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Stille Vergeltung: Mordkommission Köln
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eBook278 Seiten3 Stunden

Stille Vergeltung: Mordkommission Köln

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Über dieses E-Book

Im noblen Stadtteil Hahnwald vergewaltigen Einbrecher eine Hausbesitzerin und ermorden ihren Mann. Der Verdacht fällt auf eine südosteuropäische Einbrecherbande, die seit Wochen die Kölner Polizei in Atem hält. Doch Fisch und Kid stoßen auf Ungereimtheiten. Was verschweigt das Opfer? Und dann nimmt der Fall eine entscheidende Wende, als ein Einbrecher nach dem anderen auf mysteriöse Weise ums Leben kommt.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Lempertz
Erscheinungsdatum23. Nov. 2016
ISBN9783960580478
Stille Vergeltung: Mordkommission Köln

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    Buchvorschau

    Stille Vergeltung - Andreas Schnurbusch

    Lempertz

    Sommer 1998

    Rumms! Doktor Milashi wurde in seinem Geländewagen kräftig durchgeschüttelt; das linke Vorderrad war plötzlich in ein Schlagloch eingesackt. Er drosselte die Geschwindigkeit und versuchte jetzt, im Schritttempo vorsichtig die riesigen Straßenlöcher zu umfahren. Der aufgewirbelte Staub versperrte ihm die Sicht, die Stoßdämpfer des Mitsubishis schlugen ständig auf dem steinigen Weg durch.

    Alte Steinmale säumten den Weg zum Dorf Ljubo am Rande des Šar Planina-Gebirgszuges. Es war eine ärmliche Gegend, die Straßen weder asphaltiert noch beleuchtet. Weit und breit gab es weder Geschäfte noch andere Dienstleistungsbetriebe. Luxus dieser Art kannten die hiesigen Bewohner nicht. Hier lebten überwiegend Bauern, Hirten und Waldarbeiter, die mehr als zwölf Stunden am Tag arbeiten mussten, um ihre Familien zu ernähren.

    Auf den Feldern links und rechts wurde der Winterweizen ausgesät. Die Männer lachten freundlich und winkten, als sie den Wagen ihres Doktors sahen.

    Der Weg wurde etwas besser, je näher Doktor Milashi dem Dorf kam. Doch hinter der letzten Kurve musste er wieder langsamer fahren, weil vor ihm ein alter Mann einen Karren zog und trotz mehrfachen Hupens nicht zur Seite auswich. Resigniert nahm er es hin und fuhr im Schritttempo hinterher. Erst am Ortseingang konnte Doktor Milashi endlich vorbeifahren und erkannte jetzt den alten Mavrim, der schon seit seiner Geburt gehörlos war.

    Na ja, der heutige Freitag wird sowieso noch lang werden.

    Tarek Milashi war in diesem Land groß geworden. Er liebte sein Kosovo. Ihm war jedoch auch bewusst, wie viel Glück er bisher im Leben gehabt hatte. Nur wenige Eltern in diesem Land konnten ihren Kindern ein Studium ermöglichen und ihnen Vermögenswerte vererben. Er hatte diese Privilegien gehabt. Dafür wollte er seinen Landsleuten etwas zurückgeben, selbst wenn es nur sein medizinisches Wissen war.

    Er parkte seinen Wagen vor dem Haus des Hufschmieds. Man hatte Doktor Milashi in der alten Schmiede auf der Rückseite des Gebäudes einen Raum zur Verfügung gestellt, in dem er Patienten empfangen konnte. Milena, die Tochter des Schmieds, stand ihm bei seiner Arbeit zur Seite. Insbesondere beim Anlegen von Verbänden und Schienen war sie ihm eine große Unterstützung.

    Hier, im ärmsten Land Europas, gab es keine allgemeine Krankenversicherung. Gerade in den abgelegenen, ländlichen Gegenden litten die Menschen besondere Not und hatten kaum Geld für eine medizinische Versorgung. Dennoch haderten sie nicht mit ihrer Situation: Wenn die Verletzungen oder Krankheiten so schwer waren, dass jemand in ein Krankenhaus musste, dann finanzierte die Dorfgemeinschaft den Aufenthalt.

    Als Tarek Milashi um die Ecke bog, sah er schon die Schlange, die sich jeden Freitag bildete. Heute musste er aber zum Glück nur Routineuntersuchungen vornehmen oder kleinere Wunden versorgen.

    Am späten Abend machte er sich auf den Heimweg und war anderthalb Stunden später zurück in Kazarnik, wo er mit seiner Frau und den beiden Kindern am Stadtrand gegenüber vom Friedhof wohnte. Jeden Freitagabend, wenn er auf sein Grundstück fuhr und sein großes graugelbes Bruchsteinhaus sah, beschlich ihn ein sorgenvolles Gefühl. Als Arzt hatte er in dieser Kleinstadt viele Vergünstigungen. Ihm und seiner Familie ging es als Angehörige der Oberschicht recht gut – der totale Gegensatz zu den Menschen in Ljubo, die er noch diesen Nachmittag gesehen hatte. Doch es war letztlich nur eine Frage der Zeit, bis die serbischen Truppen auch in der Stadt des Doktors einfielen. Die Situation im Kosovo verschlechterte sich von Tag zu Tag.

    Wie lange noch? Die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen der kosovarischen Untergrund-Organisation UCK und der jugoslawischen Regierung in der Provinz Kosovo war nichts anderes als ein Bürgerkrieg. Müssen so viele Menschen sterben? Ist ein eigenständiger Staat Kosovo, in dem Frieden herrscht, nur ein Traum?

    ***

    Zlatko war ein Mensch ohne Moral und Anstand; gesetzliche oder gesellschaftliche Regeln akzeptierte er nicht. Ohne Vater war er mit acht jüngeren Geschwistern bei seiner völlig überforderten Mutter aufgewachsen. Schon früh hatte er die Rolle des Familienoberhauptes übernommen und versucht, mit kleineren Diebstählen seinen Anteil zum Lebensunterhalt beizutragen. Schnell hatte er gelernt, sich auf der Straße durchzusetzen. Zahlreiche Jugendstrafen hatten ihn nicht resozialisiert, ganz im Gegenteil, er sank immer tiefer in das kriminelle Milieu. Die Schule besuchte er höchstens sporadisch und auch dann nur, um dort Drogen zu verkaufen. Als ihn ein Lehrer einmal bei einem Deal erwischte und anzeigen wollte, schlug Zlatko ihn krankenhausreif. Daraufhin wurde Zlatko während des neunten Schuljahres ohne Abschluss von der Schule verwiesen.

    Die Armut seiner Familie war ihm zuwider. Er ertrug dieses armselige Betteln nach Sozialleistungen nicht. Als 16-Jähriger verließ er seine Heimat, zog Richtung Hauptstadt und schloss sich sogleich der Hooliganszene von Roter Stern Belgrad an. Für seinen abgrundtiefen Hass gegen jegliche Autorität waren die gewalttätigen Auseinandersetzungen mit gegnerischen Fans ein gutes Ventil. Er etablierte sich schnell in der Gruppe und war innerhalb weniger Monate einer ihrer Wortführer. Nach und nach festigte er seine Position und manipulierte einige Hooligans für seine Zwecke. Zunächst verübten sie kleinere Raubüberfälle und veranstalteten verbotenes Glücksspiel. Später fanden sie eine lukrativere Einnahmequelle: Schutzgelderpressungen.

    1991 begannen die Kämpfe der serbischen gegen die kroatische Armee. Zlatko war ein Waffennarr, außerdem hasste er die Kroaten. Er überlegte ernsthaft, sich freiwillig für die Armee zu melden, entschied sich dann jedoch dagegen. Zu lukrativ waren seine kriminellen Machenschaften, zudem hätte er bei einer längeren Abwesenheit um seine Stellung im Milieu gefürchtet.

    Am 01.04.1992, wenige Tage vor seinem 19. Geburtstag, erfuhr Zlatko vom Tod seiner Mutter. Sie war gerade vom Markt gekommen, als serbische Polizisten eine kroatische Polizeistation überfielen. Noch bevor sie in Deckung gehen konnte, wurde sie von einem Querschläger getroffen. Viel zu spät kam ärztliche Hilfe. Sie verstarb auf dem Weg ins Krankenhaus.

    Die Nachricht traf ihn wie ein Schlag. Tagsüber steigerte er sich in eine aggressive Angriffslust hinein, am Abend ging er zum Spiel Roter Stern Belgrad gegen Sampdoria Genua. Es war das Halbfinale im Europapokal der Landesmeister, das Stadion entsprechend ausverkauft. Nach dem Spiel trafen er und seine Freunde auf eine Gruppe italienischer Fans. Sofort kam es zu einer Massenschlägerei und er prügelte seine ganze Wut auf den Gegner ein. Wie im Wahn schlug er immer weiter und hörte erst auf, als seine Kumpels ihn wegzerrten. Das war des Italieners Glück – weitere Schläge und Tritte hätte er wahrscheinlich nicht überlebt.

    Drei Jahre später hatte ein anderer Kontrahent Zlatkos bei einem Streit dieses Glück leider nicht gehabt. Er erlag seinen schweren Kopfverletzungen. Die Polizei vermutete den Täter im Rotlichtmilieu, doch keiner traute sich, gegen Zlatko auszusagen. Trotzdem formierte sich innerhalb der Bande eine Gruppe, die sich gegen ihn stellte, weil sie mit Mord und Totschlag nichts zu tun haben wollte. Auch Zlatko distanzierte sich immer mehr von seinen Kumpels und suchte nach einer neuen Herausforderung.

    Eigentlich hätte er nach dem Tod seiner Mutter gerade Polizisten hassen müssen, doch Zlatko tickte anders.

    1996, zu Beginn der Auseinandersetzungen der Serben mit den Albanern im Kosovo, bewarb er sich bei der serbischen Polizei. Es war in der Zeit, wo viele seiner serbischen Landsleute aus Kroatien vertrieben und gegen ihren Willen im Kosovo angesiedelt oder in Flüchtlingslagern untergebracht wurden. Als die Widerstände sich intensivierten und es zu Bombenattentaten in den Lagern kam, schickte Serbien Polizeitruppen und Sondereinheiten in den Kosovo, unterstützt von der Armee und Paramilitärs. Die serbische Polizei stellte fast jeden ein, der sich bewarb, unabhängig von einem Führungszeugnis. Zlatko kam in eine Spezialeinheit, die ausschließlich gegen die albanische Zivilbevölkerung eingesetzt wurde. Als Mitglied einer solchen Truppe hatte er eine Machtposition. Jetzt konnte er seine Aggressionen und kriminellen Neigungen ungestraft ausleben.

    ***

    Beim Unkrautjäten im Garten nahm Sara das laute Motorengeräusch aus der Ferne wahr. Sie drehte den Kopf und konzentrierte sich einen Moment auf den satten, dröhnenden Klang des Dieselmotors. Dann war sie sich sicher: Das konnte nur der Jeep ihres Vaters sein! Der Auspuff war schon mehrfach geschweißt worden, doch immer wieder entstanden auf den vielen unbefestigten Schotterpisten in Kazarnik neue Löcher, die diese unverkennbaren Geräusche erzeugten. Sie ließ die Harke fallen und lief um das Haus herum zur Einfahrt. Wie fast jeden Freitag kam der Papa mit einem Korb voller Lebensmittel nach Hause. Sie hoffte auf ihr Lieblingsobst.

    „Papa, hast du Erdbeeren dabei?", rief sie voller Vorfreude und griff schon in den Korb, noch bevor ihr Vater ganz ausgestiegen war.

    „Du hast Glück, anscheinend haben die netten Leute aus dem Dorf geahnt, dass ich so einen Erdbeervielfraß zu Hause habe." Er hielt ihr den Korb hin und dachte an seine Patienten in Ljubo, die ihm aus Dankbarkeit Obst, Gemüse, Milch und manchmal auch ein Stück Butter mitgaben. Er wollte im Grunde weder Geld noch Geschenke für die Behandlung, wusste aber, dass es den stolzen Menschen gut tat, ihren Doktor so zu entlohnen.

    Sara hatte sich aus der ersten Schale bereits eine Handvoll von den Früchten genommen und aß sie genüsslich, während sie gemeinsam ins Haus gingen.

    „Das Obst erst waschen", mahnte Fatime ihre Tochter, während sie durch die Terrassentür das Wohnzimmer betrat und ihren Mann liebevoll begrüßte.

    Müde und erschöpft ließ Tarek sich in den Kaminsessel fallen und beobachtete seine Frau und seine Tochter, die mit dem Korb in die Küche gingen. Die Familie war sein Ein und Alles, sie galt es in dieser gefährlichen, unruhigen Zeit zu beschützen. Der Bürgerkrieg breitete sich immer weiter aus und würde über kurz oder lang auch Kazarnik erreichen. Sollte er hier alles aufgeben, nach Albanien gehen und dort von vorne anfangen? Und sein Sohn Ervin – würde er mitkommen? Tarek wusste, dass Ervin abends zu heimlichen Versammlungen der UCK ging.

    Zwei Wochen später

    Auf diesen Befehl hatte er schon lange gewartet. Das Leben in der Kaserne, jeden Tag nur Drill und Training, das war nicht sein Ding. Er brauchte echte Herausforderungen, persönliche Konfrontationen. Ihn interessierte weder Politik noch Religion, er hatte auch nichts gegen Kosovo-Albaner. Aber wohlhabende Albaner hasste er – genauso wie alle reichen Leute.

    „Reich bleibt reich, weil Geld zum Geld geht. Wir dagegen sind arm und müssen uns mit unserem Schicksal abfinden", hatte seine Mutter einmal auf die Frage geantwortet, warum andere Familien in so großen Häusern wohnen durften. Zlatko wollte sich aber nicht damit abfinden. Er nahm sich einfach, was ihm seiner Auffassung nach zustand.

    Der heutige Auftrag lautete, in Kazarnik für Ordnung zu sorgen. Grund war das Bombenattentat auf eine serbische Polizeistation im Kosovo. Nachdem sich die UCK zu dem Attentat bekannt hatte, wurden Einheiten der serbischen Spezialpolizei in die Dörfer und Städte geschickt, um UCK-Sympathisanten ausfindig zu machen und festzunehmen. Man wollte über die Gefangenen Informationen zu den Hintermännern bekommen; für die restliche Zivilbevölkerung sollte es eine Art Ordnungsmaßnahme sein.

    Es ist an der Zeit, den Albanern mal deutlich einen Denkzettel zu verpassen. Mit diesen einleitenden Worten wurden die Aufträge erteilt. Was sein Vorgesetzter unter „Denkzettel" verstand, hatte er in der Einsatzbesprechung vor 250 Beamten der Sondereinheit nicht näher erläutert.

    Zlatko erhielt den Befehl, das Privathaus des Allgemeinmediziners Milashi aufzusuchen. Ein Informant habe den Hinweis auf den Sohn der Familie gegeben, der Verbindungen zur UCK haben sollte. „Sie wissen schon, was zu tun ist", hatte der Leiter der Sondereinheit am Ende mit fester Stimme verkündet, bevor er dann begleitet von seinen beiden Adjutanten den Saal verließ.

    Fünfzig Objekte sollten gleichzeitig aufgesucht werden – Wohn- und Arbeitsorte von angesehenen Persönlichkeiten, aber auch öffentliche Orte in Kazarnik standen auf der Liste.

    Zlatkos Vorstellung von dem Begriff „Denkzettel verpassen" war eindeutig. Er würde seinen Chef mit Sicherheit nicht enttäuschen.

    In seiner Gruppe befanden sich außerdem Dragoslav und die Zwillingsbrüder Mirko und Luka.

    Dragoslav, von allen nur Drago genannt, stellte mit seiner Körpergröße von knapp zwei Metern und einem Gewicht von 130 Kilogramm ein riesiges Kraftpaket dar, mit dem man nicht unbedingt Streit haben wollte. Er war gemeinsam mit Zlatko in den Polizeidienst eingetreten und sie hatten schnell zueinander gefunden. Zlatko ging es dabei weniger um Freundschaft als um den praktischen Nutzen, so einen Muskelprotz zum Freund zu haben. Drago stammte aus einer einfachen Bauernfamilie; er hatte nie eine Schule besucht und konnte weder schreiben noch lesen. Den Hof seiner Eltern hatte er verlassen müssen, da der Ertrag die Familie nicht mehr ernähren konnte. Bei der Spezialpolizei legte man keinen großen Wert auf Bildung – im Krieg gegen die UCK wurden Kämpfer und keine Bürokraten gebraucht. Zlatko nahm Drago während der Ausbildung unter seine Fittiche und hatte ihn schnell in seinem Sinne manipuliert. Drago merkte es nicht. Im Gegenteil, er war stolz, einen Menschen wie Zlatko, zum Freund zu haben. Für Zlatko würde er durchs Feuer gehen.

    Mirko und Luka hingegen waren eher klein und schmächtig, aufgrund ihres aggressiven Charakters jedoch keineswegs weniger gefährlich.

    ***

    Dichter Nebel hing in der feuchten Luft. Es roch nach Moos, Laub und verwittertem Holz. Die Sicht betrug gerade einmal zehn Meter. Am frühen Abend war es still im Wald, geradezu gespenstisch still, ohne das laute Gezwitscher der Vögel und die anderen Tierlaute, die man tagsüber vernahm.

    Sara dachte an die Geschichte vom Wachwechsel während der Zeit der Dämmerung. Die Tiere mussten sich während dieser Zeit in ihre Höhlen, Nester oder sonstige Unterschlüpfe verkriechen, weil nachts andere Geschöpfe das Kommando übernahmen. Es war die Zeit der Dämonen und Waldgeister. Das jedenfalls hatte ihr Ervin als Gutenacht-Geschichte häufiger erzählt. Die Angst, dass diese unheimlichen Kreaturen in ihr Zimmer kommen würden, hatte sie oftmals nicht einschlafen lassen. Dann war sie ins Schlafzimmer ihrer Eltern gelaufen und hatte sich ganz eng an Mama herangekuschelt. Eines Tages bekam sie mit, wie ihr Papa mit Ervin schimpfte, er solle seiner kleinen Schwester nicht solche Phantasiegeschichten über Geister im Wald erzählen. Sie konnte zunächst nicht glauben, dass es die Dämonen und Waldgeister gar nicht geben sollte, hatten diese doch in ihrer Vorstellung schon eindeutige Gesichter und Konturen. Mama hatte ihr dann anhand von Bildern in einem Kinderbuch alle heimischen Waldbewohner gezeigt und ihr erklärt, welche Geräusche welche Tiere machten. Sara erfuhr auch, dass manche Tiere tagsüber schliefen und nachts durch die Wälder streunten. Sie würden aber niemals Kindern etwas antun.

    Bei dem Gedanken an diese Geschichte musste Sara lächeln. Ervin gestand ihr später, dass er ihr nur Angst hatte machen wollen, damit er das Kinderzimmer für sich alleine hatte.

    Danjel zog sie bei ihren Spaziergängen durch den Wald mit dieser Geschichte gerne auf. Manchmal versteckte er sich bei einer günstigen Gelegenheit, um sie dann zu erschrecken; ein anderes Mal warf er heimlich Steine in den Wald und sagte, er habe in dieser Richtung ein unheimliches Wesen gesehen. Seine Phantasie kannte keine Grenzen – auch wenn er wusste, dass er Sara mit seinem Schabernack nur zum Lachen brachte. Er wohnte in der unmittelbaren Nachbarschaft, daher kannten die beiden sich seit ihrer Kindheit und hingen ständig zusammen. Damals in der Grundschule hatten sie sich gegenseitig sogar versprochen zu heiraten, sobald sie erwachsen seien. Daran erinnerte sich Danjel jedes Mal, wenn er sie heimlich beobachtete. Er war zwei Jahre älter als Sara und ihm fiel immer mehr auf, wie sich ihr Körper verändert hatte. Mit ihren vierzehn Jahren wurde sie so langsam zur Frau.

    Heute wollten sie eigentlich bis zum Sumpfgebiet gehen, doch der Nebel war so dicht wie selten an einem dieser Spätsommertage.

    „Danjel, lass uns lieber zurückgehen."

    „Hast du etwa Angst vor den Nebelungeheuern?, fragte Danjel und fügte theatralisch noch ein langgezogenes „Huuhuu hinzu.

    Sara antwortete nicht, stattdessen blieb sie plötzlich wie angewurzelt stehen und sah ihn mit großen Augen an. Verwundert erwiderte er ihren Blick und wollte gerade fragen, was mit ihr los sei, als sie „Psst, nicht bewegen" zu ihm flüsterte. Sie hob ihren Kopf in den Nacken und sah mit offenem Mund über ihn hinweg. Danjel erstarrte und glaubte über sich ein Geräusch zu hören. Vielleicht eine Baumschlange, dachte er und überlegte ernsthaft, sich mit einem Hechtsprung in Sicherheit zu bringen, blieb jedoch wie zur Salzsäule erstarrt mit hochgezogenen Schultern auf einer Stelle stehen.

    Dann schrie seine Freundin „Buuhh und lachte lauthals. „Reingelegt, du Angsthase!

    „Das bekommst du zurück und zwar doppelt. Aber du hast recht, wir kehren besser um."

    ***

    Zlatko erwartete keinen Widerstand seitens der Arztfamilie. Er kannte diese gebildeten, hochnäsigen Akademiker, die nur reden und mit ihrem Geld winken konnten. Die Kinder wurden verwöhnt und verhätschelt, besuchten höhere Schulen unter Gleichgesinnten und traten dann in die Fußstapfen ihrer Eltern. In dem Punkt hatte seine Mutter Recht: Die Reichen wurden immer reicher, die Armen blieben arm.

    Der Gedanke, gleich in das Haus dieser eingebildeten Wohlstandsfamilie einzudringen, erfüllte ihn mit Genugtuung. Er würde diese Menschen ebenso herablassend behandeln, wie sie normalerweise mit seinesgleichen umgingen. Diesmal hatte er die Macht. Er kam im Auftrag der serbischen Regierung, sein Handeln war somit legitimiert. Sie konnten gleich noch so kleinlaut betteln und jammern, er würde sie in jedem Fall bestrafen, egal wie sie zur UCK standen.

    Schon bei der Anfahrt steigerte sich sein Hass. Links und rechts sah er die aus Stein gemauerten freistehenden Einfamilienhäuser und die gepflegten Vorgärten. Das Haus der Familie Milashi stand am Ende einer Sackgasse, dahinter ging es über einen kleinen Trampelpfad zum Friedhof, anschließend in den Wald. Die Dämmerung setzte ein und dünne Nebelschwaden zogen über die Gräber. Zlatko hatte absichtlich den frühen Abend für seinen „Besuch" gewählt, um möglichst alle Familienmitglieder anzutreffen. Im Haus brannte auf beiden Etagen Licht, das war schon einmal ein gutes Zeichen. Zlatko gab den Zwillingen Mirko und Luka die Anweisung, sich hinter das Haus zu schleichen, während er und Drago an die Haustür gingen.

    Fatime Milashi bereitete gerade das Abendessen zu, als es an ihrer Haustür klingelte. Wer konnte das sein? Sie wusch sich schnell die Hände und zog ihre Schürze aus. Wahrscheinlich hatte Sara ihren Schlüssel vergessen, das würde zu ihr passen. Sie entwickelte sich so langsam zu einer jungen Frau und hatte in letzter Zeit viele andere Dinge im Kopf.

    Es klingelte erneut und gleichzeitig wurde heftig gegen die Tür geklopft. Nein, das war nicht Sara! Fatime beschlich ein ungutes Gefühl. Sie entschied sich, ihren Mann zu holen und ging mit leisen Schritten in den Flur. Es klingelte erneut, das Klopfen wurde heftiger. Von oben hörte sie fernes Rauschen. Verflucht, ausgerechnet jetzt musste er unter der Dusche stehen!

    Rumms! Die Eingangstür schlug ihr mit einem lauten Krachen entgegen. Ein riesiger Mann stand gebückt auf der Schwelle und starrte sie von oben herab an. Ein anderer, kleinerer Mann schob sich an ihm vorbei und baute sich vor ihr auf.

    „Wer ist noch im Haus?" Zlatko hielt ihr seine Pistole, eine Zastava M57 aus alten Armeebeständen, an die Stirn.

    Fatime

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