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So wird es kommen: Höchstpersönliches aus einem Frauenleben und der Welt des Fernsehens
So wird es kommen: Höchstpersönliches aus einem Frauenleben und der Welt des Fernsehens
So wird es kommen: Höchstpersönliches aus einem Frauenleben und der Welt des Fernsehens
eBook497 Seiten5 Stunden

So wird es kommen: Höchstpersönliches aus einem Frauenleben und der Welt des Fernsehens

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Über dieses E-Book

Heide Nullmeyer - bekannt durch ihre ARD-Fernsehporträts "Frauengeschichten" und "höchstpersönlich" - erzählt aus ihrem spannenden Leben: ihrer Herkunft als uneheliches Kind eines verheirateten Vaters, ihrer spektakulären Heirat mit einem Griechen in Athen, ihren Anfängen bei Radio Bremen Fernsehen, von Begegnungen mit ungewöhnlichen Frauenschicksalen, sowie von Prominenten wie Erika Pluhar, Hildegard Hamm-Brücher, Gitte Haenning, Marika Rökk, Ingrid van Bergen, Rudi Carrell und vielen anderen.

"So wird es kommen" ist ein fesselndes Dokument einer Frauenbiografie von der Sekretärin zur Fernsehjournalistin, Diplompsychologin, späteren Seminarleiterin und Traumtherapeutin. Als Psychologin hinterfragt Heide Nullmeyer ihre eigene Entwicklung. Sie gibt Antworten, die Mut machen, sich nicht unterkriegen zu lassen und auch schwierige Zeiten als hilfreich für die eigene Entwicklung zu verstehen.

Vorwort von Erika Pluhar
"Anrührend, offenherzig, ohne jeden Hauch von Voyeurismus, erzählt Heide Nullmeyer Persönliches, aber auch von intensiv und farbig erlebten Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen. Es lohnt sich, diese Frauengeschichte zu lesen."
Erika Pluhar, im Nov. 2019

Nachwort von Prof. Dr. Annelie Keil
"Heide Nullmeyer führt uns mit ihrer Liebe zum Leben durch ihre Lebens- und Arbeitslandschaften, authentisch und wachsam sich selbst gegenüber und ohne falsche Überzeugungslust, was richtig oder falsch sei"
März 2020
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum11. März 2020
ISBN9783347006638
So wird es kommen: Höchstpersönliches aus einem Frauenleben und der Welt des Fernsehens

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    Buchvorschau

    So wird es kommen - Heide Nullmeyer

    Vorwort von Erika Pluhar

    Als bekannte Schauspielerin, jedoch mein Leben lang stets schreibender Mensch gewesen, hatte ich etwa vierzigjährig zum ersten Mal ein Buch veröffentlicht. „Aus Tagebüchern hieß es und erschien in der Taschenbuchreihe „Neue Frau bei Rowohlt. Angela Praesent, die diese Reihe gründete, hatte mich dazu bewogen. Sie war es auch, die mit höchster Delikatesse die Auswahl aus meinen tatsächlichen, authentischen Tagebüchern traf. Das war 1980.

    Bald darauf, und wohl auch vom Lesen dieses meines Buches dazu angeregt, meldete sich telefonisch die Dokumentarfilmerin Heide Nullmeyer bei mir. Sie war mir keine Unbekannte. Ich wusste von ihrem Film und dem darauffolgenden Buch „Ich heiße Erika und bin Alkoholikerin". Beides hatte mich berührt. Wusste ich doch auch, was Alkoholismus bedeutet, ich wusste es traurig genau von Männern meines Lebens.

    Heide Nullmeyer besuchte mich also in Wien. Sie kam mit der Idee, dem Vorhaben, eine ihrer „Frauengeschichten" - erfolgreich als Doku-Serie - mit mir zu realisieren. Als eine selbstsichere, jedoch einfühlsam auf mich eingehende Frau, die ihr filmisches Wirken und ihre Karriere energisch und fest im Griff hatte, so erschien sie mir. Im Gespräch gab es sofort Gemeinsamkeiten. Ich sagte sehr bald zu.

    Wir drehten also diese Frauengeschichte - und wir zwei Frauen wurden Freundinnen. Sind es bis heute geblieben. Auch eine ihrer „Höchstpersönlich"-Dokumentationen verwirklichte sie anschließend noch mit mir. Heide kämpfte in unseren Anfängen mit einer Liebes-Geschichte - ich ebenfalls - wir waren zwar nicht mehr die Jüngsten, aber damals noch jung genug, um auf der erotischen Suche nach ewiger Liebe zu sein.

    Jetzt bin ich achtzig - Heide wird es demnächst - und wir konnten trotz räumlichem Abstand und nur sporadischem Beisammensein unsere Lebenswege wechselseitig mitverfolgen.

    Ich ihr Studium und ihren Weg zur Psychotherapeutin - ihre gruppendynamischen Aufenthalte in Griechenland - ich lernte ihren jetzigen Mann Frankie kennen und schloss ihn rasch ins Herz - den großen Frauenpersönlichkeiten Annelie Keil und Ortrud Grön begegnete ich - von Heides späterer Traum-Arbeit erfuhr ich.

    Sie hingegen konnte mich mehr und mehr als Schriftstellerin wahrnehmen, nach „Aus Tagebüchern" veröffentlichte ich regelmäßig Bücher. Es wurde das zu meinem eigentlichen Weg. Heide organisierte im Raum Bremen Lesungen für mich und war bei diesen als Moderatorin und mit Ausschnitten aus ihren Filmen wunderbar an meiner Seite.

    Die Jahre flogen. Ja. Und jetzt las ich ihr Buch.

    Und erfuhr von Unsicherheiten und Verletzungen, von wahrlich bestürzenden ‚Irrungen und Wirrungen‘, die diese heitere, unerschütterliche Heide Nullmeyer, die ich 1981 kennen gelernt hatte, jedoch geformt hatten. Die von ihr in unermüdlichem Bemühen aufgearbeitet und überwunden wurden, die sie zu Kreativität und verantwortungsvollem Tun verwandeln konnte. Heide hatte ihr „griechisches Ehe-Desaster" mir gegenüber zwar ab und an, jedoch eher anekdotisch, erwähnt. Ich fühlte stets ihr weiterhin leidenschaftliches Hingezogensein zu Griechenland. Auch lebte, als wir uns kennen lernten, ihre Mutter noch, diese so einschneidend Heides Leben bestimmende Frau.

    Aber dieses Buch.

    In der nicht chronologischen Abfolge von anrührend offenherzig, jedoch ohne einen Hauch von Voyeurismus erzähltem Persönlichem, dann den Schilderungen beruflicher Herausforderungen, die es zu meistern galt, ihrer spirituellen Suche, all den intensiv und farbig erlebten Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen - es hat mich meine Freundin Heide wohl erst jetzt in umfassender Weise wahrnehmen und erkennen lassen.

    Es lohnt sich, diese Frauengeschichte zu lesen.

    Erika Pluhar, im November 2019

    Einleitung

    Warum drängt es mich, meine freudvollen aber auch schmerzlichen Erfahrungen, Erlebnisse und Beobachtungen aufzuschreiben? Gibt es so etwas wie eine Art „Drehbuch, dem ich gefolgt bin? Wodurch bin ich geprägt worden? Was hinderte mich, lange Zeit selbst bestimmt zu leben? Welchen Einfluss hatte es, dass ich das Resultat einer außerehelichen Verbindung bin? War ich ein gewolltes Kind? Durch wen oder was habe ich mich in eine Opferrolle drängen lassen? Welche Elternbotschaften haben mein Verhalten bestimmt? Wo bin ich mir treu geblieben? Welche Risiken bin ich eingegangen? Wie habe ich mich aus schwierigen Situationen herausgearbeitet? Was hätte ich anders machen können? Ich schwankte oft hin und her in meinen Gefühlen. Mal war ich mutig und risikobereit „Ich schaffe das schon - „Ich gehe da durch, egal wie - „Ich brauche niemanden - dann wiederum ängstlich oder trotzig „Das wird nie was - „Das kann nicht gelingen „Ich werde es allen zeigen!"

    Aus der Gedächtnisforschung weiß man, dass unser Gehirn nicht alles lückenlos speichert. Je öfter wir an ein Ereignis denken, desto häufiger ändern sich Nuancen, da die Erinnerungen mit unseren aktuellen Lebenserfahrungen bewertet werden. Das Ergebnis macht umso glücklicher, wenn man feststellt, dass man sich mit den Jahren immer positiver entwickelt hat. Wie steht es mit dem „Schatten in mir, wie C. G. Jung, der Schweizer Psychiater, die „dunkle Seite in uns genannt hat? Vielleicht habe ich die eine oder andere ungute Situation zu meinen Gunsten unter den Teppich gekehrt. In den Kapiteln „Psychologische Gedankensplitter" versuche ich, mir dabei auf die Spur zu kommen. Ich schaue dankbar auf mein Leben zurück.

    Am Anfang sah es nicht so aus, dass ich das heute so würde sagen können. Geboren als uneheliches Kind, das Gymnasium abgebrochen, stattdessen die Lehre zum Großhandelskaufmann (wie man das damals noch nannte). Mit neunzehn einem Griechen nach Athen gefolgt, dort unter spektakulären Umständen geheiratet. Mit neunundzwanzig - nach mehreren Umwegen - bei Radio Bremen im Fernsehen gelandet. Ich blieb fast vierzig Jahre.

    Den Beginn meiner beruflichen Laufbahn als Realisatorin und Autorin verdanke ich einem glücklichen Umstand und meinen Französisch-Kenntnissen. Nach dem ersten gelungenen Interview, geadelt durch eine Ermutigung des Intendanten Hans Abich, waren meine nächsten ersten Schritte kleine Beiträge im Regionalprogramm über Obdachlose, Migranten und Künstler.

    1971 wurde mein erster fünfundvierzig Minuten-Film gesendet. „Experiment Gesamtschule ", eine Langzeit-Produktion für das dritte Programm von Radio Bremen und dem Norddeutschen Rundfunk über die Bremer Gesamtschule-West. Unbewusst hatte ich mir ein Thema ausgesucht, in dem das Motto „Chancengleichheit für alle eine wichtige Rolle spielte. Die abwertende und kränkende Botschaft auf dem Gymnasium „Das kannst du nicht! hatte lange Zeit in mir nachgewirkt.

    Für das Erste Programm des Deutschen Fernsehens porträtierte ich über Jahre viele sehr unterschiedliche Frauen. Die meisten haben mich auf verschiedenen Ebenen angesprochen. Zum Beispiel die Arbeiterfrauen aus Erwitte im Film „Keiner schiebt uns weg", Erika Pluhar, die österreichische Schauspielerin und Sängerin, Hannelore L., die einen Mörder im Knast geheiratet hatte, Erika, eine „trockene" Alkoholikerin, Marika Rökk, der ungarische Star.

    Mit Ende dreißig begann die Suche nach mir selbst. Kurz vor einer Drehreise nach London brach ich im Kasino von Radio Bremen zusammen. Mein Herz raste, ich hatte Todesangst. Nach kurzem Krankenhausaufenthalt landete ich in einer psychosomatischen Klinik im Tecklenburger Land. Dort forderte mich ein Therapeut auf allen Ebenen heraus. In Gesprächen, in aufreibenden Übungen. Dabei tauchten Bilder aus meiner Vergangenheit auf, die ich jahrelang verdrängt hatte. Ich heulte, brüllte, schlug auf ein Kissen ein. „Weiter, ermunterte mich der Therapeut. „Lassen Sie alles raus. Das wird Ihnen guttun. In einer dieser Stunden stellte er mir einen Eimer hin. Ich kotzte. Kotzte alles raus, was seit Jahren in mir unverarbeitet festsaß und mich hinderte, ich selbst zu sein. Ich blieb sechs Wochen in der Klinik. Danach durchforstete ein Psychologe zwei Jahre mit mir die Stadien meiner Entwicklung. Ich gierte nach mehr und setzte mich manchen fragwürdigen Selbsterfahrungs-Seminaren aus. Lange Zeit fühlte ich mich verunsichert und schutzlos. Es war der bewusste Beginn meiner Selbstfindung.

    Mit vierzig startete ich noch einmal neu durch. Ich holte mein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nach, studierte Psychologie an der Universität in Bremen und durchlief parallel dazu eine Fortbildung zur Gestalttherapeutin.

    Mit fünfzig begann ein nächster Abschnitt meiner Entwicklung. Bei meinem Filmporträt „Wenn Körper und Seele streiken" über die Bremer Professorin Annelie Keil, begegnete ich der Traumforscherin Ortrud Grön. Eine neue Herausforderung. Die folgenden zwanzig Jahre leitete ich Seminare im In- und Ausland als Psychologin und Traumtherapeutin. „Die Legende Rudi Carrell " war mein letzter erfolgreicher Film für die ARD im Auftrag von Radio Bremen. Ich war siebzig Jahre alt.

    In Abständen von etwa zehn Jahren veränderte sich mein Leben. Deshalb möchte ich noch einmal genauer hinschauen, wie sich mein Weg entwickelt hat. Sieben Wochen habe ich mich auf der griechischen Insel Karpathos in „Klausur" begeben. Ich bin eingetaucht in meine wechselvolle Vergangenheit - von der Kindheit über meine Jugend, in meine Begegnungen mit vielen interessanten Menschen und deren Schicksalen, darunter viele Prominente. Ich habe meine drei Ehen Revue passieren lassen und stellte beim Schreiben erstaunt fest, wie hautnah manche Erfahrung wieder vor meinem geistigen Auge auftauchte. Im Juni 2020 wurde ich achtzig Jahre alt.

    Heute kann ich sagen, dass alles, was ich durchlebt habe, mir unbewusst geholfen hat, mich stufenweise zu entwickeln. Die karge Schönheit dieser griechischen Insel und die Begegnung mit den Einheimischen, den Flüchtlingen und Zugereisten dort, haben in mir den Wunsch geweckt, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden. Meine Erlebnisse und Gedanken in dieser Zeit, habe ich in einem Reise-Tagebuch festgehalten. Sie sind die zweite Ebene im ersten Teil meines Buches. Die dritte Ebene ist der Versuch einer psychologischen Einordnung in meine Verhaltensweisen. Jeder macht sich Gedanken über sich selbst und wenn man es richtig und gut macht, nennt man so etwas „Selbstreflexion". Meistens macht man das mit sich im stillen Kämmerlein. Sich selbst jedoch öffentlich zum Objekt der professionellen Betrachtung in der Rolle als Journalistin, Filmemacherin und Psychologin zu machen, ist weniger einfach, zwiespältig und in gewisser Hinsicht auch ein wenig verrückt. Dass Sie sich offenbar angesprochen gefühlt haben, in die Episoden meiner Lebensreise eintauchen zu wollen, freut mich erst einmal sehr. Dass Sie mich mit Toleranz und Verständnis auf diesem schwierigen Pfad begleiten, das wünsche ich mir.

    Reise in die Vergangenheit

    Begegnung im Flieger

    Der Flieger von Hamburg nach Athen startete mit einer halben Stunde Verspätung. Hoffentlich bekomme ich den Anschluss-Flug nach Karpathos, sorgte ich mich. Sonst müsste ich in Athen übernachten, in der Stadt, mit der ich immer noch verbinde, was mich mit neunzehn Jahren dorthin geführt hatte: meine erste große Liebe. Als ich damals im Januar 1960 dort ankam, sah ich eine glückliche Zukunft vor mir. Mit Dimitri, dem Mann, dem ich in England begegnet bin. Ich war ihm vom ersten Moment an verfallen. In den sechs Jahren, die ich mit ihm in England, Griechenland und Spanien verbrachte, durchlebte ich ein Wechselbad der Gefühle: Ich liebte bis zur Selbstaufgabe, ich hoffte, ich war enttäuscht, ich war wütend, hilflos, verzweifelt und trotzig.

    Am frühen Morgen hatte ich mich am Flughafen in Hamburg von meinem dritten Mann Frankie verabschiedet. Ich sah ihn winkend vor der Absperrung stehen, die nur Fluggästen vorbehalten war. Irgendwie wirkte er verloren. Er warf mir mit der rechten Hand Küsschen zu. Lange und ganz fest hatte er mich umarmt und mir immer wieder versichert, wie sehr er meinen Entschluss unterstütze, mich schreibend meiner Vergangenheit zu stellen. Ich dachte liebevoll an ihn. Er würde mir fehlen. Ein Mann, der jeden Menschen in seiner Würde respektiert, egal woher er kommt. Der sich bemüht, hinter die Dinge zu schauen, nicht gleich urteilt, der freiheitsliebend ist, so wie ich auch. Diese Eigenschaften sind seinen Erfahrungen als Kameramann und den Begegnungen mit Menschen unterschiedlichster Herkunft in fast jedem Winkel der Welt geschuldet. Uns verbindet seit mehr als fünfunddreißig Jahren eine innige, zärtliche Liebe. Bei Radio Bremen hatten wir uns kennengelernt.

    Im Flieger nach Athen saß eine sportlich gekleidete Mittdreißigerin neben mir. Sie lächelte mich freundlich an. Offenbar hatte sie Lust, sich zu unterhalten. Als Fernsehjournalistin und Diplompsychologin war ich viele Jahre mit Frauenschicksalen konfrontiert. Was sich wohl hinter ihr verbarg? Ob sie denn auch noch weiterreise, fragte ich. „Ja, entgegnete sie lebhaft. „Ich fahre nach Agistri, einer kleinen Insel unweit von Athen. Dort erwarte sie eine Gruppe, um mit ihr an Träumen zu arbeiten. Ich zuckte innerlich zusammen: Was für ein Zufall. Dass ich ebenfalls seit vielen Jahren als Traumtherapeutin arbeite, behielt ich erst einmal für mich. Ich forderte sie auf zu erzählen und sie plauderte munter darauf los: Sie sei Psychodramatherapeutin, die Szenen der Träume würden gespielt und was dabei an Gefühlen hochkomme, sei das Wichtigste dieser Arbeit. Manchmal schlüpften die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch in Figuren aus der griechischen Mythologie und je nachdem, welche Rolle sie sich ausgesucht hätten, könnten Schlussfolgerungen auf ihre innere Welt gezogen werden. „Ich kenne Traumarbeit sehr gut, hörte ich mich sagen, „wenn auch mit einem anderen Ansatz. Die junge Frau war verblüfft. Und dann erzählte ich ihr, dass meine Lehrmeisterin, die Traumforscherin Ortrud Grön und ich, viele Jahre lang Traumseminare auf Thassos, einer Insel im Norden Griechenlands, geleitet haben. Im Konzept von Ortrud Grön spielt die sogenannte „Gleichnissprache eine große Rolle und den Bildern der Natur wird eine wichtige Aussagekraft zugeschrieben. Ortrud Grön geht davon aus, dass „die Evolution der Natur, sich in der geistigen Evolution des Menschen wiederholt. Damit konnte meine Sitznachbarin nichts anfangen. Also erzählte ich von unserem Film über Ortrud Grön: „Dem Traum des Lebens auf der Spur - Träume als Gleichnis von Naturgesetzen verstehen" und bot an, ihn ihr zu schicken, sobald ich wieder zu Hause sei.

    Dann wechselten wir das Thema: Welche Europäischen Sehenswürdigkeiten sollte man unbedingt gesehen haben. Ich erwähnte eine einwöchige Reise mit meinem Mann nach Andalusien. Als Kameramann hatte er Mitte der sechziger Jahre unter anderem in der Mesquita in Cordoba und auf der Alhambra in Granada, diesen einmaligen maurischen Monumenten, eine Dokumentation gedreht. Für ihn war es ein Wiedersehen und für mich eine spannende Neuentdeckung. Bei dem Wort „Alhambra reagierte meine Sitznachbarin sichtlich erschrocken. Mit ihrem spanischen Mann und seinen Eltern hatte sie sieben Jahre lang ein kleines Lokal unterhalb der Alhambra betrieben. Leider war ihre Ehe auseinandergebrochen und sie ist mit ihrem Sohn nach Deutschland zurückgekehrt. „Ich war in jungen Jahren mit einem Griechen verheiratet, sagte ich. „Jetzt bin ich auf dem Weg nach Karpathos, um in der Einsamkeit dieser griechischen Insel über meine Erlebnisse vor fast sechzig Jahren zu schreiben. „Dass wir nebeneinander sitzen in einem Flieger mit mehr als dreihundert Personen an Bord, kann doch kein Zufall sein! Wir verabschiedeten uns herzlich. Ich wünschte ihr ein erfolgreiches Seminar. Noch im Aussteigen rief sie mir zu: „Lassen Sie sich von der Muse küssen!"

    Tagebuch Nr. 1 - Ankunft auf Karpathos.

    Am Flughafen erwartet mich Renos, der Taxifahrer. Die Fahrt über die Insel ist im ersten Moment eine Enttäuschung. Schroffe, steile Felsen, die nur von kleinen Büschen bedeckt sind. Von Thassos bin ich das üppige Grün der Pinien- und Olivenbäume gewöhnt. „Wie in den Schweizer Alpen, denke ich. Renos scheint meine Gedanken zu erfassen. „Ichame fotia etho … - Wir hat-ten hier mehrere Feuer, da ist viel Wald kaputtgegangen. Es dauert halt, bis das nachwächst.

    Die Fahrt ist kurvenreich, die Straße nicht besonders befes-tigt. Renos fährt sehr vorsichtig, obwohl uns nur wenige Autos entgegenkommen. Immer wieder macht er mich auf die herrli-chen Buchten aufmerksam, die versteckt am Meer liegen. Nach ca. 45 Minuten kommen wir in Lefkos an, der Mitte der Insel.

    Ich bin entzückt von meiner Unterkunft. Ein kleines, weißes Appartementhaus mit sechs Einheiten. Das Meer vor der Tür. Die Wirtsleute Maria und Nikos empfangen mich herzlich. Ich be-ziehe ein Zimmer im ersten Stock. Der Blick vom Balkon ist spek-takulär – türkis-blaues Meer, feinster Sandstrand, direkt vor dem Haus. Schräg gegenüber: Einstöckige, kleine, weiße, vier-eckige Häuschen mit blauen Fensterläden. Ein geschützter Ha-fen mit einigen kleinen Fischerbooten. Davor mehrere Tavernen mit blauen Holzgittern auf den Terrassen. Die Nachbarinsel Kasos taucht wie eine Fata Morgana aus dem Meer auf. Das Bild wird sich je nach Wind täglich verändern. Mein Zimmer – mit einem Doppel- und einem Einzelbett - ist sehr einfach. Zwei Kochplatten, das Nötigste an Geschirr für kleine Mahlzeiten.

    In der ersten Nacht schlafe ich schlecht. Die Matratze ist ge-wöhnungsbedürftig. Ich spüre jede Stepp-Naht. Darunter lose harte Bretter. Mitten in der Nacht kracht eins davon mit einem Höllenlärm herunter. Gott sei Dank ist bisher nur ein Apparte-ment belegt.

    Der nächste Morgen. Um sieben Uhr stehe ich auf. Die Sonne zeigt sich schon. Es ist mucksmäuschenstill. Noch scheint die kleine Ansammlung von Häusern mit ihren Bewohnern im Tief-schlaf. Ich schnappe meinen Rucksack, ziehe feste Schuhe an. Wo bin ich gelandet? Um die Ecke des kleinen Mini-Marktes zwei weitere herrliche Buchten mit feinstem Sandstrand. Ziegen knabbern an dem wenigen Grün. Der Wind streicht sanft über meine Haut. Weit und breit keine Menschenseele. Ich ziehe mei-ne Kleidung aus, tauche ein in das kristallklare Wasser. Ich bin angekommen.

    Hier werde ich sieben Wochen bleiben und schreiben.

    1953 - Der Schwur am Brunnen

    Aufbruchstimmung in Deutschland. Die ersten Motorroller und VW-Käfer eroberten die Straßen. Ich war dreizehn Jahre alt, Schülerin eines Real-Gymnasiums für Mädchen in Frankfurt am Main. Mein verehrter Lehrer Müller aus der Volksschule hatte mich ermutigt, die Aufnahmeprüfung für die „höhere Schule zu machen. „Ich weiß, dass du das schaffst! Und ich habe es geschafft.

    Von Anfang an fühlte ich mich in der neuen Schule unwohl. Die Mädchen kamen aus so genannten „besseren Kreisen. Ihre Väter waren Juristen, Journalisten oder Kaufleute. Manche Mütter hatten eine akademische Ausbildung. Meine Mutter war Hausfrau und mein Vater ein verheirateter Mann. Damals habe ich mich geschämt, wenn ich mich für die unterschiedlichen Namen rechtfertigen musste. „Wieso das denn?, fragten die Klassenkameradinnen. Ich war anders als sie, fühlte mich ausgegrenzt, argwöhnisch beäugt.

    Im Sommer 1953 wurde unsere Klasse für ein Radio-Hörspiel ausgewählt. Wir waren sofort elektrisiert: Man würde unsere Stimmen im Radio hören! Unsere Namen! Zuhause beschwor ich meine Mutter, bis zur Sendung ein modernes Radio zu besorgen. Wir hatten noch einen „Volksempfänger" aus der Nazi-Zeit.

    Wenige Tage nach der Ankündigung, ging eine Lehrerin durch die Reihen und verteilte Texte für die bevorstehenden Probeaufnahmen. Als ich nach einem Blatt greifen wollte, raunte sie: „Das kannst du nicht. Es war, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Dieser Satz brannte sich in mein Herz. Wie in Trance sah ich die Lehrerin an mir vorbeigehen. In diesem Moment war ich wie gelähmt, unfähig, mich zu wehren. Hinter meinem Rücken wurde getuschelt. „Die kann das nicht. In mir wuchs die Empörung. „Ihr werdet es schon sehen! Euch werde ich es zeigen! Ich bin besser als ihr alle zusammen!"

    Noch ein Mädchen aus meiner Klasse durfte nicht mitmachen. Waltraud, eine pummelige, schwarzhaarige Schülerin, mit der ich manchmal den Schulweg teilte. Als der Unterricht zu Ende war, nahm ich Waltraud zur Seite. Ich wollte mir ein Versprechen geben und dazu brauchte ich eine Zeugin. In der Nähe der Schule gab es einen Brunnen, an dem ich manchmal das Wasser beobachtete, das aus der oberen Etage heraussprudelte. Dort wollte ich einen Schwur ablegen. Ich war tief verletzt, aber auch voller Empörung. Ich vermutete, dass meine unklaren familiären Verhältnisse hinter der Ablehnung standen. Man wollte mich nicht. Ich passte nicht in dieses Elite-Gymnasium. Diese Diskriminierung forderte meinen Widerstand heraus. „Die werden schon sehen, sagte ich zu Waltraud. „Was meinst du denn? Ich zerrte Waltraud an der Jacke, damit sie mitkam.

    Am Brunnen angekommen, zog ich ein Zehn-Pfennig-Stück aus meinem kleinen Geldbeutel und warf es ins Wasser. Ich legte Mittel- und Zeigefinger meiner rechten Hand übereinander und sagte zornig und mit zitternder Stimme: „Hiermit schwöre ich: „Ich werde es allen zeigen und ich werde euch beweisen, dass ich eines Tages im Radio sprechen werde! Ich bekräftigte es noch einmal: „Ich schwöre es! Waltraud war fassungslos. „Wie willst du das denn machen?, fragte sie. „Warts ab, du wirst es sehen. Ich war überzeugt: „So wird es kommen."

    1969 – 16 Jahre später

    Ein Freitagnachmittag. Kurz vor Feierabend. Lutz Horstmann, ein junger Realisator des Regionalprogramms von Radio Bremen Fernsehen, kam aufgeregt in mein Büro. „Kennst du jemand, der mir morgen auf Französisch ein Interview machen kann? „Mit wem? „Mit Jean Claude Pascal, dem Sänger. Ich zögerte keinen Moment: „Ja, ich. Ich kann dir das machen.

    Da war sie, die Chance, meinen Schwur als Dreizehnjährige am Brunnen in Frankfurt zu verwirklichen. Wahrscheinlich hatte dieses Versprechen jahrelang in meinem Unterbewusstsein geschlummert, hatte meine Fantasie angeregt und mich Wege gehen lassen, die auf diesen Moment hingearbeitet haben. Angst kroch in mir hoch. Jetzt nicht kneifen, dachte ich. Vielleicht eine einmalige Gelegenheit. Ich war fest entschlossen, diesen Moment am „Schopfe zu packen".

    Dazwischen lagen sechzehn Jahre mit Enttäuschungen und geplatzten Träumen: Das Aus am Gymnasium, eine belastende Erfahrung mit fünfzehn, die ich lange tief in mir verborgen hielt, die spektakuläre Hochzeit mit einem Griechen in Athen, die Rückkehr nach Deutschland. Nach mehreren Umwegen landete ich bei Radio Bremen als Sekretärin in der Produktionsabteilung. Schon ein halbes Jahr später bewarb ich mich auf eine freigewordene Stelle als Assistentin in der Abteilung Kultur und Gesellschaft. Von Anfang an wurde ich in die Arbeitsabläufe einer Redaktion einbezogen. In dieser Zeit verantwortete unsere Abteilung zum Beispiel die Filme „Halbgötter in Weiß von Ramon Gill - „Warum ist Frau B. glücklich? von Erika Runge – „Rote Fahnen sieht man besser" von Theo Gallehr und Rolf Schübel. Sehr bald schon durfte ich auch selbstständig Aufgaben übernehmen.

    „Kannst du denn Französisch?", fragte der junge Mann. „Ja, kann ich, ich wollte ja mal Dolmetscherin werden und habe einige Monate in Neuchâtel an einer Sprachschule Französisch gebüffelt. „Ach ja? In Ordnung, wenn du dir das zutraust. „Würde ich das sonst sagen?, bemühte ich mich, unbefangen zu reagieren. Dann sagte er noch, dass die Dreharbeiten ins Wasser fielen, falls es regnen würde. Er habe keinen Beleuchter, deshalb käme nur ein Dreh im Freien infrage. Ich schluckte. „Ok, wann soll es denn losgehen? Meine Stimme klang normal. Aber unter meinen Achselhöhlen, brach mir der Schweiß aus. „Um neun im Foyer", verabschiedete er sich.

    Hatte ich mir zu viel vorgenommen? Würde ich diese Aufgabe meistern? Was sollte ich fragen? Ich wusste von Jean Claude Pascal nur, dass er Sänger war. Und wie er aussah. In einer Zeitung hatte ich ein Foto von ihm gesehen. Er lehnte lässig mit einer auffallend langen Zigarettenspitze in der Hand an einem Baum. Ich hatte noch nie ein Interview gemacht und schon gar nicht in einer mir nicht vertrauten Sprache. Mindestens zwei Jahre hatte ich kein Französisch mehr gesprochen. Ich rief im Archiv an. „Könnt ihr mir einige Unterlagen zu Jean Claude Pascal rüberschicken. Ich soll den morgen interviewen. Da es kurz vor Feierabend war, waren die Kollegen nicht begeistert. „Du hättest dich auch eher melden können! Die Unterlagen kamen mit dem letzten Bus, der mehrmals am Tag zwischen Hörfunk und Fernsehen hin und her pendelte. Die beiden Häuser lagen einige Kilometer voneinander entfernt. Mit einem Kloß im Hals fuhr ich mit den Informationen über den Sänger mit der Schmuse-Stimme nach Hause.

    Jean Claude Pascal war der Sohn eines erfolgreichen Textil-Industriellen in Paris. Mit siebzehn Jahren hatte er gegen die deutsche Besatzung in Frankreich gekämpft, was ihm einen Orden einbrachte. Er hatte Jura und Wirtschaftswissenschaft an der Sorbonne in Paris studiert und später als Designer und Model bei Dior und Hermès angeheuert. Seine Kostümentwürfe brachten ihn mit der Schauspielerei in Kontakt. Romy Schneider und Brigitte Bardot waren unter anderen seine Kinofilm-Partnerinnen. 1961 gewann er mit „Nous les amoureux („Wir, die Verliebten) den Eurovision Song Contest. Eine poetische Erzählung von zwei Menschen, deren Liebe die Gesellschaft nicht zulässt. Der Text war so geschickt formuliert, dass die meisten Menschen von einem heterosexuellen Paar ausgingen. Dass damit zwei Männer gemeint sein konnten, galt in den sechziger Jahren als Tabu.

    Nachdem ich alles gelesen hatte, fing ich an, Fragen zu formulieren. Bis nach Mitternacht grübelte ich daran. Dann besprach ich ein Tonband, hörte meine Fragen mehrmals ab und fiel um drei Uhr morgens todmüde ins Bett.

    Der nächste Morgen. Trüb, aber ohne Regen. Das Chanson mit Jean Claude Pascal wurde in der Nähe des Bremer Hauptbahnhofs Playback aufgenommen. Dem Sänger wurde von einem Tonträger ein bereits produziertes Musikstück vorgespielt, dazu bewegte er synchron seine Lippen. Diese Prozedur wurde aus verschiedenen Kameraperspektiven einige Male wiederholt. Währenddessen ging ich im Stillen meine Fragen durch.

    Jean Claude Pascal kam mir freundlich entgegen. Verlegen sagte ich, mein Französisch sei so lala, ich hätte aber Fragen vorbereitet. Er antwortete charmant, ich soll einfach loslegen. Die ersten Minuten liefen ohne Panne ab. Dann wagte ich es, ihn auf den Inhalt des Eurovisions-Songs anzusprechen und damit auch auf das Thema „Homosexualität. Er stutzte kurz und stellte dann eine Gegenfrage. Oh je, was jetzt? In Sekundenschnelle entschied ich mich, mein Konzept über den Haufen zu werfen und einfach mit ihm zu plaudern. Dadurch entwickelte sich ein lockerer Schlagabtausch zwischen uns. Heute weiß ich nicht mehr, wie das Interview überhaupt weiter ging. Jedenfalls überreichte er mir zum Abschied ein Porträtfoto mit einer Widmung: „Für Heide alles Gute. Für den Sänger war es ein gewohnt routinierter Auftritt. Für mich ein aufregendes Ereignis. Ich grübelte den Rest des Tages bis in die Nacht, was ich hätte besser machen können. Der junge Realisator versicherte mir, alles sei in Ordnung, doch es beruhigte mich nicht.

    Wenige Tage später wurde der Song mit Teilen meines Interviews gesendet. Ich fühlte mich nach der Sendung vor dem Fernseher wie ein Häufchen Elend. Warum hatte ich nicht diese Frage gestellt? Warum bin ich nicht ganz anders auf seine Antworten eingegangen? Zu spät. Ich hatte mein erstes Interview in den Sand gesetzt, davon war ich überzeugt.

    Am nächsten Tag schlich ich mich durch die Hintertür in den Sender. Ich hatte Angst, Kolleginnen oder Kollegen zu begegnen. Ich war absolut sicher, sie würden meine Unsicherheit kritisch hinterfragen. Niemand kam. Niemand rief an. Mein Unbehagen wuchs von Minute zu Minute.

    Am späten Vormittag betrat ein gutaussehender Mann, Mitte dreißig, mein Büro. „Das waren doch Sie gestern Abend, sagte er und zeigte mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand auf mich. Es war Robert Gerhard, der Assistent des damaligen Intendanten Hans Abich. Jetzt bin ich gefeuert, schoss es mir durch den Kopf. Ich sah mich schon im Geist meine Sachen packen. „Ich soll Ihnen Grüße von Herrn Abich bestellen. Ihre lebendige, unkonventionelle Art des Interviews hat ihm gut gefallen. Er ermuntert Sie, auf diesem Weg weiterzumachen.

    So begann mein Weg bei Radio Bremen. Er sollte fast vierzig Jahre dauern.

    Woher komme ich?

    Meine Mutter und ihre Familie

    Auf meinem Schreibtisch steht ein Foto von meiner Mutter und mir, aufgenommen Weihnachten 1940. Ich war sechs Monate alt. Sie hat mich auf dem Arm und strahlt glücklich in die Kamera. Ich sehe mich als interessiert schauendes Pummelchen mit abstehenden Ohren und dem Ansatz von Schlitzaugen. Und ich entdecke eine Ähnlichkeit mit meinem Vater.

    Meine Mutter war sechsunddreißig, als ich zur Welt kam. Sie hatte fünf Geschwister, von denen zwei in jungen Jahren gestorben sind. Lorchen mit vierzehn Jahren an Diphtherie. Fritz wurde von einem betrunkenen Lastkraftfahrer überfahren und starb noch am Unfallort. Er war neunzehn Jahre alt. In der Nacht, in der meine Großmutter von seinem Tod erfuhr, hatte sich eine ihrer Haarsträhnen weiß gefärbt, so hieß es in meiner Familie.

    Mein Großvater war Beamter bei der Deutschen Reichsbahn. Als ich geboren wurde, war er schon tot. Auf dem Foto ein schöner Mann mit einem Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart. Meine Mutter berichtete voller Stolz, dass sie als einzige seinen Bart kämmen durfte. Sie war seine Lieblingstochter. Die Ehe meiner Großeltern beschrieb meine Mutter als sehr glücklich. Über ihre eigene Kindheit war sie voll des Lobes: „Wir hatten zwar nicht viel, trotzdem wurde bei uns viel gelacht." Die Familie lebte in Oberrad, einem Vorort von Frankfurt. Das Klohäuschen war auf dem Hof, was vor allem im Winter eine Herausforderung darstellte. Meine Omi liebte es, ins Kino zu gehen. Das kostete damals 10 Pfennig. Sie sei so tief in das Geschehen auf der Leinwand eingetaucht, dass sie entweder tränenüberströmt nach Hause kam oder aber, je nach Thema, so herzhaft lachte, dass sie einfach jeden ansteckte. Sie war eine herzensgute Frau, die keinen Bettler abweisen konnte. Für mich war sie in meinen ersten fünf Lebensjahren eine sehr wichtige Bezugsperson.

    Es gab noch einen Onkel und zwei Tanten: Rika hatte zwei Kinder: Charlotte und Kurt. Ihr Mann fiel kurz vor Kriegsende in Russland. Elli, meine andere Tante, war unglücklich mit einem Antiquitätenhändler verheiratet. Als sie schwanger wurde und eine Tochter gebar, verlangte ihr Mann, sie wegzugeben. Meine Großeltern beschlossen, ihre Enkeltochter Eleonore bei sich aufzunehmen. Sie wurde meine Patin und Eleonore mein zweiter Vorname. Wenn Lorle, so wurde sie in der Familie genannt, ihre Mutter besuchte und ihr Vater ungeplant nach Hause kam, musste sie sich in einem Schrank verstecken, um nicht von ihm entdeckt zu werden.

    Ihre Lebensgeschichte berührt mich bis heute. Sie hatte eine unerfüllte, rein platonische Liebe. Man las sich gegenseitig Gedichte vor und teilte die Liebe zur Kunst und zur Musik. Als „Flecki", so hieß der Angeschwärmte, durch einen Badeunfall ums Leben kam, stürzte Lorle das in tiefe Schuldgefühle. Sie war bis zu ihrem Tod überzeugt, er habe sich ihretwegen umgebracht. Später lebte sie mit einer Frau zusammen, was allerlei Gerüchte in der Familie provozierte. Irgendwann brach sie aus und heiratete einen älteren Mann mit drei pubertierenden Töchtern. Sie wollte Gutes tun und den Mädchen die verstorbene Mutter ersetzen, was gründlich schief ging. Nach drei Jahren ließ sie sich scheiden und zog wieder zu ihrer Freundin. In späteren Jahren war meine Mutter für Lorle eine wichtige Kameradin. Als sie nach deren Tod immer öfter krank wurde und unter Depressionen litt, kümmerte ich mich viele Jahre um sie. Sie starb hoch betagt in einem Seniorenheim in Frankfurt.

    Mein Onkel Ludwig war Versicherungsvertreter. Seine Frau hätte seine Mutter sein können. Sie war wesentlich älter als er. Kinder hatten die beiden nicht. Nach Feierabend und an den Wochenenden malte er. Vorwiegend blühende Landschaften.

    Meine Mutter arbeitete nach Abschluss der Volksschule als Maniküre in einem bekannten Frankfurter Friseursalon. Als junge Frau, zwischen fünfundzwanzig und dreißig, wurde sie von ihrer Firma in eine Dependance nach Oberbayern geschickt. Es muss eine sehr schöne Zeit für sie gewesen sein. Wenn sie davon erzählte, glänzten ihre Augen. „Fensterln" sei an der Tagesordnung gewesen. Das hieß, dass die Burschen mithilfe einer Leiter in das geöffnete Fenster ihrer Angebeteten einstiegen, um dort mit ihr ein Schäferstündchen zu halten. Offiziell galt das damals als Tabu. Im Nachlass meiner Mutter fand ich Briefe und auch Fotos aus dieser Zeit. Sie zeigen große, gutaussehende, stattliche Männer.

    Nach ihrer Rückkehr nach Frankfurt verliebte sie sich in den Abteilungsleiter eines Frankfurter

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