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Gnadenwolf: Erfüllung einer Blutschuld
Gnadenwolf: Erfüllung einer Blutschuld
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eBook268 Seiten3 Stunden

Gnadenwolf: Erfüllung einer Blutschuld

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Über dieses E-Book

"Der Tag ist wieder einmal der Nacht gewichen. Sie ist mein Verbündeter, umschlingt mich, nimmt mich in sich auf, bis ich mit ihr konturenlos verschmelze. Ich steige über den kleinen Jägerzaun hinüber in den Garten und wate durch den tiefen Schnee. Im Haus sind alle Zimmer hell erleuchtet."

Im tiefsten Winter, Eiseskälte, der Schnee türmt sich auf den Straßen, entzündet ein gnadenloser Mann im Namen einer perversen Moral eine bluttriefende Mordserie. Seltsame Blutbotschaften schrecken die Stadt auf. Auch ein beurlaubter Polizist gerät in die Fänge des Rabenmannes, der eine alte Schuld begleichen will. Er ahnt nicht, was sich vor seinen Augen abspielst, schon gar nicht, wer die Fäden zieht.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum25. Okt. 2016
ISBN9783738089226
Gnadenwolf: Erfüllung einer Blutschuld

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    Buchvorschau

    Gnadenwolf - Alan Lee Hemmswood

    Prolog

    Vor vielen Jahren …

    Die Abendsonne strich das im Wald versteckte Anwesen kupferrot, eine Brise wehte sanft durch die fein gestutzten Grashalme über den weitläufigen Rasen. Vogelgezwitscher drang aus den umliegenden Wäldern hin zu dem kleinen Eiland inmitten der Bäume … die Gartenanlage des Anwesens umschloss die Villa aus der späten Gründerzeit in einem nahezu idealen Kreislauf. Parallel zu der rückwärtigen Fassade erstreckte sich über die gesamte Länge der Villa ein Schwimmteich, der von schwarzem Marmor umgeben wurde. Vereinzelt zogen Blütenkelche ihre unsymmetrischen Bahnen, von Windeshand getrieben, durch das ruhige Wasser. Die farbenfrohen Schiffchen durchbrachen die Wasseroberflächenspannung ganz zart, lediglich ein vernachlässigbarer Teil ihres Bestandes verbarg sich dem Augenschein des Jungen unter der wässrigen Grenze.

    Die meisten Menschen sind Kelchblüten, Kelchblüten auf einem weiten Meer. Die Allermeisten. Sie offenbaren sich den menschlichen Sinnen und verbergen lediglich einen verschwindend geringen Teil ihres Selbst. Äußerst wenige Menschen jedoch sind anders. Sie sind Eisberge. Sie geben nur einen minderen Teil ihres Ausmaßes preis und hüllen ihr wahres Wesen in die lebensfeindliche Schwärze des eisigen Meeres, wo es dem menschlichen Auge verborgen bleibt. Eisberge sind gefährlich. Sie täuschen über das, was sie sind. Der Eisberg treibt im Wasser und nur ein kleiner Teil durchsticht die Wasseroberfläche. Das bedingt die Dichteanomalie. Anomalien gibt es nicht nur bei Eisbergen. Doch anders als beim Wasser der Eisberge ist es hier keine naturgemäße Eigenschaft, sondern ein formreicher Prozess …

    Der kleine Junge saß unter einem Sonnenschirm, ein Glas Limonade in der Hand und beobachtete den Gärtner beim Schneiden des Rhododendrons, der sich filigran um die gesamte Rasenfläche legte. Der emsige Mann war in der Entfernung für den Jungen nur noch als Miniaturausgabe zu erkennen. Als der Junge gerade nach dem Buch, „Mobby Dick", auf dem Abstelltisch griff, läutete im Inneren des Hauses unmelodisch das Telefon. Sofort sprang er auf und lief über die Terrasse durch die Türöffnung hinein ins Haus. Er stellte sich dabei immer vor, ein Junge aus einem ferne Zeiten zurückliegenden Mär zu sein, der über die terrakottafarbene Zunge eines Riesen in dessen fauligen Schlund dringt.

    Die abstrakten Figuren auf den abstrakten Bildern an den weißen Wänden starrten mit ihren angsteinflößenden Fratzen auf den durch den schmalen Gang eilenden Jungen hinab und streckten ihre widerwärtigen Glieder nach ihm. Doch sie würden ihn nicht packen, er war immer schneller als sie. Er lief vorbei an der schwarzglänzenden Skulptur, die ihn mit ihren vielen Fängen zu haschen schien.

    Der Junge von zartem Alter nahm freudig erregt den Telefonhörer ab und drückte ihn gegen sein Ohr. 

    „Hallo?", japste er von seiner Verfolgungsjagd noch außer Atem in den Hörer.

    „Hallo Schätzchen, wie geht es dir?".

    „Mama, Mama. Pause. „Du fehlst mir so! Wann kommt ihr zurück?

    „Das wird noch was dauern, Schätzchen. Du weißt doch, dass dein Vater und ich grade erst aufgebrochen sind. Kümmert sich denn das Hausmädchen nicht gut um dich?", gab die kühle Stimme zurück.

    „Doch, doch, aber …"

    „Na siehst du, dann ist doch alles halb so schlimm. Außerdem kann ein Junge, der sich anschickt ein großer Mann zu werden, nicht früh genug selbstständig werden. Ich soll dich von deinem Vater schön grüßen. Ach ja, du weißt ja welcher Tag in drei Wochen ist. Wir werden dem Hausmädchen Bescheid geben, dass sie mit dir in die Stadt fahren soll und du dir alles aussuchen darfst, was dein kleines Herz begehrt. Alles".

    „Werdet ihr da sein?"

    „Schätzchen, unsere Reise hat grad erst angefangen. Wir werden noch mindestens einen Monat unterwegs sein, das weißt du doch".

    „Ihr fehlt mir"

    „Du uns auch Schätzchen, hab einen schönen Tag".

    Bevor der kleine Junge antworten konnte, dröhnte der enervierende Besetztton aus der Hörmuschel. Das Glitzern in den Augen war erloschen. Enttäuscht trottete er zurück nach draußen und nahm sein Buch wieder in die Hand. Es war sein Trost. Flucht und Heimat zugleich.

    Am Geburtstagsmorgen thronte ein Berg Geschenke im Wohnzimmer, der beinahe bis auf die Höhe der Galerie ragte. Die einfallenden Sonnenstrahlen wurden von den glitzernden Geschenkepapieren reflektiert und erweckten den Eindruck eines Christbaums. Der Junge lief die gewundene Treppe hinunter ins Wohnzimmer, stoppte vor dem Geschenkeberg auf dem kalten Marmor und umrundete die strahlende Anhäufung im Laufschritt. Mit jedem Schritt, der ihm dem dreihundertsechszigsten Grad näher brachte, wich seine Hoffnung. Als er die Runde beendet hatte, stieg die ernüchternde Gewissheit in ihm auf und schlug eine tiefe Kerbe. Seine Eltern waren tatsächlich nicht gekommen.

    Es kam die Zeit, da offenbarte sich dem Jungen der Decodierungsschlüssel für die vielen Schätzchen. Und entgegen des sehnlichsten Wunsches des Jungen, dass sich ihre Lebenswege vereinen, sahen seine Eltern einen anderen Kurs vor: Zwei parallele Wege, die sich niemals treffen würden. Jahr um Jahr verstrich, Schlag um Schlag traf in die Kerbe. Mit jedem vergangenen Geburtstag sah der Heranwachsende seine Eltern weniger.

    Dann eines Morgens, der Junge war mittlerweile vierzehn Jahre alt, lag auf dem langgezogenen Esstisch, der einer Tafel glich, ein unscheinbarer Briefumschlag auf seinem Platz. Der Knabe ergriff eilig das Kuvert und las den Absender. Er war von seiner Mutter, gesandt vom anderen Ende der Welt. Wieder funkelten seine Augen. Er riss den Umschlag an der Querseite auf, entnahm das Schreiben und faltete es ungeduldig auf. Zart erhoben sich die dünnen Härchen auf seinen Armen, als er die ersten Zeilen las. Er konnte es nicht fassen: Seine Eltern schickten ihn weg … nach England auf ein Internat. Dort solle er eine hervorragende Ausbildung genießen und die Umgangsformen lernen, die „es sich ziemt" an den Tag zu legen. Feine Perlen glitten von der Wange des Jungen auf das Papier in seiner Hand, tauchten es beim Auftreffen in konzentrischer Entfaltung in dunkle, feuchte Flecken.

    Und wieder verstrichen die Jahre. Ein Telefonat am Geburtstag, ein Telefonat an Weihnachten. Während die anderen Internatsschüler mindestens zweimal im Jahr ihre Familien besuchten, verbrachte er das ganze Jahr im Internat, einer altwürdigen Burg an der Nordwestküste Englands. Oft streifte er durch die einsamen Weiten des Landes, vorbei an der Küste oder über weite Felder, unter wolkenverhangenem Himmel, den die Sonnenstrahlen nur selten zu durchbrechen vermochten. Er liebte den Kontrast des satten Grüns der Wiesen und der Schwärze des dunklen, tobenden Meeres unterhalb der Küsten.

    Es war wieder ein verregneter Nachmittag, da kam der Anruf. Es war weder sein Geburtstag noch war es Weihnachten … Er stand damals an der windigen Steilküste und beobachtete mit feinen Augen das Spiel der Seemöwen. Der Wind zerzauste sein Haar. Er hatte das Gefühl die Gischt des eisigen Meeres, das mit urgewaltiger Kraft gegen die Küste ankämpfte, in seinem Gesicht zu spüren. Die zerklüftete Felsenformation zu seinen Füßen zeigte ihre spitzen Zähne. Sie wollte ihn verschlingen. Und er wollte es auch. Der mittlerweile junge Mann schritt so weit an den Abgrund heran, dass seine Schuhspitzen den sicheren Untergrund verließen. Er schloss die Augen und lehnte sich nach vorne … ein schriller Schrei übertönte den Sturm. Der hochfrequente Ton schoss durch die Winde und bohrte sich tief in den Gehörgang des jungen Mannes, der sich erschrocken aus seiner Trance riss und rückwärts taumelte, auf den sicheren Boden. Seine Lehrerin für Etikette rannte auf ihn zu und schlug ihm mit der flachen Hand hart ins Gesicht.

    Als sie wieder im Internatsgebäude angekommen waren, führte die Lehrerin ihn zu einem Telefon, mittels dessen die ganze Zeitlang eine Verbindung aufrechterhalten worden war. Er führte den Hörer zum Ohr.

    „Ja?", sprach er schüchtern.

    „Hallo, Junge! Hier ist dein Vater. Wenn der junge Mann sich auch nur noch schemenhaft an dessen Aussehen erinnern konnte, so war die tiefe Reibeisenstimme doch sehr vertraut. „Junge, deine Mutter ist gestern gestorben, sie hatte einen Autounfall. Kurz, prägnant, emotionslos.

    Danach: Rauschen. Der junge Mann konnte sich an nicht mehr erinnern. Simultan in dem Moment des zuletzt ausgesprochenen Wortes rissen Seele und Herz einfach so auseinander. Es gab keinen Knall und auch keine Explosion. Es war vielmehr ein leises Reißen, nicht lauter als der Flügelschlag eines Schmetterlings. Die Liebe zu seiner Mutter war zwar eine des Hasses, aber eben auch eine die ein Sohn für seine Mutter empfand gewesen.

    Er weinte keine einzige Träne. Er wollte weinen, doch er konnte nicht. Die schwärzesten Tage seines Lebens folgten. Doch als er das kurze Trauertal durchschritten hatte, fühlte er etwas in sich, was ihm bisher unvertraut war. Eine Kraft, die seine Selbstzweifel und innere Zerrissenheit auf eine merkwürdige Weise zu bekämpfen schien. Er spürte, wie Stück für Stück der Last abfiel, die jeden einzelnen seiner Knochen beugen konnte. Sein Weltbild begann sich in Zähfluss zu entzerren. Es brauchte nicht lange für seine Entscheidung. Der Prozess, der in ihm eingesetzt hatte, war ohnehin nicht mehr aufzuhalten. Er würde nach Deutschland zurückkehren. Aber nicht als derjenige, als der er seine Heimat verlassen hatte. Das schwor er sich …

    Kapitel 1

    Des Nachts vollziehe ich es am liebsten. Umhüllt von der Schwärze der Nacht, geleitet vom Schein der Sterne begebe ich mich auf die Jagd. Die Kälte der sternenklaren Nacht brennt auf meiner Haut, in meinem Gesicht, doch dies verstärkt nur meine Erregung. Mein Atemdunst tanzt wabernd vor mir in der Luft. Gleich einem Raubtier verharre ich regungslos knöcheltief im Schnee stehend hinter einer alten Esche. Sie ist mein Gehilfe. Der Schatten ihrer kahlen Zweige erstreckt sich im Mondschein unheilvoll gen meines –nun, ich nenne ihn- Vertragspartners, wenn auch unsere Leistungen nicht unterschiedlicher sein könnten. Im Wiegen des leichten Windes scheint es, als ob der Schatten der Zweige mir die Richtung zu zeigen vermag. Mit routinierter Gelassenheit beobachte ich sie. Obwohl sie wissen müsste, dass der Zeitpunkt gekommen ist, hat sie nicht die leiseste Ahnung. Ihr unsägliches Leben wird an diesem kalten Wintertag ein befreiendes Ende nehmen. Darauf habe ich sehnsüchtig gewartet: Die Kirchglocken erklingen unheilverkündend und leiten die Geisterstunde ein. Der Moment, auf den ich gewartet habe …

    Lediglich ein einsamer Jogger, der seine letzte Runde durch den Park dreht, steht ihrer Erlösung noch entgegen. Ich blicke dem Läufer hinterher, wie er leichten Schrittes das Sichtfeld verlässt. Nun denn, der Zeitpunkt ist gekommen.

    Ich schreite aus dem Sichtschutz des Baumes heraus und stapfe durch den tiefen Schnee über die Wiese in Richtung meines Ziels. Sie kauert, mir abgewandt, auf einer Parkbank. Selbst das Knarzen des komprimierten, von einer ächzenden Eisdecke überzogenen Schnees lässt sie nicht aufschrecken. Langsamen Schrittes, die Hände tief in meine Manteltaschen vergraben, gehe ich um die Bank herum und sehe ihr erstmals nach einem zäh dahinfließenden Jahr unmittelbar in die Augen. Für gewöhnlich sehe ich in diesem Moment eine dem Tod ins Gesicht starrende Angst, jedoch nicht so in diesem Fall. Man sagt, die Augen seien der Spiegel der Seele. Wenn dies der Wahrheit entspricht, so kann ich in ihren trüben Augen erblicken, dass ihre Seele vor langer Zeit zerborsten ist. Die Chemikalien, die in ihrem Körper wüten, haben die vernunftbegabte Persönlichkeit in ihr schon vor langer Zeit besiegt und in den Abgrund gerissen. Ihr Gesicht ist eingefallen und von der über sie erhabenen Droge zerfressen. Nun ja, ich muss gestehen, dass ihr Anblick meinem Verlangen die Energie entzieht. Ich bin es, der sein Gegenüber in seinem letzten Moment beherrschen will, wenn er ihm den Tod einhaucht. Und dann dieser armselige Anblick: Ein Junkie, Gefangene ihrer selbst und im festen Würgegriff der Droge. Sie ist ihr Herrscher, nicht ich. Sie hat mich immer noch nicht erkannt. Die Nadel steckt noch in ihrem narbenübersäten Arm. Ich bezweifele, dass sie überhaupt noch mehr von dieser Welt wahrnimmt als das, was das Zeug ihrem Geiste vorgaukelt.

    Sei es wie es mag, aber ich bin ein ehrenwerter Mann. Mir ist bewusst, dass der Vertrag nicht gebrochen werden darf. Ich erfülle pflichtbewusst meinen Dienst an der Gesellschaft. Behutsam führe ich die ummantelte Klinge aus der Tasche, befreie sie vom Leder und spüre die fesselnde Kälte und schneidende Schärfe in meinen Handflächen. Die Klinge schimmert im Mondschein. Das Schimmern fährt herab …

    Ich fordere stets nur das ein, was mir als Gegenleistung für die Meinige versprochen wurde.

    Kapitel 2

    Der Mann mittleren Alters saß in einem kleinen Café im belebten Stadtzentrum. Die anderen Gäste konnten erahnen, dass mit dem Mann irgendetwas nicht stimmte ... Die Krankheit war damals aus dem Nichts gekommen. Er hatte einen für nicht möglich gehaltenen Teil seines Körpergewichtes eingebüßt, unmissverständlich erfahren, dass die Krankheit unersättlich ist. Seine zittrigen Finger steuerte seitdem der Tremor, als lenke ein unbarmherziger Marionettenspieler seine Bewegungen mittels unsichtbarer Fäden. 

    Er reckte sich etwas nach oben, als die wärmenden Sonnenstrahlen durch die isolierende Fensterscheibe des Cafés auf seinen entkräfteten Körper fielen. Sein Fleisch mochte zwar geschunden sein, doch sein Geist war seit Wochen wieder von Hoffnung erfüllt. Der Arzt hatte ihm mitgeteilt, dass er wohl wieder gesund werden würde, die Chemotherapie habe „angeschlagen". Die Nachricht hatte ihn zunächst in Ekstase und Sekunden später in tiefe Furcht versetzt. Denn er hatte in seiner Verzweiflung ein Tor geöffnet, das tief, tief in die Schwärze führte. Er hatte einen unaufkündbaren Pakt mit diesem gottlosen Teufel geschlossen …

    Der hagere Mann schob den klassischen Caféhausstuhl zurück und schritt auf die blonde Bedienung zu, die mit einem charmanten Lächeln hinter dem Tresen wartete. 

    „Darf es noch was sein?". Ihr Gesicht schien in Stein gemeißelt, wie das einer Stewardess. Doch der Mann wusste, dass es keinesfalls aufgesetzt war.

    „Clara, sei doch so lieb und gib mir mal die aktuelle Tageszeitung".

    Die Bedienung griff, ihre Lippen zogen sich noch eine Nuance weiter auseinander, auf Taillenhöhe neben sich und reichte dem Mann die Zeitung.

    „Dank dir, Clara". Der Mann ging zurück zu seinem Platz und ließ sich mit einem Seufzer nieder. Er breitete die Zeitung zwischen seinen zittrigen Händen aus. Und dann stellte er die Atmung unwillkürlich ein, seine Augen starrten schockiert auf die Titelseite vor ihm. 

    Grausamer Fund im Park

    Unter der Überschrift nahm ein abgebildetes Foto die gesamte Breite der Zeitung ein. Der Mann zog das Bild bis auf wenige Zentimeter vor seine Augen heran. Vor einer Parkbank lag im Schnee ein weißes Laken, darunter zeichneten sich die Konturen eines Menschen ab. Im Kreis um das verhüllte Opfer herum waren Blutspritzer zu erkennen, die sich wie feine Safranfäden im jungfräulichen Schnee abgezeichnet hatten. Neben dem vermeintlichen Opfer lag ein weiteres Laken. Hierunter zeichneten sich allerdings keine Formen ab.

    Verdammt, das kann doch nicht wahr sein. Ein elektrisierender Strom durchfuhr seinen Körper, seine Finger und Zehen begannen erst zu kitzeln, dann zu schmerzen. Sein Geist malte dunkle Bilder, stellte sich vor, bald würde sein Name dort zu lesen sein. Wie lang ist es her? Er wusste es nicht mehr, hatte es im Labyrinth seines Gedächtnisses sorgfältig versteckt. Und dann hatte er die Karte verbrannt. Fahrig überflog der Man den Artikel. Eine Drogenabhängige wurde in dem großen Park der Stadt mit durchtrennter Kehle aufgefunden. Das Bizarre in dem Fall beschleunigte seinen Puls nochmal um ein Vielfaches. Sein Herz schlug ihm bis zur Brust. Der Täter habe mit dem Blut des Opfers im Schnee eine Nachricht hinterlassen:

    „Ich bin ein stürmischer Gesell‘,

    Ich wähle rasch und freie schnell,

    Ich bin der Bräut’gam, du die Braut,

    Und ich bin der Priester der uns traut."

    Sowas sollte eigentlich nicht nach außen dringen. Im Angesicht der Länge der Botschaft und der erforderlichen Menge an Blut mischte sich noch Übelkeit zu seinem Angstgefühl. Angeekelt las er weiter. Die skurrilen Worte seien Auszug aus einer Ballade. Silvesternacht von Theodor Fontane. Jedoch sei selbst eine Deutung spekulativer Art zum gegenwärtigen Zeitpunkt laut Aussage der Kriminalpolizei noch nicht möglich. Der Mann vergrub das Gesicht in seinen Händen und dachte angestrengt nach. Wenn er das ist, dann sind wohl die ersten fällig. Aber es könnte auch nicht mehr als ein belangloser Zufall sein.

    Plötzlich vibrierte sein Handy. Hastig griff er in seine Hosentasche und zog unbeholfen das Mobiltelefon heraus. Es war seine Tochter. Sie lud ihn zu ihrem Geburtstag ein. Ein zartes Lächeln zeichnete sich auf seiner Augenpartie ab, darunter blieb das Gesicht gelähmt. Ein Nebelstreif am Horizont. Wie lange mag’s her sein, dass ich sie das letzte Mal gesehen habe? Zwei Monate? Der schmale Grat zwischen Erde und Himmel ließ sich schon seit Wochen in einer alles erstickenden Schwärze, wie ein böses Omen, in der Ferne blass erkennen. Mit jedem Tag kam er dem Horizont ein Stück näher. Die schwammige Blässe des dunklen Mals wich Tag um Tag gefestigten Konturen. Schien es damals noch weit, weit entfernt, so war es mittlerweile allgegenwärtig. Es war ein reales Szenario geworden. Und jetzt, da er sich auf dem Weg der Genesung befand, lähmte in dieser Gedanke. Einen Gegner fast geschlagen, während sich der andere von hinten heranschleicht und mir die Kehle durchschneidet. Keine tolle Vorstellung. Er hatte sich immer noch nicht entschieden, wie er mit der Situation umgehen soll, wollte aber auch gar nicht daran denken. 

    Er trank seinen Kaffee aus, erhob sich und blickte umher. Er mochte die Atmosphäre hier. Er versank immer förmlich in dem Stimmengewirr, das jedoch in keiner Weise aufdringlich war. Es war vielmehr wie eine sanfte Hypnose, die seinen Geist aus seinen gottgesetzten Grenzen ausbrechen und in eine neue Sphäre eintauchen ließ. Und in dieser Umgebung dachte er eigentlich nicht an seine Probleme. Er fühlte sich entspannt, vergaß alles um ihn herum. Der Duft frisch gerösteter Kaffeebohnen tat sein Übriges. Immer wenn er den betörenden Geruch wahrnahm, fühlte er Entspannung, als sei er darauf konditioniert. Aber in diesem Moment wurde ein klaffendes Loch in diese Heile-Welt-Fassade geschlagen, das spürte er eindeutig.

    Kapitel 3

    In seine Gedanken vertieft verließ der Mann das Café. Die Sonnenstrahlen verwandelten die von Schnee und Eis bedeckte Straße vor ihm in ein Meer aus lumineszierenden Eiskristallen. So viel Schnee hatten wir schone lange Zeit nicht mehr. Sein Weg durch die winterlich anmutende Landschaft, vorbei an der

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