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Augenblick der Vergebung
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Augenblick der Vergebung
eBook561 Seiten8 Stunden

Augenblick der Vergebung

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Über dieses E-Book

Geh nicht in den Wald.

Wenn du es doch tust, bleib nicht bis zur Dämmerung.

Denn nachts kommt der Nebel.

Und mit dem Nebel das Grauen.

Unschuldige Kinder verschwinden spurlos in der Dunkelheit. Grauenhafte Todesfälle sorgen für Angst und Schrecken. Es muss endlich etwas geschehen, um dem Grauen Einhalt zu gebieten

Plötzlich weckt ein Feuer bei drei Freunden sorgfältig verdrängte Erinnerungen. Denn schon einmal standen sie Auge in Auge dem Verderben gegenüber.

Niemand sonst besitzt eine Chance gegen die dunkle Macht, deren Gier nach Leben sich ins Unermessliche steigert. Liegt ein uraltes Geheimnis über dem Wald? Ein hoher Preis ist zu bezahlen, um zu überleben und der Erlösung näherzukommen.

Ein faszinierender Kampf um Liebe, Verlangen und Eroberung beginnt inmitten der Nebelschwaden der Todesdämmerung.
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum14. Apr. 2018
ISBN9783947174034
Augenblick der Vergebung

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    Buchvorschau

    Augenblick der Vergebung - Lucinda West

    Ein Streuner Buch

    Inhalt

    Prolog

    Verlorene Seelen – Capri

    Verlorene Seelen – Bo

    Aurora

    Die geheimnisvolle Höhle

    Das Versprechen

    Die Geisterwelt mischt sich ein

    Verluste

    Die Magie des geheimnisvollen Schlüssels

    Todeskampf um die Erlösung

    Streuner Buch

    Copyright © 2018 by Lucinda West

    1. Auflage

    Covergestaltung: Sven Hummel

    Lektorat: Elsa Rieger

    Druck und Einband: Print Group Sp. z o.o., Szczecin (Polen)

    Streuner Buch

    Grasiger Weg 11

    75175 Pforzheim

    ISBN: 978-3-947174-02-7

    www.streuner-buch.de

    www.lucindawest.de

    E-Book Distribution: XinXii

    www.xinxii.com

    Lucinda West

    Augenblick

    der

    Vergebung

    Dieses Buch widme ich meinen Kindern.

    Vergesst nie, an Euch zu glauben. Denn dem, der glaubt, stehen alle Wege offen. Folgt den Eingebungen Eurer Herzen, dann werdet Ihr jede Todesdämmerung vertreiben und leben.

    Viel Spaß beim Lesen!

    Prolog

    Der Regen, den der Sturm in die vergangene Nacht hinausgetragen hatte, bildete kleine, blinde Pfützen auf dem feuchten Waldboden. Die Wasseroberfläche war für jeglichen Blick undurchdringlich. Es konnte sein verzerrtes Antlitz nicht darin betrachten. Das ärgerte Es ungemein.

    Schließlich bereitete es ihm Hochgenuss, sich unentwegt zu reflektieren. Seine Kraft wuchs ins Unermessliche, wenn sie sich in den vor Schreck geweiteten Augen seiner Opfer als Angst spiegelte.

    Einerlei, ob es sich dabei um Tiere des Waldes, Traumländer, Wichtel oder um die Bewohner des Geisterstaates handelte. Waren die Wesen auch von unterschiedlicher Natur, glichen sie sich in einem Punkt allesamt. Sie besaßen Gefühle, Sorgen und Ängste, die über sie herfielen wie Ameisen über ein im Gras vergessenes Bonbon.

    Die blanke Angst um das eigene Überleben in den Blicken seiner Opfer zu spüren, wenn sie in seiner Falle saßen, genoss Es über alle Maßen. Über den Blickkontakt saugte Es seine Beute aus, labte sich wie ein hungriger Vampir an den Venen seiner Auserwählten und trank begierig jedes Leben in seinen grauenvollen Schlund hinein. Je schwächer die Opfer wurden, desto kraftvoller wuchs seine eigene Stärke und Lebendigkeit.

    Und darum ging es, danach strebte Es. Das verlieh ihm Macht. Uneingeschränkte Macht. Alles Gute zu vernichten war das Ziel. Dann würde auch die Sonne nicht mehr wagen, sich am Horizont zu zeigen. Und wenn doch, hätte sie keine Kraft, um die Nebelschwaden zu durchdringen.

    Seine Nebelschwaden.

    Sie waren ein Teil von ihm.

    Sie waren Es.

    Genährt und gewachsen an den Ängsten seiner erlegten Beute.

    Das Land würde überzogen sein von ihm, von seiner Aura, von seiner Macht.

    Von seiner Todesdämmerung.

    Dann bräuchte Es sich auch nicht mehr spiegeln.

    Alles würde sein wie Es.

    Alles war dann Es.

    An Opfern mangelte es nie. Immer wieder verlief sich ein Jungtier im Dickicht der Wälder und schaffte es nicht rechtzeitig, der Dämmerung zu entfliehen. Allerdings bevorzugte Es Lebewesen aus den Dorfgemeinschaften, an ihnen labte Es sich bedeutend lieber.

    Mit dem Verschwinden des letzten Sonnenlichtes ließen die Opfer auch ihre eigene Lebendigkeit vergehen. Sie hatten keine Wahl. Durch die Dämmerung zog das Grauen ein, in den Wald. Dann brach seine Zeit an. Mit jeder Nebelschwade, die Es aufsteigen ließ, wuchs seine Macht.

    Sobald die Opfer Es erblickten, wurden sie zu Schatten ihrer Selbst.

    Gejagte der eigenen Fantasie.

    Manchmal erschienen sie ihm wie kleine, unbeholfene Fliegen, die sich in seinem Spinnennetz verfangen hatten und ergeben auf den Anbruch ihrer letzten Stunde warteten. Keiner hatte es jemals gewagt, sich ihm im offenen Kampfe zu stellen. Die eigenen Kräfte mit dem Grauen zu messen. Oder zumindest fast keiner.

    Sechs Jahre zuvor hatte Es sich zuletzt in den Augen eines Traumländers gespiegelt, den Es nicht besiegen konnte. Wieder ärgerte Es sich ungemein, tauchte ein in die Pfütze, die sich vor ihm auftat, sodass Schmutzwasser zu allen Seiten stob. Das Nass war auch in der Tiefe unrein, ließ kein Spiegeln zu.

    Vergangene Nacht war ein furchtbares Gewitter über das Land gezogen. Der wolkenverhangene Himmel hatte in allen Farbschattierungen geleuchtet, als ein mächtiger Blitz seine Oberfläche in viele Einzelteile gespalten hatte. Er war erneut in die alte Trauerweide eingeschlagen. Bald schon hatte ihr mächtiger Stamm lichterloh gebrannt. Flammen waren aufgelodert und hatten die dämmrige Silhouette des gebrochenen Stammes in ein gefährliches Rot getaucht.

    Gerade noch rechtzeitig hatte Es sich mit einem gewaltigen Sprung in Sicherheit bringen können, sonst wäre Es von den Funken, die an der Einschlagstelle aufstoben, getroffen worden. Aus einigen Metern Entfernung hatte Es gebannt das Flammenmeer beobachtet, das sich immer weiter ausbreitete. Die Luft roch mit einem Male nach verbranntem Fleisch. Nach seinem Fleisch. Alte Erinnerungen kamen hoch und suchten Es unbarmherzig heim.

    Damals.

    Siegesgewiss hatte Es mit dem kleinen Jungen gekämpft, während dessen Kameraden, bereits ein jeder selbst schwer verletzt, aus der Ferne das Spektakel verfolgt hatten. Nur noch wenige Sekunden hatten Es vom finalen Sieg getrennt. Das konnte Es deutlich spüren, auch wenn dieses Mal keine Todesangst im Blick seines Gegners auszumachen war. Dann geschah das Unfassbare.

    Ein Mondstrahl hatte sich auf dem Antlitz seines Kontrahenten gefangen und Es in seinem rechten Auge geblendet.

    Das Grauen vermeinte heute wie damals beim bloßen Gedanken daran den gewaltigen Schmerz in seinem Innersten zu spüren.

    Ein gleißendes Licht hatte sich seiner bemächtigt. Innerlich brannte Es wie Feuer. Schwer verletzt. Hatte an Macht eingebüßt. Konnte nicht länger kämpfen. Diese Erkenntnis machte Es wahnsinnig. Es drehte sich hilflos im Kreis, wie ein Hund, der verzweifelt versuchte, seinen eigenen Schwanz zu erwischen. Durch seinen Wahnsinn abgelenkt war Es nicht mehr in der Lage, Blickkontakt mit seinem Gegner zu halten. Verschenkte den ersehnten Sieg.

    Lange Zeit hatte Es nicht mehr an diese schaurige Nacht zurückgedacht. Erst als Es in das Feuer der Trauerweide starrte, suchten ihn die Erinnerungen heim wie Motten, die, aus dem Nichts aufgetaucht, präsent wurden und um die züngelnden Flammen tanzten. Unwissentlich ihren Todestanz vollführten. Immer noch war es für das Grauen unbegreiflich, wie sich die drei Kinder aus den so unterschiedlichen Welten vereinen konnten.

    Sie hatten einen Pakt geschlossen, um gegen das Grauen zu kämpfen. Jeder hatte Wissen aus seiner Welt in die Verbindung eingebracht. Eine Stärke war von den Dreien ausgegangen, die Es noch nicht erlebt hatte. Gegen diese gebündelten Kräfte war Es faktisch machtlos gewesen. Also tat Es das, was es immer zu tun pflegte: Es griff die Kinder einzeln an. An den Stellen, an denen sie am verwundbarsten waren. Es verletzte das schöne Geistermädchen schwer im Gesicht. Nur knapp verfehlte Es ihr Auge. Ihre gottgegebene Schönheit war dahin. Es hatte sie schwer gezeichnet.

    Auch dem Wichteljungen nahm Es das, was ihn am meisten prägte: seine Beweglichkeit. Die unerträglichen Schmerzen waren dem Jungen ins Gesicht geschrieben, als sein rechtes Bein zerbarst.

    Zuletzt kämpfte Es gegen den kleinen Jungen mit den ernsten Augen. Dieser Kampf war der schwierigste. Denn der Traumländer war bereit gewesen, zu sterben.

    Für ihn gab es nur den Sieg oder den Tod. Das hatte das Grauen in seinem Blick lesen können, der ihm unerschrocken folgte. Furchtlos war er auf den Kern des Bösen zugegangen, der über dem Ursprung des mächtigen Wasserfalles in Form einer düsteren Nebelwolke thronte. Die direkte Konfrontation zwang das Grauen dazu, sich zu verwandeln. Die Wolke hatte sich in das umgeformt, was der Verstand des Jungen gerade noch begreifen konnte. Es nahm die Gestalt eines furchteinflößenden Tieres ein, das einem Wolf ähnlich war. Aus dem riesigen Schlund ragten messerscharfe Zähne. Der Speichel troff von seinem weit geöffneten Maul. Die Gedanken des Kindes waren rein wie das kristallklare Wasser, das tosend die Felswände hinunter donnerte, um sich in einem See am Fuße des Berges zu sammeln. Und genau diesen Weg hatte die Frau genommen, die sich im letzten Moment schützend vor den Jungen geworfen hatte. Umspült nicht nur von den mächtigen Wassermassen, sondern auch vom Blut des Geistermädchens, das von den tiefen Wunden aus seinem Gesicht in den Fluss hinab getropft war.

    Dieser Weg über den mächtigen Wasserfall, hinein in den Tod, war dem kleinen Traumländer vorbestimmt gewesen. Aber es hatte wohl noch nicht sein sollen.

    Jetzt allerdings war die Zeit gekommen, seinem Todfeind erneut gegenüberzutreten.

    Das hatte ihm das Feuer gesagt.

    Bald würde Es durch den Sieg über den Traumländer wachsen, um sein Endziel zu erreichen, die Herrschaft über die drei Welten zu übernehmen.

    Dann würde ewige Dunkelheit und Verdammnis herrschen. Kinderlachen und Hoffnung würden der Vergangenheit angehören. Danach sehnte Es sich mit jeder Faser seines düsteren Daseins.

    In ihm sammelte sich all die abgrundtief böse Macht wie in einem trüben Stausee, um sich in seinem unversehrten Auge zu spiegeln. Aber dieses Spiegelbild vermochte Es nicht zu sehen.

    Verlorene Seelen – Capri

    Der Junge schwitzte heftig unter der schweren Last des störrischen Astes, den er mühsam hinter sich her schleifte. Auf seinem nackten Oberkörper perlten Schweißtropfen, um wie still geweinte Tränen den Boden zu wässern. Sein dichtes blondes Haar stand gewohnheitsgemäß zu allen Richtungen seines Kopfes ab. Er arbeitete angestrengt und stumm vor sich hin. Mechanisch wie ein Roboter. Seine geübten Handgriffe zogen einen Ast nach dem anderen von dem gefällten Baum fort, zu einem etwas abseits des Gartens gelegenen Platz. Dort schichtete er die Äste und Zweige zu einem hohen Berg auf, so, als wolle er am Ende des Tages ein Fegefeuer anzünden. Tatsächlich sollte das Holz auch an diesem Platz verbrannt werden. Bis dahin hatte der Junge allerdings noch ein gewaltiges Stück Arbeit vor sich. Schwere Arbeit.

    Aber das war er seit Jahren gewöhnt. Der Junge kannte es gar nicht mehr anders. Morgens besuchte er die kleine Dorfschule, um den Schein zu wahren, als wäre er ein ganz normales Kind, das wie alle anderen die Schule besuchte, um danach zuhause in der Familie einen schönen Nachmittag zu verbringen. Dem war allerdings keineswegs so.

    In seinem Zuhause wartete Arbeit auf ihn, die nimmer enden wollte. Oft schuftete er bis spät in die Nacht hinein. Heute musste der gefällte Baum in seine Einzelteile zerlegt, dann Stück für Stück zu dem Brennplatz geschleppt und aufgeschichtet werden.

    Eduard, der Mann, bei dem er wohnte, hatte ihn angewiesen, das zu erledigen, sowie er aus der Schule nach Hause kommen würde. Breitbeinig war er nach seinem Frühstück vor dem Jungen gestanden, um ihm dominant seine knappen Anweisungen entgegen zu bellen. So, wie er es immer tat, wenn er dem unerwünschten Gast, der bei seiner Familie wohnte, klarmachte, was er zu tun hatte. Seine Stimme klang dabei herrisch und erstickte eventuelle Einwände bereits im Keim. Der Junge verkniff es sich deshalb jedes Mal erneut, etwas auf die Worte des Mannes zu erwidern. Meist nickte er nur stumm, wenn er die Aufträge entgegennahm. Seine Augen jedoch schauten seinem Gegenüber stets mit klarem Blick direkt ins Gesicht. Nie senkte er den Kopf. Und damit siegte der Junge.

    Der Mann war es immer, der verlegen zu Boden schaute. Es nicht aushielt, dem Jungen länger als nötig in die Augen zu sehen. Dieser stolze, selbstsichere Blick aus einem Augenpaar, das wesentlich älter und weiser wirkte, als es dem tatsächlichen Alter des Jungen entsprach. Jedes Mal bekam Eduard eine Gänsehaut, wenn er zu lange den Blickkontakt hielt. Er konnte die Macht, die von diesen Augen ausging, nicht verstehen. Vermochte nicht einzuordnen, woher dieses Selbstbewusstsein rührte. Schließlich war sein Gegenüber doch nur ein dummer Junge. Einer, der von ihm gnädig aufgenommen worden war, nachdem das Leben ihn wie Abschaum fallen gelassen hatte. Was bildete sich der Junge ein, ihm, einem wichtigen Mann der Gesellschaft, so allwissend, ja beinahe mitleidig in die Augen zu sehen?

    Eduard Braun kannte es nicht, dass ihn jemand derart anschaute. Keiner sonst würde das wagen. Er war es gewohnt, dass die Leute des Dorfes vor ihm kuschten. Ehrerbietig zu ihm aufschauten, als ob sie ihn mit ihren Blicken huldigten. So war es immer gewesen. Schließlich war er, seit er denken konnte, der Bürgermeister des kleinen Dorfes, in dem er mit seiner Familie lebte.

    Die Traumländer kamen zu ihm, wenn es Probleme gab oder wenn sie einen Ratschlag brauchten, wie das eine oder andere Alltägliche zu erledigen war. Wohlwollend gab er dann seine Meinung und Anweisung zum Besten, an deren Ausführung niemand zu zweifeln gedachte. Widerworte gab es nicht.

    Höchstens von seiner Frau, deren Körperfülle genau so mächtig war wie Eduards. Hinter verschlossener Tür sagte sie ihm schon einmal klipp und klar, wie sie es gerne hätte. Das durfte sie sich natürlich nur herausnehmen, wenn die Familie unter sich war. Er gestattete ihr das stillschweigend. Schließlich hatte sie ihm einen Sohn geschenkt, einen Nachfolger, den er sich so sehnsüchtig gewünscht hatte.

    Eric war etwa genauso alt wie der Junge, der draußen im Garten des Bürgermeisters schuftete. Seine blasse Gestalt hatte jedoch im Gegensatz zu ihm wenig Sonnenschein abbekommen. Sein heller Teint verriet, dass er sich die meiste Zeit im Inneren des Hauses aufhielt. Seine weichen Hände schienen genauso wenig wie sein schwabbeliger, ebenfalls übergewichtiger Körper, für harte körperliche Arbeit geschaffen zu sein. Eric verbrachte seine Tage nach den Schulbesuchen lieber im Haus, wo er ungestört niveaulose Comics lesen konnte, während er sich ein Stück Kuchen nach dem anderen in den Mund stopfte. Hände und Gesicht waren meistens verschmiert mit Schokolade und den verschiedensten farbenfrohen Dessertsoßen. Ihn selbst störte das überhaupt nicht. Auch seine Mutter, die ähnliche Essgewohnheiten pflegte wie ihr Sohn, sagte nichts dazu. Im Gegenteil. Liebevoll drückte sie den Teenager an ihren gewaltigen Busen, so als wäre er immer noch fünf Jahre alt, schmatzte einen klebrigen Kuss auf seine Stirn und bot ihm an, süßen Nachschub zu bringen, was er mit einem zustimmenden Grunzen quittierte.

    Verließen Mutter und Sohn das Haus, meistens, um den Bürgermeister zu einer seiner Ansprachen vor der Dorfgemeinschaft zu begleiten, achteten sie natürlich auf saubere, gepflegte Kleidung.

    Eduard Braun erwartete, dass seine Familie neben ihm glänzte. Schließlich war er für die Traumländer ein großes Vorbild. Von der Gemeinschaft geachtet und geschätzt, hielt er geschwollene Reden und ließ sich gleich einem großen Politiker bejubeln und feiern. Gerne sah er sich als Gönner. Da kam es ihm natürlich gelegen, als die Nachbargemeinde ihn vor Jahren um Rat gefragt hatte, was denn mit dem Jungen geschehen sollte, der nach dem großen Beben vor geraumer Zeit im angrenzenden Wald »übrig geblieben« war. Hinter vorgehaltener Hand munkelte man hier und da immer noch über die schreckliche Nacht.

    Damals.

    Aus sicherer Entfernung hatten die Traumländer das Schauspiel verfolgt, das sich ihren vor Entsetzen aufgerissenen Augen einige Jahre zuvor geboten hatte.

    Es schien, als ob in der Dämmerung Gut gegen Böse kämpfte. Der Boden wackelte und vibrierte, bis er schließlich an einigen Stellen gänzlich aufriss und nackte Erde bloßlegte. Die Luft schien zu stehen. Angefüllt von bedrohlichen Nebelschwaden, deren Farbe sich ständig veränderte. Plötzlich trat auch noch der Fluss über die Ufer und überflutete die Randgebiete des Waldes. Das kleine Blockhäuschen der Frau, die mit ihrem seltsamen Sohn direkt am Waldrand lebte, wurde dadurch beinahe vollständig zerstört. Man vermutete, die Frau hatte ihr Leben in den Fluten gelassen. Sie galt seitdem als vermisst. Ihre Leiche wurde allerdings nie gefunden.

    Einzig ihr damals zehn Jahre alter Sohn hatte überlebt. Er saß völlig durchnässt auf einem Stein in der Nähe der Blockhütte und schaute in der Morgensonne apathisch in die Trümmer seines Zuhauses. Kein Wort hatte man aus ihm rausbringen können. Er stand wohl unter Schock, so vermutete man. Aber das war ja verständlich, da er gerade seine Mutter, die einzige Angehörige die er noch besaß, an die Dämmerung verloren hatte.

    Natürlich war die junge Frau selbst schuld an ihrem Unglück, befanden die Traumländer schnell. Das hatte sie nun davon, dass sie sich der Dorfgemeinschaft nicht angeschlossen hatte und vorzugsweise so nah am gefährlichen Wald wohnte. Und ihr Sohn, war schon immer eigenartig gewesen. Nicht nur wegen seiner hässlich abstehenden Ohren. Auch weil er so langsam und umständlich sprach und keine Freunde fand. Zudem war es den Dörflern unverständlich, dass sich der Junge ständig im Wald aufhielt. Also genau das tat, was die Traumländer tunlichst zu vermeiden suchten.

    Die Traumländer lebten zwischen den Welten. Entstanden aus der Fantasie besaßen sie zu wenig Bodenhaftung, um auf der Erde zu verweilen. Ihr Geist jedoch war zu festgefahren, als dass sie sich zu den Geistern, die hoch oben auf den Bergwipfeln lebten, begeben konnten. Freilich hatte man noch nie einen Bewohner des Geisterstaates zu Gesicht bekommen, genauso wenig wie einen der Wichtel, die auf der anderen Seite des angrenzenden Waldes lebten. Einige der Traumländer vermuteten deshalb, es handle sich bei den beschriebenen Wesen der anderen Welten, die man nur aus den Büchern und Legenden kannte, um ausufernde Fantasien. In einem war man sich jedoch einig. Den Wald galt es tunlichst zu meiden, insbesondere, wenn sich die gefürchtete Dämmerung ankündigte. Zu viel Unheil lag dann in der Luft.

    In den vergangenen Jahren gab es immer wieder den einen oder anderen Todesfall zu bedauern. Traumländer, die sich, aus welchen Gründen auch immer, nicht an die Warnung gehalten hatten, den Wald nach Anbruch der Nacht zu betreten, fand man am anderen Tage tot auf. Körperlich unversehrt, jedoch mit weit aufgerissenen Augen, aus denen das blanke Entsetzen sprach. Furchtbares musste ihnen widerfahren sein, so viel stand fest.

    Niemand wusste, was genau im Wald geschah, wenn die Nebelschleier aufstiegen und ihn in ein undurchdringliches Schreckensszenario verwandelten. So geschehen war es auch in besagter Nacht. Die Dorfgemeinschaft rätselte über den Verbleib der jungen Frau, die mit ihrem Sohn weitab der Zivilisation an den Ausläufern des Waldes gelebt hatte. Wie vom Erdboden verschluckt war sie.

    Jetzt war dieser Junge also ganz allein auf der Welt. Niemand wusste so recht, was mit ihm geschehen sollte. Der Ortsvorsteher dieser Gemeinschaft hatte dann die glorreiche Idee, man solle doch Eduard Braun zurate ziehen. Der wüsste immer einen Weg. Und so umschmeichelte man den Bürgermeister der Nachbargemeinschaft, das Problem zu lösen.

    Und Eduard machte das, was er tagein tagaus zu tun pflegte, er schüttelte die Lösung aus dem Ärmel, ohne lange nachzudenken. Mit geschwollener Brust erzählte er der Dorfgemeinschaft, natürlich müsse man sich dem armen Mündel, das vom Leben so gezeichnet war, annehmen und helfen. Und da der Junge in seinem Dorf so wenig Anschluss habe, sei es das Beste für alle, wenn er umzöge in die Gemeinschaft, der Eduard Braun vorstehe. Als Neuanfang sozusagen. Er, als Bürgermeister, betrachte es als seine gottgegebene Pflicht, sich persönlich um das arme Kind zu kümmern. Erst mal könne es bei ihm Zuhause, bei seiner lieben Frau und seinem Sohn, der zufälligerweise im gleichen Alter war, bleiben. Mit der Zeit würde man dann schon wissen, in welche Richtung sich die Dinge zu entwickeln hätten.

    Zustimmend hatten seine Zuhörer mit den Köpfen genickt. Das Problem war gelöst. Zumindest für die Dorfgemeinschaft. Eigentlich hatte das schlimme Ereignis allen einen großen Gefallen getan. Die junge Frau, die ohnehin als etwas eigenartig verschrien war, war verschwunden und ihr noch seltsamerer Sohn von der örtlichen Gemeinde fortgezogen. Alle waren zufrieden damit.

    Nur Agneta Wilson, die Lehrerin der Dorfgemeinschaft, hatte vermutlich als einzige den Tod der jungen Frau betrauert. Insgeheim hatte sie die toughe Frau, die sich so ganz alleine durch das Leben schlug, sehr bewundert. Die Mutter des Jungen arbeitete in dem örtlichen Pflegeheim, in dem auch der kränkliche Vater der Lehrerin untergebracht war. Agneta Wilson fand großen Gefallen daran, wie aufopfernd und liebevoll sich die junge Frau um ihren Vater und auch um die anderen Bewohner des Heimes kümmerte. Auch mit ihrem Sohn ging sie immer so liebevoll um. Gerne hätte sie Freundschaft mit ihr geschlossen. Verbat sich das allerdings immer selbst. Schließlich war sie noch nicht allzu lange an der Dorfschule tätig und musste sich erst beweisen, um in der Dorfgemeinschaft vollends integriert und anerkannt zu werden. Und darum ging es doch, oder? Deshalb hielt auch sie es wie die anderen Traumländer, sprach nur das Nötigste mit der seltsamen Frau und ihrem Sohn, den sie eigentlich gerne in ihr Herz geschlossen hätte. Sicher, Capri war anders als die anderen, die normalen Kinder. Aber was war schon normal? Hatte nicht jeder ein Recht auf seine eigene Individualität? Von Herzen tat der Lehrerin der kleine Junge leid. Musste er bereits ohne Vater aufwachsen, so war ihm jetzt auch noch die Mutter entrissen worden. Wie mochte es wohl in seinem kleinen Herzen aussehen? Agneta Wilson schüttelte es regelrecht, als sie nach dem Geschehen darüber nachdachte. Aber auch für die mitfühlende Lehrerin hielt der Alltag Einzug.

    So hatte sie mit der Zeit auch den kleinen Jungen aus ihrem Bewusstsein verdrängt, der jetzt mutterseelenallein auf der Welt sein Dasein fristen musste.

    Das Dorf vergaß, den Jungen, der seitdem kein Wort gesprochen hatte, nach seinen eigenen Wünschen zu fragen.

    Eduard Braun hatte nach Beendigung seiner Ansprache dem Jungen seinen schweren Arm auf die Schulter gelegt und ihn mit einem Blick, der keine Widerworte duldete, mit sich genommen. Seine und auch die betroffene Nachbargemeinschaft verabschiedete den Bürgermeister schließlich mit tosendem Beifall und bedingungslosem Respekt. Wieder einmal hatte er alles richtig gemacht. Seiner politischen Karriere stand nichts im Wege.

    Die Frau des Bürgermeisters, die still seiner Rede gelauscht hatte, schlug, kaum waren sie nach Hause gekommen, die Hände über dem Kopf zusammen und schnauzte ihren Mann heftig an. »Was hast du dir nur dabei gedacht, Eduard Braun!« Ihr mächtiger Busen wackelte gefährlich im Ausschnitt ihres Kleides hin und her, als sie ihrem Mann breitbeinig gegenüberstand, um ihn zur Rede zu stellen. Sie sprach, als wäre der Junge nicht vorhanden. Er stand unschlüssig in dem Wohnzimmer der fremden Menschen, ähnlich einem Möbelstück, das nicht so recht in die Einrichtung passen wollte.

    »Was soll das bedeuten, der Junge bleibt erst einmal bei uns. Was hast du dir dabei gedacht?«, wiederholte sie. Speicheltropfen sprühten aus ihrem Mund. Einige landeten auf dem geröteten Gesicht ihres Mannes, der erst einmal nicht zu Wort kam.

    Eric, ihr Sohn, verfolgte das Spektakel aus sicherer Entfernung. Auch ihm war schleierhaft, was sein Vater ihnen mit seiner öffentlichen Entscheidung einzubrocken gedachte. Er verstand die Welt nicht mehr. Was hatte denn seine Familie mit dem Unglück anderer Leute zu tun, noch dazu, wenn es die Nachbargemeinschaft betraf? Staunend spielte Eric an seinem Doppelkinn. Mit Zeigefinger und Daumen zog er die überschüssige Haut in die Länge, um sie dann wieder in Form zu drücken. Eine Geste, die er sich, sehr zum Unmut seines Vaters, angewöhnt hatte.

    »Jetzt ist aber mal genug mit dem Gezeter, Frau!« Eduard Braun gelang es endlich, sich nach bekannter Manier Gehör zu verschaffen. »Ich wurde um Rat gefragt und bin meiner Aufgabe nachgekommen, ein Problem zu lösen. Nichts weiter.«

    Erschöpft zog er sich einen Stuhl heran, um sich mit voller Wucht darauf fallen zu lassen. Die Beine des Holzstuhles bogen sich gefährlich unter der schweren Last. Eduard griff nach einem ordentlich gebügelten und gefalteten Taschentuch aus seiner Hosentasche, um sich den Schweiß und auch die Speichelspuren seiner Frau abzuwischen. Kurz blickte er auf das Tuch in seiner Hand, so als wolle er darin lesen, wie eine Zigeunerin die Zukunft aus dem Kaffeesatz, bevor er es wieder einsteckte.

    »Schön und gut«, haderte seine Frau weiter. »Aber musstest du ihn gleich in unsere Familie integrieren? Wie stellst du dir das nur vor? Ein fremdes Kind bei uns. Denk doch nur mal an den Aufwand und die Arbeit, die das mit sich bringt. Ich weiß ohnehin nicht, wo anfangen bei der vielen Plackerei jeden Tag.« Stöhnend ließ auch sie sich auf einen Stuhl fallen. Unter ihrem Gewicht ächzte der Stuhl nicht weniger als vorhin bei ihrem Mann.

    »Eben. Eben.« Eduard Braun nicke bedächtig mit dem Kopf, so als wolle er seinen Worten dadurch mehr Gewicht verleihen. Das Gejammer seiner Frau über die viele Haus- und Gartenarbeit, die sie tagein, tagaus zu verrichten hätte, war in seinem Gedächtnis gespeichert. Auch wenn er selbst immer wieder verwundert feststellte, dass Haus und Hof im Großen und Ganzen einen sehr ungepflegten, ja beinahe verwahrlosten Eindruck machten. Allzu viel Mühe konnten seine Lieben nicht aufgewendet haben. Rätselhaft, wirklich sehr rätselhaft. Wenn er abends nach getaner Arbeit sein trautes Heim aufsuchte, dampfte zwar ein leckeres Mahl auf dem Herd, ansonsten sah es im Inneren des Hauses genauso unordentlich aus, wie er es am Morgen verlassen hatte.

    Sprach er seine Frau darauf an, jammerte sie ihm nur die Ohren voll, dass ihr alles zu viel sei. Und ihren armen Sohn könne sie schließlich auch nicht mit einer Bürde Aufgaben im Haushalt eindecken. Schließlich sei er erst zehn Jahre alt und habe mit der Schule schon genug zu tun.

    Komischerweise, so grübelte Eduard, brachte es Eric auch nur zu seinen einigermaßen annehmbaren Zensuren in der Schule, weil keiner der Lehrer es wagte, den Sohn des Bürgermeisters abzuwerten. Schaute er sich selbst allerdings die Arbeiten an, konnte er nur mit dem Kopf schütteln. Viel Hirn schien sein Sohn wirklich nicht an den Tag zu legen. Das hätte er sich gerne anders gewünscht. Aber gut.

    Eduard Braun tauchte aus seinen Gedanken wieder auf. Jetzt galt es, gute Überzeugungsarbeit zu leisten, diesmal hinter der heimischen Tür.

    »Schau doch mal, Hedwig«, begann er mit schmeichelnden Worten. »Jetzt haben wir eine kostenlose Hilfe für Haus und Hof.« Mit ausladender Geste wies er auf den schmalen, jedoch stämmigen kleinen Jungen, der immer noch in der Mitte des Raumes stand. »Du beschwerst dich immer über die viele Arbeit im Haus. Der Junge kann jetzt alles erledigen.« Eduard atmete entspannt aus. »Und das ist er uns auch schuldig«, setzte er nach. »Schließlich nehmen wir ihn auf und verköstigen ihn. Dafür kann er nach der Schule für uns arbeiten. Somit ist jedem bestens gedient.« Er tätschelte sich wohlwollend seinen üppigen Bauch, der über der Gürtelschnalle in alle Richtungen quoll.

    Eduards gesprochene Worte hallten in den Ohren seiner Frau nach. Ihr Verstand verarbeitete sie sogleich. Im Geiste sah sie sich mit ihrem Sohn entspannt am Kaffeetisch sitzend, während der Junge aufräumte, putzte und sie bediente. Sie schaute ihren Mann mit einem listigen Grinsen an. Sie hatte verstanden.

    Eduard zog nur die Augenbrauen gönnerhaft nach oben. Mochte seine Hedwig auch nicht die Cleverste sein, wenn es jedoch darum ging, den eigenen Vorteil auszuloten, war sie einmalig. Das, was er ihr gerade in zwei Sätzen erklärt hatte, war ihm durch den Kopf gegangen, als er von der Dorfgemeinschaft um Rat gefragt worden war. Sogleich war ihm klar geworden, dass er sich des Jungen annehmen und somit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen würde.

    Einerseits stieg dadurch sein Ansehen, da er großmütig eine Waise in sein Haus holte, und andererseits bekam seine Familie durch sein umsichtiges Handeln eine kostenlose Hilfe gestellt, so hatte er sich das vor seiner Rede im Nachbardorf überlegt.

    Mochte der Junge jetzt auch noch klein und schmächtig wirken, die Zeit würde es bringen. Bald schon würde er ihn auch schon mit schwierigeren Aufgaben in Haus und Hof betrauen können. Und da der Junge, wie bekannt, sowieso sehr in sich gekehrt war, würde er sein Los nicht kundtun. Seiner Natur geschuldet würde er sein Leid ertragen, ohne sich zu beschweren. Dessen war sich Eduard sicher. Er hatte schließlich Menschenkenntnis. Außerdem stand der Junge ja noch unter Schock, wegen des Verlustes seiner Mutter. Das war natürlich von der Sache her schon bedauerlich, aber das verging. Und ehe er sich versah, würde sich der Junge in der täglichen Tretmühle wiederfinden, und sein neues Leben gar nicht infrage stellen.

    »Pa, wo soll der da denn wohnen?« Eric fand es an der Zeit, sich in die Gespräche seiner Eltern, deren Sinn er auch inzwischen verstanden hatte, einzumischen. »Der schläft doch nicht etwa in meinem Zimmer?« Sein Doppelkinn wackelte gefährlich hin und her, wie bei einem Fleischerhund.

    »Aber nein, wo denkst du hin, Sohn«, beruhigte ihn Eduard. »Fürs Erste kann er in dem Geräteschuppen hinter dem Haus schlafen. Wenn er die Werkzeuge etwas beiseiteschiebt, hat er sicher Platz genug.«

    Diese Antwort stellte Eric erst einmal zufrieden.

    Auch Hedwig schien der Vorschlag gut zu gefallen. Sie spitzte ihre wulstigen Lippen und überlegte laut. »Ja, du hast recht. Das wird wohl das Beste sein. Im Schuppen hat er seine Ruhe und wir im Haus auch. Er kann ja auch erst einmal dort seine Mahlzeiten einnehmen. Dann wird unser Familienfrieden nicht gestört.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Und wenn er sich etwas gefangen hat, kann er gleich anfangen, den Garten umzugraben. Das ist dringend nötig. Außerdem«, fügte sie altklug hinzu, »heilt Gartenarbeit die Seele. Das habe ich irgendwo gelesen. So kann er den Verlust seiner Mutter prima verarbeiten.« Begeistert über ihre eigene Idee klatschte die dicke Frau fröhlich in die Hände und erhob sich schwerfällig. »Eric, mein Liebling. Zeig doch unserem neuen Mitbewohner sogleich seine Schlafstätte«, flötete sie. »Du kannst ihm später etwas von den Resten unseres Abendessens bringen.«

    Sie überließ ihrem übergewichtigen Sohn das Feld, das dieser sogleich in Besitz nahm. Ähnlich wie sein Vater liebte auch Eric es über alles, andere zu dominieren und herum zu kommandieren. Da konnte er mit diesem Dummkopf, der einfach nur stumm in seinem elterlichen Wohnzimmer stand, gleich üben.

    »Komm mit, du Pfeife«, raunte er ihm zu und schubste den Jungen unsanft zur Haustür hinaus, durch die er vor wenigen Minuten das Haus der Bürgermeisterfamilie betreten hatte. Kurze Zeit später kehrte Eric zu seinen Eltern zurück, die bereits ihre Plätze an dem Abendbrottisch eingenommen hatten. Das war erledigt.

    Er hatte den kleinen Schuppen aufgesperrt, den fremden Jungen unsanft hinein geschubst und die Holztür sicherheitshalber wieder verriegelt. Auch Eric hatte die Gedankengänge seines Vaters begriffen. Der neue Mitbewohner würde eine willige Arbeitskraft darstellen, was der Bequemlichkeit der Familie sehr zugutekommen würde. Konnte der Neue doch die Arbeiten erledigen, die täglich anfielen. Umso mehr Zeit hätte er, der eigenen angeborenen Faulheit zu frönen. Von Natur aus war er untätig und liebte den Müßiggang. Warum auch nicht? Seine eigene Mutter lebte ihm das doch tagein tagaus bereitwillig vor. Seine ihm gestellten Aufgaben im elterlichen Haus hielten sich im Rahmen des Machbaren. Somit hatte er viel Zeit, dem Nichtstun zu frönen. Das konnte er am allerbesten. Für die Schule tat er auch nicht mehr als unbedingt nötig. Die Lehrer vergaben aus Respekt zu seinem berühmten Vater Noten, die sich sehen lassen konnten. Eric war mit seinem ereignislosen Leben weitgehend zufrieden. So lange er in den Tag hineinleben konnte und von seiner Mutter immer wieder den einen oder anderen Leckerbissen zugesteckt bekam, war für ihn alles in Ordnung. Wenn jetzt auch noch der fremde, seltsame Junge für die schwere Arbeit sowie zum Herumkommandieren verfügbar war, umso besser.

    »Eric, Liebling, kannst du bitte den Tisch decken, damit wir gleich essen können«, riss ihn seine Mutter aus seinen Gedanken. »Ich bin so erschöpft von der Diskussion mit deinem Vater von eben.« Hedwig fächelte sich mit einer Hand gelangweilt Luft zu. Das neue aufregende Thema von vorhin war für sie bereits Geschichte. Heftiges Magenknurren machte sich bemerkbar und lenkte sie ab.

    »Ab morgen kann der da das machen«, meckerte Eric seine Mutter an und wies mit der Hand in Richtung Geräteschuppen im Garten. Er watschelte zum Kühlschrank, um die Schätze daraus auf dem Esstisch zu stapeln. Es gab kaltes Huhn, eingelegt in ölige Panade, dick geschnittene Scheiben Weißbrot, Butter, verschiedene Marmeladen und fette Wurst. Zum Abschluss des üppigen Mahls hatte seine Mutter eine große Sahnetorte kaltgestellt. Eric grunzte beim Anblick des Zuckergusses und tauchte genüsslich einen Finger hinein, um ihn gierig abzulecken.

    »Eric, benimm dich doch«, herrschte ihn sein Vater streng an. »Das ist doch der Nachtisch.« Sogleich schob auch Eduard seinen Stuhl näher zum Tisch. Das Abendessen lockte.

    Als die Familie in ihrer gewohnten Runde ihr Mahl beendet hatte, kehrte Hedwig mit klebrigen Fingern die Reste auf einen benutzten Teller. Von der Sahnetorte war kein Krümel mehr übrig. Die letzten Spuren davon klebten um den Mund ihres geliebten Sohnes, der sich genüsslich über den vollen Bauch strich und rülpste. Was hatte sie doch für einen prächtigen Sohn geboren. Auch wenn seine Manieren zu wünschen übrig ließen, stellte er doch etwas dar. Man konnte ihn nicht übersehen. Wie ganz anders war doch der schmächtige, dünne Junge, der ab jetzt in ihrem Holzschuppen vor dem Haus wohnte. Sie fuhr sich durch die praktisch kurz geschnittenen Haare, die sich dank einer sauren Dauerwelle in kleinen Schweinslöckchen fröhlich kringelten.

    »Eric, sei doch so lieb und bring dem Jungen sein Abendessen. Und gib ihm eine Decke aus der Kiste vor dem Haus, dann kann er sich gleich einen Schlafplatz einrichten«, sagte sie gönnerhaft. »Nur noch heute Liebling, ab morgen brauchst du ihn nicht mehr so verwöhnen, dann kann er alles selber erledigen«, fügte sie hinzu, als sie Erics kritischen Blick bemerkte. Grunzend nahm er der Mutter den Teller ab und trabte gehorsam in Richtung Tür.

    Sein Vater hatte bereits die Tageszeitung aufgeschlagen und las wichtig und ausführlich die Schlagzeilen. Man musste ja informiert sein. Morgen, so dachte er, würde ein exzellenter Bericht über ihn, den Bürgermeister, zu lesen sein. Wie er großzügig ein Waisenkind aus größter Not heraus gerettet und in seine Familie aufgenommen hatte. Er tätschelte sich selbstversonnen mit der freien Hand den behäbigen Bauch. Wie schön das Leben doch war, wenn man wichtig und bedeutend stets im Rampenlicht stand. Am Rande nahm er die Unterhaltung zwischen Frau und Sohn war.

    »Ach, Eric, am besten lässt du den Schuppen über Nacht abgeschlossen«, hörte er Hedwig sagen. »Nicht, dass unsere Hilfskraft in seiner Blödheit wieder davon rennt. Dann wäre die ganze Aufregung ja umsonst gewesen.«

    Eric schnaufte und ging gemächlichen Schrittes davon.

    Seit diesem Tag waren die Jahre ins Land gegangen. Viel geändert hatte sich für Capri allerdings nichts. Immer noch schlief er in dem kleinen Holzschuppen, der an das Haus des Bürgermeisters angrenzte, auf dem blanken Boden zwischen allerlei Werkzeug und Gerümpel. Im Winter fror er erbärmlich unter seiner dünnen, verschlissenen Decke, die ihm gnädigerweise überlassen wurde.

    Und trotzdem liebte er die Nacht. Seine Träume gehörten ihm alleine. Und die waren immer wunderschön. Wie Balsam auf seine verwundete Seele erreichten ihn gute Gedanken, sobald er die Augen nach den immer gleich anstrengenden Tagen müde schloss.

    Im Traum war sie ihm stets ganz nah, so wie sie es ihm einst versprochen hatte. Seine geliebte Mo-Mo. Ihm war, als ob sie nachts wie ein Engel vom Himmel herab flöge, um ihn zu beschützen.

    Capri fühlte sich dann wieder wie früher geliebt und geborgen. Mo-Mo hielt ihn fest in ihren Armen und wiegte ihren Sohn wie ein Baby hin und her. Sie küsste seine Narben, die sich tief in seine verlorene Seele eingegraben hatten, sie heilte alte und neue Wunden. Und sie roch an ihm, wie sie es immer getan hatte. Wie ein Tier an seinem Jungen roch, um es mit allen Sinnen wahrzunehmen. Sie strich ihm das dichte Haar aus der Stirn und berührte den kleinen Fleck auf seiner linken Wange. Sie war einfach wunderbar. Capri tankte in den Nächten so viel Kraft und Mut wie nur irgend möglich. Das rettete ihn über die grauenhaften Tage, die angefüllt mit Arbeit auf ihn warteten.

    Nur selten dachte er an die schicksalsreiche Nacht im Wald von damals zurück. Und das tat er auch bewusst nicht. Ab und zu holte ihn die Erinnerung jedoch wie von selbst ein. Dann durchlebte er die heftigsten Augenblicke noch einmal aufs Neue. Sah seine beiden Freunde vor seinem inneren Auge.

    Was mochte nur aus Bo und Fee geworden sein?

    Hatte es Bo geschafft mit seinem verletzten Bein zurück zu den Wichteln zu kommen, Und Fee? Wie mochte es dem Geistermädchen ergangen sein? Über den Verlust ihrer langen Haare war sie bestimmt mit einem Lächeln hinweggekommen. Aber was war mit ihrem Gesicht geschehen? Heilten die schmerzhaften Wunden, die ihr das Grauen zugefügt hatte?

    Capri wusste es nicht. Konnte nur spekulieren. Und das Beste hoffen.

    Gemeinsam hatte er sich damals mit seinen beiden Freunden aus den anderen Welten aufgemacht, um sich dem Grauen zu stellen. Mutig hatten sie einen Kampf aufgenommen, der sie beinahe umgebracht hätte. Jeder von ihnen hatte ein Opfer dargebracht. Fee büßte ihre Schönheit ein, Bo, der Wichtel, durch die Fußverletzung seine Lebendigkeit. Und er selbst hatte das Beste in seinem Leben verloren: seine Mo-Mo.

    Capri wischte sich mit kalten Händen über das Gesicht. Zumindest lebte er. Auch wenn man sein Leben nicht wirklich eines nennen konnte. Der Verlust seiner Mo-Mo hatte ihn beinahe um den Verstand gebracht. Die Lücke, die sie in seinem Herzen hinterließ, war größer als alles andere. Manchmal war der Schmerz so heftig, dass er meinte, das Herz in seiner Brust würde zerreißen.

    Wenn es jedoch ganz schlimm wurde, kamen ihm sofort die Worte seiner Mo-Mo in den Sinn, die sie zu ihm einst wie in Trance gesprochen hatte. »Egal was geschieht, vergiss nicht, ich bin bei dir. Ich lasse dich nie alleine. Ich liebe dich über alles. Du bist das Beste, was mir in meinem Leben widerfahren ist. Hab keine Angst. Du bist niemals allein. Auch wenn ich nicht bei dir sein kann, bin ich doch stets da.«

    Damals hatte er den Sinn ihrer Worte nicht verstehen können. Und sie vermutlich auch nicht. Sie war doch immer da. Wie sollte es jemals anders sein?

    Und dann war ihm das Schrecklichste im Leben widerfahren, was er sich in seinen schlimmsten Träumen nicht hätte ausmalen können. Seine Mo-Mo war fort. War in den Fluten des Wasserfalles ertrunken. Sie hatte sich geopfert, für ihn, ihren geliebten Sohn. Ihr Leben für sein Leben gegeben. Selbstlos. Ohne auch nur einen Augenblick zu überlegen oder zu zögern.

    Das Bewusstsein, dass sie ihn dennoch nicht allein ließ, half ihm, die schlimmen Jahre zu überstehen.

    Nur selten dachte er an das kleine Blockhaus am Waldrand zurück, das er einst mit seiner Mo-Mo bewohnt hatte. Zuletzt hatte es vor seinen Augen in Trümmern gelegen. Zerstört von den Urgewalten der Natur. Erdbeben und Wassermassen hatten ihr Bestes gegeben, alles mit sich zu reißen oder unter sich zu begraben. Schaurig war der Anblick gewesen, der sich ihm bot, als er in der Morgendämmerung aus dem Wald herausgefunden hatte.

    Nichts war mehr so wie es gewesen war. Lange danach noch hatte er fassungslos auf die Trümmer gestarrt. Immer wieder die Augen geschlossen, um sie schnell wieder zu öffnen. So als ob dann alles wieder gut wäre. Er nur alles geträumt hätte. Das Haus würde wie immer an seiner Stelle stehen, seine Mo-Mo mit ausgebreiteten Armen davor, sobald sie ihn erblickte. Aber er konnte die Augen so oft schließen und öffnen wie er wollte. Immer wieder blickten ihn nur die traurigen Überreste seines alten Lebens an. Nie würde er den Anblick vergessen, der sich ihm geboten und tief in seine Seele eingebrannt hatte.

    Irgendwann spät am Vormittag waren dann plötzlich viele Traumländer aufgetaucht, die wild gestikulierend versuchten zu rekonstruieren, was denn eigentlich geschehen war. Ihn selbst betrachtete man scheu aus dem Augenwinkel. Niemand machte sich groß die Mühe, sich um ihn zu kümmern, den Jungen, der verlassen auf einem Baumstumpf saß und stumm das Trauerspiel betrachtete. Capri erwartete auch nichts anderes. So war es immer schon gewesen. Niemand nahm ihn wahr oder beachtete ihn. Die Blicke die man ihm zuwarf, waren eher von Ratlosigkeit geprägt. Was sollte man jetzt nur mit ihm tun? Wohin mit dem kleinen Jungen, der jetzt wohl ganz alleine auf der Erde war? Irgendwann war ein Traumländer schließlich auf die Idee gekommen, den allwissenden Bürgermeister der Nachbargemeinde um Rat zu fragen. So hatte das Schicksal seinen Lauf genommen.

    Und er lebte weiter. Tag um Tag. Ab und zu kamen in seinen Träumen jedoch andere Gedanken an die Oberfläche. Worte, ausgesprochen von ihm selbst. Worte, die er selbst einst aufgeschrieben hatte. Ihre Gültigkeit bestand fort, das spürte er.

    Gemeinsam mit seinen Freunden hatte er gegen das Grauen gekämpft. Jeder musste ein Opfer darbringen. Aber sie hatten mit vereinten Kräften das Böse verletzt. Nicht besiegt, aber schwer gezeichnet.

    Der Kampf war noch nicht beendet. Irgendwann würde die Zeit dafür reif sein, ihn wieder aufzunehmen. Er würde es erfahren.

    Rechtzeitig. Er war der Auserwählte.

    Die Sonne brannte immer noch heiß auf Capris nackten Rücken, als er den letzten Ast des Baumes zu dem Haufen schleppte. Er wuchtete ihn auf die anderen und setzte sich anschließend erschöpft auf den Rasen. Mit der Hand wischte er sich den Schweiß von der Stirn, bevor er ihm in den Augen brennen konnte. Capri atmete tief durch. Er streckte seine überanstrengten Glieder von sich. Die schwere körperliche Arbeit forderte ihren Tribut. Dazu noch die unerträgliche Hitze, die der August der Sonne abtrotzte. Sein Magen knurrte. Schlimmer war jedoch sein Durst. Die Zunge schien ihm bereits seit Stunden am Gaumen zu kleben. Er nahm den Geruch des frisch geschnittenen Holzes wahr. Ließ seinen Gedanken freien Lauf. Wie schön wäre es jetzt, in den Wald aufbrechen zu können. In seinen geliebten Wald. Immer noch zog es Capri an diesen Ort. Daran hatte auch jene schreckliche Nacht, in der er mit dem Grauen kämpfte, nichts geändert. Der Wald war gut, das wusste er. Unter seinen dichten Bäumen würde er tröstenden Schatten finden. In Gedanken meinte er bereits das Plätschern des Baches zu vernehmen, der in vielen kleinen Adern den Waldboden durchzog und Tiere und Pflanzen mit seinem köstlichen Nass speiste. Capri schloss für einen Augenblick die Augen.

    In der Ferne hörte er die energiegeladene Stimme von Bo durch die Wälder klingen. Fee spritzte mit dem kühlen Wasser um sich. Tanzte fröhlich um die eigene Achse, sodass ihre langen bläulich schimmernden Haare nur so um sie flogen und sie wie ein seidener Teppich einhüllten. Die Schatten der Bäume malten lustige Zeichnungen auf den Boden. Die Grillen zirpten leise und beständig im Schilf. Die Welt in seinem Traum war so, wie er sie liebte.

    Es war ihm, als ob es erst gestern gewesen wäre, dass er mit seinen Freunden fröhlich im Wald gespielt hatte. In Wirklichkeit waren Jahre seitdem ins Land gezogen. Sechs Mal hatten sich die Jahreszeiten abgewechselt.

    Aus dem kleinen Jungen war ein gut aussehender Teenager geworden. Die harte Arbeit hatte seinen jugendlichen Körper gestählt. Muskeln saßen an den richtigen Stellen. Da er ein gutes Stück in die Höhe geschossen war, besaß er eine eindrucksvolle Statur. Wenn er auch aufgrund der kargen Kost, die er von der Familie des Bürgermeisters erhielt, überaus schlank war. Ein paar Pfund mehr auf den Rippen hätten ihm gut gestanden. Aber das wurde ihm nicht zugebilligt.

    Doch Capri beschwerte sich nicht. Überhaupt sprach er so gut wie gar nichts. In der Schule, die er während der vergangenen sechs Jahre vormittags besuchen durfte, damit der äußere Schein gewahrt blieb, schwieg er ebenso wie in der Familie, in die er nie richtig aufgenommen worden war. Warum auch sollte er reden? Es hätte ja ohnehin keinen Zweck gehabt.

    Eduard Braun legte lediglich Wert darauf, seinen Status in der Öffentlichkeit zu halten. Deshalb schickte er den Waisenknaben gut gekleidet in die Schule und nahm ihn auch zu dem einen oder anderen öffentlichen Auftritt mit. Ansonsten war es ihm ziemlich einerlei, ob es dem Jungen gut ging oder nicht. Hauptsache, er hatte seinen häuslichen Frieden. Also zuckte er nur mit den Schultern, wenn er sah, wie Capri von seiner Frau und seinem Sohn herumgeschubst wurde.

    Hedwig jammerte ihrem Mann nach dem Mittagessen meist die Ohren voll, was alles zu tun wäre. Seine, Eduards, Aufgabe bestand darin, direkt danach zu dem Schuppen zu marschieren, den Capri immer noch bewohnte, und

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