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Verloren in der Zwischenwelt: Zwillinge
Verloren in der Zwischenwelt: Zwillinge
Verloren in der Zwischenwelt: Zwillinge
eBook493 Seiten7 Stunden

Verloren in der Zwischenwelt: Zwillinge

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Über dieses E-Book

Das Schicksal kann als unausweichlich betrachtet werden oder als das, was man draus macht. Wie sehr die Schicksale Einzelner miteinander verknüpft sein können und welche Auswirkungen die Handlungen der Beteiligten auf das eigene, aber auch auf andere Leben haben, wird deutlich, wenn man sich jedes einzelne Leben in seinen verschiedenen Möglichkeiten ansieht.

David Mayerhofer wurde in eine schwierige Familie hineingeboren, der er entflieht. Er und einer seiner Brüder verlieben sich nacheinander wechselseitig in mindestens ebenso komplizierte Frauen. Als David versucht, heimlich auf seinen Bruder Einfluss zu nehmen, setzt er etwas in Gang, das alle Beteiligten nach und nach immer tiefer in wechselseitige Abhängigkeiten verstrickt: Er schickt seinem Bruder die eigene Geschichte unter falschen Namen, damit dieser daraus lernt. Dieser erkennt sich darin, zieht jedoch nicht die gewünschten Schlüsse, sondern ergänzt das Werk um seine eigenen Gedanken. Die heimlichen Mittler dieses Manuskriptes - die beiden Frauen - nehmen ebenfalls Einfluss, jedoch ohne sich zu offenbaren.
Schließlich wird aus einem einfachen Manuskript, das das Leben beeinflussen sollte, eine Geschichte, die das Leben schrieb, obwohl die Beteiligten jeweils daran mitgeschrieben haben. Ein Polizeiinspektor fügt schließlich die verstreuten Teile des Manusrkiptes zu einem Ganzen zusammen, bei dem Versuch, die sich häufenden Leichen im Umfeld David Mayerhofers zu erklären.

Eine Geschichte um das Sein, das Ich, das Schicksal und die Macht des Einzelnen, seine Rolle im Kontext der Gesellschaft und vor den eigenen Wünschen. Eine Geschichte die das, was wir für wahr und real halten, infrage stellt, denn zu jeder Wahrheit gibt es eine Alternative und jede Realität ist letztlich nur eine Frage der Perspektive.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum2. Jan. 2018
ISBN9783746901565
Verloren in der Zwischenwelt: Zwillinge

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    Buchvorschau

    Verloren in der Zwischenwelt - David Rebekka Hertzeg

    Die Einleitung

    Es war gegen Ende März 1994, in der Nähe von Kreuzlingen am Bodensee: Nach einigen Tagen Nebel tat sich ein wolkenloser Himmel auf. Eine leichte Briese zerstreute den Dunst des Wassers, bereinigte die Luft und blies die spärliche Wärme der schnell herabsinkenden Sonne fort. Das Festland der anderen Seite war gestochen scharf zu sehen. Es war gegen 14 Uhr.

    David Mayerhofers hundertneunzig Zentimeter große, schlanke, schwarz bekleidete Silhouette lief energischen Schrittes am Seeufer entlang. Die breite Stirn, das schmale angespannte Gesicht mit den leicht zugekniffenen braunen Augen unter mächtigen Augenbrauen, die athletische Statur und der flinke Lauf bewirkten den Eindruck von Standhaftigkeit und Entschlossenheit. Langer und schneller Tritt brachte ihn zum Schwitzen, sein Körper war trotzdem nicht erwärmt.

    Jedes Mal nach den erschöpfenden Spannungen der letzten Wochen verließ er das Haus. An jenem Tag setzte er sich ins Auto und fuhr von Kilchberg bei Zürich nach Kreuzlingen. Einige Kilometer davon, unweit einer kleinen Ortschaft am Bodenseeufer, lag das großzügige Familien-Wochenendhaus. Das einsame Anwesen konnte jetzt über eine neue Autobahn innerhalb von zwei Stunden erreicht werden. Er parkte auf dem Dorfplatz und ging los. So leerte er den Kopf und bändigte seine Verzweiflung. Das lernte er beim Pilgern auf dem Jacobsweg, zwei Jahre zuvor.

    Der schmale Kiespfad schlängelte sich durch teilweise mächtige Vegetation, dann weiter an den leeren See-Picknickplätzen und ein paar im Wald versteckten Ferienhäusern vorbei. Die Fensterläden waren geschlossen, selten stand ein Auto vor dem Tor. Eines wurde gerade ausgeladen. Der Mann und die zwei Kinder begrüßten David freundlich. Die Osterferien haben angefangen, dachte er.

    Einige Hunderte Meter weiter hielt er am Eingang des hohen, mit goldenen Spitzen geschmückten schwarzen Eisenzauns der See-Villa seiner Kindheit. Die hohen Rhododendren versteckten das Parterre, die sichtbaren Fenster des ersten Stocks waren mit brauen Rollladen bedeckt. Die Wiese des Gartens erstreckte sich etwa dreißig Meter bis zum See. Sie war mit den Resten der braunrötlichen Blätter der umliegenden alten Platanen und Ahorne aus dem letzten Herbst überzogen. Das große Boot, noch winterlich zugedeckt auf seinem Gestell, wartete auf den ersten Einsatz dieses Jahres.

    In seiner Kindheit stand das Haus abseits am Ufer zwischen den schon damals großen Bäumen. Man erreichte es über einen nicht asphaltierten Feldweg. Die ersten, etwa fünfzig Meter entfernten Nachbarn sah man selten, auch dann nur aus der Weite. Man traf sich nie miteinander. Ein Mädchen, wie er zehn oder elf Jahre alt, stand oft still vor dem kleinen Holzhaus und blickte unbeweglich zu ihm rüber. Er wagte es nie zu ihr zu gehen, stand auch so unbeweglich und schaute zurück. Damals gab es noch keine Zäune und Büsche zwischen ihren Blicken. Häufig wartete er vergeblich. Dort befand sich jetzt ein modernes Zweifamilienhaus.

    Wie ein lebendiger kalter Schatten sprang sein Vater aus den Erinnerungen heraus: »Meine liebste Beschäftigung, der See und das Boot, nicht war David …«, und drückte dabei Davids beide Schultern. »Wir müssen unsere Barke putzen, das nächste Wochenende fahren wir hin …«, sagte er. Am Donnerstag mussten sie dann früh aufstehen. Als der Älteste saß David vorne. Der Vater rauchte seine Pfeife während der manchmal vierstündigen Fahrt zum Haus am See. Im Auto stank es fürchterlich. Die drei Geschwister auf dem hinteren Sitz – Alex, Oskar und Bernadette – mussten in die vorbereiteten Tüten kotzen. Nur selten ließ der Vater sie dank Bernadettes »Muss Pipi machen« – sie war die Jüngste, damals etwa fünf Jahre alt – eine kurze Pause machen. Bei der Rückfahrt am Sonntag lobte er das Verhalten der Kinder, kaufte ihnen Eis, Bonbons und Kekse. »Nur nichts der Mami sagen, nicht wahr? Das ist unser Geheimnis«, wiederholte er mehrmals, zum letzten Mal vor der Haustüre. Die Mutter blieb fast immer zu Hause: »Es gibt doch keinen Platz für mich im Auto«, sagte sie.

    Im Alter von vierzehn Jahren fing David endlich an zu wachsen, wurde groß, stark und begann sich zu wehren. Er entschied sich, das Elternhaus möglichst schnell zu verlassen. Zwei Jahre lang hatte er seine Flucht im Geheimen ausführlich vorbereitet. Vor seinem Verschwinden unterzog er sich sogar der mühsamen mehrmonatigen Namensänderung, die nur dank dem großen Verständnis eines dafür eingeschalteten Psychologen – auch heimlich – durchgeführt werden konnte. Als es dann so weit war, verließ er, kaum achtzehn Jahre alt, nicht nur sein Daheim, sondern auch das Heimatland. Er verschwand ohne irgendjemanden eine Nachricht zu hinterlassen. Er reiste dorthin, wo er wusste, dass niemand ihn dort suchen würde. Mehr als zehn Jahre später, als sein Peiniger gestorben war, kam er heimlich zurück in die Schweiz. Er mied jeglichen Kontakt zu den noch lebenden Familienmitgliedern. An diesem Märznachmittag, da alle jetzt tot waren, musste er sich nicht mehr vor ihnen verstecken.

    Das Krähen der Krähen, die Schreie der Möwen und das eisige Schaudern in den nicht verstummenden Rückblicken …Das rhythmische Knarren des Kieses verklang in erneuter Starre des Weges. Nur ab und zu das Rauschen des Windes in großen Tannen, Birken, Ahornen, Platanen und seltenen Eichen.

    Vor etwa zwei Jahren, also im Mai 1992, hatte er gemeint, nun wäre die letzte Chance, sich den langersehnten Wunsch zu erfüllen, den Jacobsweg zu durchlaufen und lebendig zurückzukommen. Die Mutter hatte ihm bis etwa zu seinem sechsten Lebensjahr vor dem Einschlafen Pilgergeschichten erzählt. »Der Zauberweg reinigt alle Sünden und schlechten Gedanken«, sagte sie. Die Gereinigten würden weiter von Gottes sechsunddreißig Gerechten, den Tzaddicks, geschützt. Diese waren die Einzigen, von denen sich die Kinder verschlingenden Molochs fürchteten. Ihre letzten achtzehn Jahre hatte sie als Witwe im Altersheim für Wohlbetuchte am Zürichsee verbracht, zuletzt schwer erkrankt an Alzheimer. Als David etwa 1991 von Rebekka, die zu der Zeit bei seinem Bruder Oskar war, von der Erkrankung seiner Mutter erfuhr, besuchte er sie regelmäßig, mindestens einmal im Monat. Er blieb immer zehn, fünfzehn Minuten lang und saß neben ihr im Zimmer, im Garten oder beim Abendessen. Meistens sagte sie kein Wort und schaute durch ihn durch, mit jenem entfernten Blick, als ob er gar nicht anwesend wäre. Sehr selten fixierte sie ihn plötzlich und fragte nach Alex und Bernadette. Nur nach den beiden. Gelegentlich fragte sie wer er sei. Bei seinem letzten Besuch im Januar 1993 hatte sie eine weiße Rose in den auf der Brust gekreuzten Händen. Die Augen waren verschlossen, das Gesicht entspannt, die Hände eiskalt. Er zündete eine Kerze an und setzte sich auf den Stuhl neben ihrem Bett. Ihr Antlitz war unbeteiligt, wie sonst eigentlich auch. Er kämmte ihre silbrigen Haare, streichelte kurz ein letztes Mal ihre entseelte Stirn und weinte, ohne zu wissen warum, wenig.

    Die Autobahnfahrt zurück vom Seehaus am Bodensee nach Zürich war entspannend gewesen. Später, auf der Veranda der großen Villa, die er gänzlich selbst entworfen hatte – einer der wenigen Kindheitsträume, der voll in Erfüllung ging –, ermüdet und durchkühlt, tauchte er gedankenlos in die restliche Violettröte des Abends ein. Vielleicht um mich verstecken zu können und allein zu sein, blitzte plötzlich der Gedanke in seinem Kopf auf. Hatte er deshalb schon als Kind vom großen Haus fantasiert?

    Im Anstarren der Weite nach seinen Spaziergängen, so wie jetzt, auf der Terrasse des Hauses sitzend, dort in der Weite und noch weiter, am Ende des Blicks, wo die Glarner Alpen und das Wasser des Zürichsees schon fast so grau wie der sterbende Tag im Osten waren, erschienen häufig vor seinem geistigen Auge die unzähligen Berge und Täler Galiziens, überflutet mit gelben Ginsterteppichen, oder die unendlichen Felder der ordentlich angereihten Tempranillo-Rebstöcke auf der heißen, roten Rioja-Erde. Die Stöcke hatten ihn an die unzähligen Kreuze des Arlington-Friedhofes in Washington erinnert. Dann, an Cruz de Ferro angekommen, auf dem höchsten Punkt des Jacobsweges, schien es ihm eine neue Hoffnung zu verspüren die beim nächsten Telefonanruf entschwand.

    Der Jakobsweg und seine Kreuze… Die Großen im Feld oder auf den Anhöhen, und die Kleinen aus Holz, Stein oder Metall, mit einfachen Drähten an den Zäunen und Baumstämmen befestigt, zum Gebet oder zur Erinnerung an alle auf dem Weg Gebliebenen. Die erstarrten Fragmente einzelner Geschichten die ihre Fortsetzung suchten. Die mehrfach nicht zustande kam… Hitze und Durst des nie endenden Tages auf dem endlosen Weg, die Schmerzen im für solche Strapazen ungeübten, nicht mehr jungen Körper, waren besonders nachts peinigend gewesen. Ein paarmal, im Nebel und eisigen Regen der Pyrenäen verloren oder durstig und übermüdet auf dem endlosen, ausgestorbenen und unter erbarmungsloser Sonne verbrannten Acker, hatte sich der Arzt gefragt, ob jemand für ihn ein Kreuz aufstellen würde. Er kam zurück in Juni jenes 1992. Und ins Jetzt jenes Märzabends 1994 und ins Sich-in-sein-Zimmerverschließen.

    Nachts, häufig ab vier Uhr, manchmal früher, wartete er mit geschlossenen Augen auf erneutes Einschlafen. Um sieben stand er auf, wusch sich das Gesicht kalt, schluckte einen Espresso, rasierte sich, zog fast immer die gleichen Kleider an und ging zur Arbeit – auch wenn so früh keine Patienten auf ihn warteten. Am liebsten saß

    er dann in seiner Praxis am Bürotisch, starrte durchs Fenster und trank eine große Tasse Kaffee. Wenn dann endlich etwas wirklich erledigt werden musste, kein Verschieben oder Delegieren mehr möglich war, kämpfte er gegen die aufkommende Übelkeit.

    So vergingen die Tage und Monate der letzten Jahre. Dazwischen, gezwungenermaßen, unternahm er die Erledigungsversuche des Alltäglichen. Und weiter: Frustration, Spazieren, Fitness, Ermüden, im Bett ohne Schlaf – Aufstehen, für was?

    Am nächsten Morgen, bevor er zur Arbeit ging, es war Dienstag 29. März, ließ er die Zwischenwelt auf dem Nachttisch der noch schlafenden Rebekka. Sie hatte ihn Ende 1990 verlassen und ging zu Oskar. Ihre Entscheidung akzeptierte er damals ohne Widerspruch, wie immer. Beide wussten, dass sie trotzdem jederzeit zurückkommen konnte. Anfang 1991 meldete sie sich telefonisch ein paarmal, kam aber nie. Dann, im Februar 1992, tauchte sie das erste Mal wieder auf und später wiederholt, zum kurzen und schweigsamen Besuch, jedes Mal nach Krisen mit Oskar, mit geschwollenem Gesicht und roten Augen vom Weinen, immer unangemeldet. Sie hatte eigene Schlüssel und blieb ein bis zwei Nächte, um dann kommentarlos wieder zu verschwinden. David fragte nie, wann sie wiederkäme oder warum sie ging. Zunehmend wurden ihre Anwesenheiten länger. Schrittweise schien es, als ob ihr gemeinsames Leben nie aufgehört hätte. Intim wurden sie dabei aber nicht. Einzig und für ihn völlig unerwartet in einer wunderbaren Nacht, im Januar dieses ereignisreichen 1994, während Oskar nach seiner Operation unter Narkose lag, kam sie plötzlich zu ihm und ließ ihre alte Liebe wieder aufflammen. Als Oskar dann auf tragische Weise einige Wochen darauf starb, das war vor einem Monat, zog sie wieder zu David zurück, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.

    Er hatte an jenem Dienstag nicht so viele Patienten und kam schon gegen siebzehn Uhr nach Hause zurück. Rebekka lag seitlich auf dem Sofa im Wohnzimmer, stützte ihren Kopf mit der einen und hielt die Zwischenwelt mit der anderen Hand. Die angegossene blaue Jeans und die halb zugeknöpfte hellblaue Bluse betonten den ewigen Eros ihrer Figur. Sie hob ihren nachdenklichen Blick zum gegenüber sitzenden David. Die langen schwarzen Haare betonten ihr helles, rundes, trotz ihrer vierundvierzig Jahre kindlich wirkendes Gesicht. Die Brille mit dem roten Rahmen vergrößerte die mandelförmigen grünblauen Augen. Sie wirkte abwesend.

    Jäh stieß sie das Buch auf den Boden. Sie wirkte irritiert, wütend. Die innige Weiblichkeit ihres Leibes verwandelte sich in eine aggressive Starre. »Das ist alles reporterhaft, trocken! Hast du wirklich genau das schreiben wollen? Bist du damit zufrieden? Deine Wut und dein Spazieren – nichts als Selbstmitleid. Ewig der Vater. Die Mutter schon wieder. Auf der ersten Seite. Noch immer bist du mit denen belastet. Sie ist schon mehr als ein und er fast zwanzig Jahre tot! Wie war es wirklich mit seinem und ihrem Tod? Warum schon auf der ersten Seite? Warum sollte ich so etwas lesen? Die gelben Felder Galiziens, rote Rioja-Erde, Tempranillo-Rebstöcke, du dort und dein Schweiß. Die Kreuze. Du hast gesagt, du willst alles auf Papier bringen: Dann mach es, mein Gott! Es riecht nach Schrecken, Betrug und Horror in allen Ecken deiner und meiner Kindheit und unseres späteren Lebens! Öffne deine Augen, bist du denn blind? Gib bekannt, wie es wirklich war! Zum Schreien ist das. Nicht zu beschreiben!«

    »Irgendwo muss ich anfangen …Ich weiß nicht, was du mit öffne deine Augen meinst. Ich habe genug von diesem Buch. Ich will es wegschicken. So wie Oskar und Glass und die anderen.«

    »Du willst es wegschicken! Zu wem? Wer soll so was lesen? Du weißt nicht, was ich meine? Verstehst du nicht? Ich will vom ersten Wort gefesselt sein. Vom ersten Satz. Ich will angezogen, nein, eingesaugt werden. Entführt. Ich will drinnen meine Verbitterung, Entsetzen und Verlorenheit finden und mein jetziges Kriechen zum erlösenden Tod. Deshalb: Zum Teufel mit deinem Jacobsweg. Mit Galizien und Rioja. Dein stinkender Schweiß und dein Philosophieren interessieren mich nicht!«

    David bemerkte sprunghafte Veränderungen in Rebekkas Verhalten der letzten Monate, insbesondere seit Oskars Tod. Mit Ausnahme jener wunderbaren Januarnacht voller Liebe und Zärtlichkeit, als sie völlig unerwartet auftauchte, war sie meistens reizbar, angespannt und mied alle seine behutsamen physischen Annäherungen oder Versuche, darüber zu reden. Ein paarmal kam sie eine halbe oder ganze Stunde zu ihm, schaute ihn fragend und liebevoll an – und schwieg. Er hatte Angst, dass sie, erschüttert von Ereignissen der letzten Zeit, erneut krank werden könnte, wie 1981. Er wusste nicht, wie er ihr helfen sollte, fühlte sich müde und alt. Vor vierzehn Jahren war es anders, da war er jünger, energiegeladen und ihre Liebe war ungetrübt …

    Sein jetziges Hilflosigkeitsgefühl zog ihn zurück ins einsame Schweigen irgendwo im Haus, in der Praxis, im Auto auf irgendeiner Straße irgendwohin. Das Einzige, was er immer hatte, war einfach das Abwarten, dabei leise hoffend, die Fesseln mögen sich von selbst lösen. Die Spannung im Hause war damit jedoch nicht geschwunden.

    Schon als Kind hat er gelernt im Verborgenen still und versteckt allein zu sein. Das war seine kleine Welt, die niemand und nichts ihm wegreißen konnte. Später wusste er, sich in dieses Alleinsein sogar in der Gesellschaft mehrerer Leuten, zu zweit oder mit seinen Patienten zurückzuziehen – auch dann, wenn er in ihre Geschichten versunken war, als ob er nur ein sehr interessierter Beobachter und Zuhörer von sich selbst und seiner Umgebung wäre.

    Manchmal aber blieb er in jener Welt gefangen. Er wusste nicht, wie er zurückkehren konnte, ähnlich einem fraglichen Wachsein: Gerade vom namenlosen Ort angekommen, die Tür der Wohnung oder seiner Klinik öffnend, oder wie jetzt gegen sieben Uhr im Sessel im Wohnzimmer Rebekka gegenüber sitzend. Wo war ich, was mache ich, was sind das für Leute?, fragte er sich, im ihm unbekannten dauerlosen Traum. In jener und dieser Zwischenwelt, nur zwei von Millionen von Welten: Wer oder was bin ich überhaupt?, sickerte es dann aus seiner zugeschnürten Kehle.

    Nach einigen langen Minuten des beiderseitigen Schweigens schlug David zögernd und wie gerade geweckt vor, gemeinsam am nächsten Freitag zum Seehaus zu reisen und dort Ostern zu verbringen. Daran anschließend könnte er den Praxis-Urlaub ankündigen. Rebekka blickte lange nachdenklich vor sich hin. Plötzlich sagte sie: »Das ist eine gute Idee, in letzter Zeit waren wir wenig zusammen. Du warst ständig mit deinen Patienten beschäftigt.«

    Die zwei Wochen am Bodensee waren erholsam. David befreite das Boot vom Wintergestell. Rebekka liebte es, den Garten für die kommende Saison vorzubereiten. Sie engagierte Philippe und seine Frau Maria, um ihr beim Frühjahrsputz im Seehaus zu helfen.

    Die zwei waren zuverlässige portugiesische Angestellte, die sie nach Oskars Tod gebeten hatte bei ihr zu bleiben: »Das ist kein Problem, Frau Mayerhofer, wir nehmen unseren Urlaub erst eine Woche nach dem Auferstehungsfest.«

    Am ersten Dienstag nach Ostern, es war der fünfte April, fünf Uhr morgens, fuhr Rebekka mit Philippe nach Zürich, um die neuen Pflanzen für den Garten zu holen. »Schau, was ich brachte …!«, sagte sie bei ihrer Rückkehr, stolz einen großen Rhododendronbusch zeigend, »solche gibt es nur in Zürich …«

    Häufig unternahmen sie ihre Bootsausflüge. Das Pedrazzini-Motorboot, der ehemalige Stolz seines Vaters, brachte sie mit seinen starken Motoren nach Wunsch und Bedarf schnell irgendwohin. Sie beide bevorzugten langsame und möglichst leise Fahrten zu vielen pittoresken Winzer-Ortschaften an beiden Seiten des großen Sees. Sie aßen dort zum Mittag, kosteten einen lokalen Wein, spazierten durch die engen alten Gassen, jetzt reichlich geschmückt mit Frühlingsblumen, Osterhasen und bemalten Eiern.

    Abends, beim Cheminée und einem Glas Wein, lesend oder der Musik zuhörend, verspürte David die alte Wärme ihrer Liebesbeziehung. In so einem Moment flüsterte Rebekka unvermittelt, ihn umarmend, ob er etwas gegen die Adoption eines Kindes hätte.

    »Selbstverständlich nicht, das wäre eine super Sache«, sagte er prompt.

    Sie schmiegte sich noch enger an ihm und wisperte, »Ich liebe dich.«

    Gegen Ende der zweiten Woche, am Donnerstag des vierzehnten Aprils, fragte David Rebekka unentschlossen, ob sie etwas dagegen hätte, wenn er das Wochenende in Zürich verbrächte, um das Buch zu beenden und die Praxis für die Aufnahme des üblichen Betriebs vorbereiten.

    »Gar nicht, mein Liebster, geh nur, ich bleibe hier und genieße und du hast deine Ruhe. Wir könnten uns dann beim Sechseläuten-Umzug am Montag, am achtzehnten treffen.«

    »Sehr gut, du kannst mir anrufen, wenn du in Zürich bist.«

    David reiste am Freitag, den fünfzehnten April ab. Er war glücklich, ihre frühere Nähe nochmals gespürt zu haben. Die Adoption eines Kindes würde ihren langersehnten Traum verwirklichen. Die letzten Jahre der Ungewissheit und Verzweiflung ohne Rebekka schienen ihm beendet zu sein.

    Dann kam es zur Katastrophe mit Anna.

    Rund zwei Wochen darauf, morgens früh am Donnerstag, den fünften Mai, die unentbehrliche erste Tasse Kaffee in der Praxis trinkend, saß David Mayerhofer nachdenklich am Schreibtisch seines Büros. Die eingeleiteten Polizeiuntersuchungen der letzten Tage und die wiederholten Befragungen hatten keine belastenden Beweise für seine oder Rebekkas Beteiligung an den tragischen Ereignissen am Bodensee erbracht. Das stimmte ihn vorsichtig optimistisch. Er ahnte nicht, dass an jenem Tag seine kleine und stille Welt, die er erneut aufzubauen wagte, unwiderruflich wie ein Kartenhaus einzustürzen begann.

    An der Glastür des vierstöckigen Hauses stand:

    Herr Dr. med. David Mayerhofer

    Anästhesiologie, Interventionelle Schmerztherapie

    Rendezvous nur nach Vereinbarung

    Bitte läuten und eintreten.

    Das Klingeln an der Praxistür schon um acht Uhr morgens zerbrach die taube Stille, wie unerwartet fallende Glassplitter. An dem Tag waren keine Patienten eingeschrieben. David hatte gehofft, die Zeit nutzen zu können, endlich seinen Beitrag in der Zwischenwelt fertigzustellen. Wieder ein Unangemeldeter, dachte er entnervt.

    Polizeiinspektor Müller im beigen Regenmantel war von kleiner Statur, vielleicht sechszig Jahre alt. Sein runder ziemlich großer Kopf trug dichte graue, früher schwarze Haare. Er grüßte kurz mit ernster Miene und trat ein, ohne auf die Einladung zu warten.

    »Sie haben noch keine Patienten, nicht wahr?«

    Er ging weiter ins ihm seit seinem ersten Besuch in der Praxis vor drei Tagen bekannte Ärztezimmer und setzte sich auf den Patientenstuhl vor dem Schreibtisch. Unvermittelt und zur Einstimmung, wie schon bei jeder vorherigen ihrer Begegnungen in den letzten zwei Wochen, fragte er, was wahr sei.

    »Möchten Sie einen Kaffee?«

    »Nein, danke, nicht nötig.«

    »Was meinen Sie, was wahr ist? Woher soll ich wissen, was wahr sei! Alles ist möglich. Was von dem, was heute oder gestern oder irgendwann stattfindet passiert wirklich? Was davon erzählt, vertont, aufgeschrieben wird ist wahrscheinlich nie das Wahre. Gibt es überhaupt dieses Wahre

    »Doch, das gibt es. Sie haben es in ihrem Buch beschrieben, Herr Mayerhofer!«

    »Ja und? In welchem Buch überhaupt? Ich habe es vielleicht geschrieben, möglicherweise, wie Sie behaupten. Aber ob das nun wahr ist? Mein Ich von heute und gestern … das braucht nichts miteinander zu tun zu haben. Das Wahre und das von mir Aufgeschriebene; das was ich höre, sehe oder glaube gehört oder gesehen zu haben und dann noch notiere, ist und war das Resultat von Tausenden anderer Ereignisse, anderer Zeiten und anderer Räume, die mit meinerseits Protokolliertem vielleicht nichts zu tun hat. Niemand kann behaupten, die ganze Wahrheit zu kennen, nicht mal wenn direkt oder indirekt am Geschehen beteiligt.«

    »Sie haben aber über Ihre Erlebnisse geschrieben. Ihr Leben. Ihr Buch, Herr Mayerhofer. Die Leser und besonders ich, als Inspektor, haben ein Anrecht an das Wahre. Ich bin zur Wahrheit und zur Gewissheit verpflichtet, verstehen Sie? Mich interessieren die Leichen, die sind so eine Gewissheit. Ihre Zwischenwelten und Ihr Philosophieren interessieren mich nicht. Wenn Sie jetzt nicht wissen, ob es wahrhaftig ist, was Sie als Ihre tatsächlichen Erlebnisse beschreiben, wie Sie sagen, dann, dann … Dann ist alles nur ein leeres Geschwätz! Da jedoch dieses Geschwätz mit stattgefunden Toden oder mit gefundenen Toten verdammt übereinstimmt, Herr Mayerhofer, kann es doch kein Geschwätz sein, oder? Schließlich war es, ist es Ihr Leben! Das ist schließlich nachprüfbar. Und es wurde nachgeprüft! Zum Beispiel damals, als im April, ganz genau am dreiundzwanzigsten April, die mit einem Reinigungsmittel durchträngten Fasern von Putzlumpen am Bug des Motorbootes, ja, überall auf dem Boot gefunden wurden. Am Boot Ihres Vaters, jetzt Ihrem Boot! Wer hat das Boot und die Schraube so eifrig geputzt? Normalerweise machte das Ihr Gärtner. Er war aber im Urlaub. Schon eine Woche. Währenddessen, am zweiundzwanzigsten April, wie Sie schon wissen, wurde die von der Schiffsschraube zerfetzte weibliche Leiche am Seeufer gefunden, etwa fünfhundert Meter von Ihrem Wochenendhaus entfernt. Unweit davon entdeckten wir an der Küste eine Frauentasche mit noch gut lesbaren Dokumenten, die auf Anna Mayerhofer, geborene Berkovic, Ihre frühere Lebenspartnerin und spätere Schwägerin, wie sich herausstellte, lauteten. Ihre Frau und Sie verbrachten Ostern Urlaub in Ihrem Seehaus. Wo waren Sie und was machten Sie zwischen dem siebzehnten und einundzwanzigsten April, Herr Mayerhofer? Wo? Was?«

    »In sagte Ihnen das schon: In Zürich. In der Praxis.«

    »Mit wem? Mit wem, Herr Mayerhofer, fragte ich Sie wiederholt. Das ist kein Alibi, wenn niemand es bestätigen kann.«

    »Ich war die ganze Zeit allein in der Praxis und konnte deshalb in Ruhe schreiben. Erst am zwanzigsten April hat meine Praxis den Betrieb wieder aufgenommen. Ich musste auch das vorbereiten. Das haben sie sicherlich schon geprüft, oder?«

    »Eben, Herr Mayerhofer, eben. Sie schrieben Ihr Buch, sagen Sie. Wir reden gerade davon. Ja, wir haben inzwischen nachgeprüft. Vor dem zwanzigsten April hat Sie niemand von Ihren Kollegen, Spitalangestellten oder Patienten in Ihrer Praxis oder auf dem Weg zu oder von Ihrer Praxis gesehen. Die ganze Zeit nicht, die Sie angeblich dort verbracht haben. Das ist einfach unmöglich, Herr Mayerhofer, meinen Sie nicht?«

    »Ich kann nur wiederholen, was ich schon sagte: Meine Praxis ist mein zweites Zuhause. Ich habe alles hier, was ich brauche. Nur abends ging ich im nahen Wald spazieren. Es war Wochenende und Feiertag im Kanton Zürich. Fünfundneunzig Prozent der Angestellten hatten frei.«

    »Und Ihre Frau? Wo war sie? Wo?«

    »Es war Sechseläuten, das sagte ich Ihnen schon hundertmal. Ein Feiertag in Zürich. Meine Frau war beim Umzug und an der Böögg-Verbrennung.«

    »Auch allein? Auch von niemandem gesehen? Schon komisch, finden Sie nicht?! Wenn die restlichen Mayerhofers tot oder umgebracht werden, in diesen entscheidenden Momenten eben, sind die lebenden Mayerhofers immer allein! Sogar wenn die Toten vor ihrem Haus gefunden werden!«

    Er sagte das definitiv zu laut, ja, er schrie fast, meinte David. Der Blick des Polizeiinspektors wurde sichtlich unruhig, als ob er einen festen, zuverlässigen Anker suchte. Er schwankte zwischen seinen Notizen, Davids Praxis-Tennisschuhen und der grellgelben Krawatte, die ihm, so schien es, seine Konzentration raubten. Seine schwarz glänzenden Schuhe tanzten, zupften, flogen abwechslungsweise übers eine oder andere Knie. Woher hat er überhaupt das Buch?, fragte sich David. Vielleicht bei der ersten Durchsuchung des Hauses am vierundzwanzigsten April gefunden und kopiert?

    Der Arzt fühlte sich entnervt. Das zu zeigen, war ihm allerdings peinlich, wie manchmal bei seinen Patienten. Er bemühte sich seine Abneigung zu verstecken. Wie konnte er einem Rollstuhlfahrer gegenüber zum Beispiel seine Ungeduld zeigen, weil er nicht an ihm vorbeikam? Das ging nicht, das war heikel, das war peinlich und ein Unding. Stattdessen verspürte er den Wunsch, Müllers verschwitzte Stirn abzutrocknen.

    »Es ist gar nicht sicher, dass es sich um Anna Mayerhofer gehandelt hat …«

    »Ihre Frau hat bestätigt, dass die Tote ihre Schwester war.«

    »Sie sagte: möglicherweise. Sie war nicht sicher. Die Leiche war schon verwest. Ich konnte auch keine eindeutige Ähnlichkeit mit meiner Lebenspartnerin aus Studententagen feststellen! Lebenspartnerin! Nur für eine kurze Zeit. Vor zwanzig Jahren geschieden! Die Beziehung war ein unüberlegtes und unglückliches Ereignis der damaligen Umstände. Meine deplatzierten Erbarmungsgefühle, die Solidarität mit Auch-Opfern! Es ist altes und verjährtes Zeug, alles nur zufällige Koinzidenzen! Ich war allein in meiner Praxis zwischen dem fünfzehnten und neunzehnten April, schrieb den ganzen Tag und bereitete die Praxis für neue Patienten vor. Ab dem zwanzigsten April war meine Praxis voll im Betrieb. Das ist die Wahrheit die Sie suchen, nicht Ihre nebulösen Indizien.«

    »Warum waren Sie nicht beim Sechseläuten-Umzug, wie mit Ihrer Frau nota bene abgemacht?

    »Ich ging auf den Umzug, wir haben uns aber nicht gefunden unter den vielen Leuten. Nachher ging ich zurück in die Praxis. Hören Sie endlich auf mich zu plagen! Zuerst haben Sie mit Ihren grundlosen Anschuldigungen meinen Bruder ins Grab gebracht und jetzt wollen Sie mich an den Prangern stellen. Sie haben es offenbar auf die Mayerhofers abgesehen. Hören Sie doch auf!"

    »Ich soll aufhören? Sie sollten aufhören, Herr Mayerhofer, Sie! Zuerst verschwinden Sie von der Bühne, zehn Jahre lang, dann leben Sie inkognito vor Ihrer Familie in der Schweiz, fast zwanzig Jahre lang, und erst als alle restlichen Familienmitglieder tot sind erscheinen Sie auf der Bildfläche! Der letzte Mayerhofer-Erbe! Und alle sollten schweigen!«

    »Sie waren es, der meinen Bruder im Gefängnis sterben ließ – und das wollen Sie jetzt mir anlasten? Und überhaupt hat das alles nichts mit dem Tod von Anna Mayerhofer zu tun.«

    Nach kurzem Schweigen trocknete Herr Müller seine Stirn ein letztes Mal ab, stand mit einem Seufzer unvermittelt auf, schaute den Arzt nicht mehr an, steckte gemächlich das Notizbüchlein in die innere Tasche des nicht ausgezogenen beigen Mantels und ging mit auf dem Rücken gekreuzten Händen langsam zum Fenster. Der kleine rundlich beleibte Polizist, eine Art Columbo … Sein Rücken, seine zu breite Schultern, seine Schuhen standen vor dem Fenster bewegungslos da, er schien ganz entspannt.

    Nach einigen langen Minuten meldete er sich mit ruhiger Stimme: »Mein Problem, Herr Mayerhofer, bleibt die besagte Leiche der Anna Mayerhofer, geborene Berkovic. Was machte sie dort, Ihre frühere Lebenspartnerin und – wie sich herausgestellt hat – Ihre Schwägerin …Was machte sie so nah an Ihrer See-Hüte? Das konnten Sie mir noch nicht erklären. Last but not least, Herr Mayerhofer: Eine ganz neue Laboruntersuchung, ein Vergleich verschiedener Blutfaktoren bestätigte, dass die Blutspuren von zwei verschiedenen Orten vom gleichen Blut stammten. Das waren die Blutspuren auf Ihren alten Tennis-Schuhsohlen, die man bei der letzten Durchsuchung Ihres Hauses in einem Kellerschrank unter der alten Wäsche gefunden hatte. Und die Blutspuren auf dem Gartenweg unterhalb des Büros Ihres Vaters im Mayerhofer-Familienhaus in Zollikerberg. Das identische Blut, Herr Doktor Mayerhofer. Das Blut Ihres Bruders, Alex Mayerhofer, das wir nach seinem Tod dort abgesammelt hatten. Das sind die Tatsachen, die mich interessieren. Keine nebulösen Indizien. Ihr Philosophieren über Wahrheit ist allerdings nebulös, Herr Mayerhofer. Meine Suche nach der Wahrheit ist die Suche nach den verstreuten und verdeckten Puzzleteilen der Tatsachen, die Sie Indizien nennen. Mit denen baue ich das einzig mögliche Wahrheitsbild. Eben so, wie es aus verstreuten Puzzlestücken nur ein einziges richtiges Lösungsbild ergibt. Ihre blutigen Tennisschuhe, die gefundenen Toten, das eifrig geputzte Motorboot und unklare Alibis sind alle solche Puzzleteile, deren Wahrheitsstelle im Bild ich suche. Es ist auch ein Puzzlestück, dass Sie einmal sagten, die Praxis nie verlassen zu haben, außer abends, und dann, dass Sie doch zum Umzug nach Zürich gingen … Inzwischen bleiben Sie und Ihre Frau bitte in der Stadt. Auf Wiedersehen.« Er verließ das Büro entschlossenen Schrittes ohne auf den sitzend gebliebener Arzt zu warten.

    Mayerhofer starrte vor sich hin, erleichtert, endlich allein zu sein. Vor etwa zwanzig Jahren hatte er diese Praxis übernommen. Wie damals, waren heute die Räume mit dem Licht des sonnigen Tages überflutet. Ins Schweigen der verkehrsleeren Strasse drängte sich der gedämpfte Lärm der Pausengespräche der Angestellten auf der Außenterrasse des nahen Spitalrestaurants hinein.

    »Nicht die Stadt verlassen«, murmelte der Arzt verdrossen. Er nahm das Telefon, um Rebekka zu benachrichtigen, starrte die Zahlen an und hängte schließlich auf. Verfluchtes Buch, dachte er sich. Es sollte eigentlich gar keines werden. Sondern … er selbst, aus den Augenblicken bestehend, aus seinen laufenden und unterbrochenen Bewusstseins. Seine Erinnerungen an die Zusammentreffen, Abschiede, das Wiederfinden, die Liebe – vor allem an die Liebe. Diese Liebe wollte er weiter schicken, als Warnung und Ermutigung für alle Verlorenen, als Wegweiser für sie und alle Pilger auf ihren Lebenswegen.

    Sein Wissen wurde aber erschüttert. Der Erinnerungspfad verlor sich im Nebelschleier, im Dazwischen. Wie auf dem Jacobsweg in den Pyrenäen. Plötzlich sah er nirgendwo die Schilder mit Jakobsmuscheln, sie waren verschwunden in Nebel und Dämmerungen; nur noch Kälte, Regen, Nacht, Angst oder Hitze, Durst, Wirrwarr, Augenflimmern waren geblieben. Die galoppierende Panik hatte ihn getrieben aufzustehen und weiterzusuchen. Die verändernden Landschaften, die verschwindenden Gesichter und die verstummenden Städte bestätigten seine Durchgänge. Dann, endlich, einen Monat später, siebenhundert Kilometer lagen hinter ihm, saß er und weinte vor dem Zauberbau. Sein unkontrollierbares Weinen vermischt mit glücklich lachendem Antlitz, wahrscheinlich die grenzenlose Erleichterung, dass der Weg doch zum häufig nicht geglaubten Ende kam, schien Niemanden im Strom der Pilger um ihn herum zu überraschen. Er versteckte es auch nicht.

    Auf einmal, dort, mitte Juni 1992, auf der Piazza rund um die Kathedrale in Santiago de Compostela, in der letzten Dämmerung vor der Rückreise am nächsten Tag, zogen sich in seinem Kopf alle Fäden zusammen. Wie durch einen Zauber marschierten vor seinen Augen alle im Leben angetroffenen Gesichter, jedes mit seiner Geschichte, und knüpften seine weitere Erzählung in einen gemeinsamen Verbund hinein: Sein Augenblick mit David Mayer, mit Anna und Rebekka Berkovic, seine Familiensaga mit den Eltern, Oskar, Alex und Bernadette, seine vielen Patienten und jetzt noch Albert Glass … Er begriff, dass er nicht der Beobachter, sondern direkt Betroffener war, nur wusste er nicht wie. Verwirrt hatte er seitdem in folgenden zwei Jahren krampfart versucht, insbesondere in jenen Anfangsmonaten des Jahres 1994, alles zu entwirren und in Zwischenwelt zu notieren.

    Schon am ersten Tag des erneuten Praxisbetriebes nach dem Osterurlaub 1994 hatte es an der Praxistür geklingelt. Das eingeschriebene Paket beinhaltete ein dickes Manuskript, ähnlich gebunden wie dasjenige aus dem Gefängnis, das ihm Rebekka etwa eine Woche nach Oskars Tod im Februar brachte. Der Absender, ein Albert Glass, schien David Mayerhofer vorerst unbekannt. Der Poststempel stammte aus Davos. Zuerst hatte er gedacht, das wäre nur ein Irrtum gewesen. Er konnte sich an keinen Albert Glass erinnern.

    Nach einigen Seiten realisierte er dann, dass der Absender einer seiner Patienten war. Je mehr er von dessen Schrift las, desto unheimlicher wurde das Geblätterte. Insbesondere deshalb, weil er gerade Tage zuvor, während einer telefonischen Konsultation mit einem Kollegen, erfuhr, dass der Absender tot war. Der siebzigjährige Patient hatte ihn im August 1993 wegen seiner Rückenschmerzen aufgesucht. Er war kleinwüchsig, machte geschmeidige Bewegungen, wirkte robust und rüstig, sein sonnengebranntes und markantes Antlitz verstärkte den gesunden Eindruck, den er auf den Arzt machte. Nur das reichgefaltete Gesicht und die ganz silbrigen Haaren deuteten auf ein höheres Alter hin. Seine Sprache war klar, die Wortwahl und der Tonfall sehr zutreffend. Vom Beruf war er Buchverleger. »Albert Glass Verlag«, sagte er stolz, er veröffentliche jedoch nichts mehr. Er komme, weil er sich seiner alten Passion, dem Bergsteigen, wegen immer stärkerer Kreuz- und Beinschmerzen nicht mehr widmen könne. Als ein ehemaliger halbprofessioneller Bergführer verstehe er, dass er die Berge nicht mehr so besteigen könne wie früher. Noch vor zehn Jahren hätte er die ausgewählten Seilschaften auf die Jungfrau-Wintertouren geführt! Wegen der Beschwerden könne er jetzt leider nur etwa zwei Stunden in den Bergen wandern, worauf er gezwungen sei, mindestens eine zwanzigminütige Pause einzulegen. Dies schränke seine Lebensqualität dramatisch ein. Der Herr Doktor müsse ihn verstehen: »Die Berggipfel, die weite Sicht, die frische Luft – das ist die Essenz meines Lebens. Nur dort fühle ich mich frei. Ich bin sehr unglücklich, Herr Doktor. Ich bitte Sie insbrünstig mir zu helfen.«

    Während klinischer Untersuchung konnte Herr Mayerhofer, wie erwartet, keine Anzeichen für irgendwelche ernsthafteren Gesundheitsprobleme feststellen. Herr Glass war von den Erklärungen des Arztes extrem enttäuscht. Die Beschwerden müssten einen Grund haben, sagte er. Er insistiere auf einer detaillierten apparativen Untersuchung. Der Arzt verordnete die Magnetresonanzuntersuchung der unteren Wirbelsäule, wo man alles sehen könne, wie er dem Patienten versicherte.

    Zu seinem größten Schreck kamen dabei schwerste Veränderungen der Lendenwirbelsäule zum Vorschein, mit möglicherweise sehr ernsthaften Folgen für die betroffenen Nerven. Es war ihm ein Rätsel, dass der Patient die erwähnten zweistündigen Bergwanderungen schaffte, was auch so schon eine großartige Leistung für sein Alter sei, wie er ihm sagte. Herr Glass war eher stolz auf die Überraschung des Arztes als besorgt.

    Unter diesen Umständen wurde eine Behandlung vorgeschlagen, die einen zweiwöchigen Spitalaufenthalt erforderte. Der Patient wirkte erleichtert. Der Arzt betonte, dass er sich nicht viel davon verspreche, höchstens eine leichte Steigerung seiner sonstigen Leistung und vor allem die Verschiebung einer eventuellen zukünftiger Verschlechterung.

    »Jaja, Herr Doktor, Sie werden das schon gut machen, ich erwarte keine Wunder. Wichtig ist, dass ich zu Ihnen kommen darf …«

    Der Eingriff verlief problemlos. Während des Spitalaufenthaltes fing der Patient unvermittelt schon am ersten Tag an, Mayerhofer seine Lebensgeschichte anzuvertrauen. Bei jeder Visite wartete eine neue und erschütternde Episode aus der Kindheit und dem späteren Lebens des Patienten auf den Arzt. Er war geschockt. Was für ein Grauen wütet hinter dieser angenehmen und gepflegten Erscheinung, hallte es auch außerhalb der Visiten in seinem Kopf.

    So wie viele Geschichten seiner Patienten nisteten sich skrupellos in seinen Gedanken ein, versteckten sich in dunklen Winkeln seines Bewusstseins, um plötzlich, in spontanen Rückblicken oder geisterhaften Träumen, mühelos aufzutauchen. Sie kannten keine Grenzen zwischen wachem Tag und träumender Nacht. Sogar das Vergessen war für sie kein Problem. Sie stiegen aus dem Verwehten jäh empor, klar und blutig, als ob sie gerade gestern ein Teil seines Lebens gewesen wären.

    Der Arzt sagte dem Patienten, er solle ein Buch über sein Leben schreiben. Dieser antwortete: »Vielleicht.« Er hätte aber durch ständiges Lesen der Bücher der anderen die Lust am Selberschreiben verloren. Allerdings kenne der Arzt jetzt seine Geschichte und daher könne ja er sie jetzt schreiben, meinte er am letzten Tag im Spital.

    Ende Oktober 1993 bekam David Mayerhofer eine Postkarte aus dem Engadin: Lieber Herr Doktor, ich möchte Ihnen für Ihren Erfolg herzlich gratulieren. Ich bin beschwerdefrei und marschiere täglich meine alten Touren. Ihr dankbarer Patient.

    Das freudige Erstaunen des Arztes wurde dann Anfang April jenes schicksalhaften 1994 schmerzhaft getrübt. Er erfuhr, dass sein Patient von einer seiner Wanderungen oberhalb von Davos nicht zurückkehrte. Man fand ihn tot und verunstaltet unterhalb einer etwa dreihundert Meter hohen Felsenwand. Es blieb ein Geheimnis, ob es ein Unfall oder Suizid war. Der Ort oberhalb der Fallstelle befand sich jedenfalls außerhalb des markierten Wanderweges und war nicht gesichert.

    Und dann, vor zwei Wochen also, gerade bei Wiederaufnahme des Praxisbetriebes nach Osternurlaub, kam noch jenes Paket von ihm. Er hatte also doch seine Lebensgeschichte geschrieben. Das war der letzte Anstoß für den Arzt gewesen, die Zwischenwelt trotz all seiner Unsicherheiten und der Unklarheiten der Ereignisse in den letzten Monaten, ebenfalls zu beenden. Wenn etwas ihm unklar blieb, dachte sich Herr Mayerhofer, hieß das nicht, dass es nichts bedeutete; die Unbestimmtheiten bewegten manchmal mehr als jede Klarheit. Zeitweilig las er zum Beispiel etwas, was angeblich von ihm geschrieben (wer oder was soll es sonst sein?), und verstand nichts. Er wunderte sich nur. Irgendeine Erinnerung an das Gelesene oder Verknüpfungen mit dem Geschriebenen gab es nicht.

    So geschieht es mit jedem der erlebten Ereignisse, mit vergessenen sowie memorierten; sie schreiten fort mit allen anderen, uns unbekannten, laufend etwas Neues bewirkend, uns fremd und doch von uns selbst erzeugt. Unseres und der anderen Ich sind alle Opfer ihrer Eltern, sich selbst und im Leben Angetroffener: David und Rebekka Mayer aus der Zwischenwelt, die Geschwister Bernadette, Alex, Oskar und ihre Eltern, Anna und ihre Eltern, der Verleger und Patient Albert Glass …

    Natürlich liebte David Mayerhofer immer nur Rebekka. Sie war die Frau seines Lebens. Die Erste und die Einzige, die er unter vielen wirklich liebte. Sein Schicksal! Wie ein unsichtbarer Regisseur zieht dieses die Fäden, im Voraus wissend, wo wir alle uns treffen und wo wir wieder auseinandergehen. So bewegen wir uns zu einem unserer Enden, nichts wissend, nichts ahnend, vermeintlich ein Ziel verfolgend, tägliche Arbeit erledigend, zu einem Treffen eilend, einkaufend, pilgernd oder spazierend. Unser Myokardinfarkt in der nächster halben Stunde oder ein Auto in der Nachbarstraße, das geplatzte Aneurysma oder ein unentdeckter Krebs, unser Sturz auf dem Eis oder eine Komplikation während der Operation sind schon alle vorprogrammiert. Alle Lebensräder der großen Schicksalsmaschinerie drehen sich seit Ewigkeit in die Ewigkeit, manche schneller, manche langsamer, doch immer weiter. Das Leben geht immer weiter. Ohne und mit uns. Manchmal bleiben wir plötzlich hängen – im

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