunkles Grau getaucht. Das Licht der Straßenlaternen schafft es nur bis zu dem alten Vordach, unter dem sich zwei rauchende und hustende Patienten ihre Krankheitsgeschichte erzählen, als ich vorübergehe.

    Etwas entfernt höre ich in der Sitzecke links das Plätschern eines kleinen Tischbrunnens. Unaufdringlich und beruhigend. Ein Kegel Licht aus einer viel zu hellen Lampe strahlt die ältere Dame hinter dem Informationstresen an. Das Licht bricht sich am silbernen Bügel ihrer Brillenfassung und blendet mich kurz. Die Frau braucht einen Augenblick, um mich zu erkennen, dann lächelt sie. „Frau Lukas, Sie sind aber spät dran heute Abend."

    Ich schaue auf die große, altmodische Uhr an der rückwärtigen Wand. Drei Minuten vor zwölf. Ich versuche ebenfalls zu lächeln. „Die Arbeit", sage ich leichthin, so als würde ich in der Küche eines Restaurants arbeiten oder in einer Zeitungsredaktion.

    Wir schweigen einen Augenblick. „Wissen Sie, wie es meinem Vater geht?", frage ich und weiß gleichzeitig, dass sie mir das natürlich nicht sagen darf.

    Sie schüttelt den Kopf. Über den Tresen sehe ich, dass sie Patientenakten geordnet hat, bevor ich kam. „Ich will nur noch einmal kurz nach ihm schauen. Wenn er schläft, bin ich in einer Minute wieder hier." Ich klopfe leise mit den Fingerknöcheln auf den Tresen, dann lächle ich sie noch einmal kurz an, als hätten wir beide ein kleines Geheimnis.

    Während ich vor dem Aufzug warte, versuche ich nicht an das kleine Mädchen zu denken, aber es ist unmöglich. Und ich gestehe mir ein, dass es unmöglich ist, so etwas auszublenden. Ich weiß, dass ich schlecht schlafen werde und denke kurz an die Schlafmittel, die ich in den vergangenen sieben Jahren gebunkert habe. Seit jenen Tagen im Oktober, an dem mir der kleine Finger der linken Hand abgetrennt wurde. Meine Albträume, die ich auch heute noch habe, zeigen, dass mir damals viel mehr genommen wurde als nur dieser Finger.

    Aus einem versteckten Lautsprecher klingelt es kurz und die silberglänzenden Aufzugtüren schieben sich auf. Eine junge Frau huscht an mir vorbei. Ich sehe, dass sie weint oder geweint hat. Ihre Augen sind dick verquollen und rot, sie hält ein Taschentuch dicht an ihren Oberkörper gepresst. Kurz frage ich mich, wen sie besucht hat, ihren Mann, ihre Mutter, vielleicht ihr Kind.

    Im Aufzug betrachte ich mein Gesicht in der Spiegelwand. Das Neonlicht lässt die Furchen auf meiner Stirn und zwischen den Augen noch tiefer erscheinen. Ab vierzig gräbt sich jede Stunde zu wenig Schlaf ins Gesicht. Ich habe den falschen Job für eine Frau, die wie jede andere auch schön sein will. Kurz schließe ich die Augen und öffne sie wieder. Meine Augenfarbe ist unmöglich auszumachen. Blau sind sie, sagt mein Pass. Der Aufzug ruckelt kurz, während er nach oben fährt. Ich gähne lautlos und schließe erneut die Augen.

    Mein Vater liegt in einem Einzelzimmer. Die dunklen Vorhänge sind nicht zugezogen, die zwei Laternen schaukeln leicht durch den böigen Wind. Ich höre, dass mein Vater nicht schläft, er krebst noch immer durch sein zerwühltes Bett. „Krebsen", dieser furchtbare Ausdruck ist mir in den Sinn gekommen, als ich ihn nach seinem Schlaganfall zum ersten Mal sah. Schon Wochen vor dem Schlag hatte ich ihn zu mir

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