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Im Schatten der Eidechse
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eBook837 Seiten12 Stunden

Im Schatten der Eidechse

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Über dieses E-Book

Auf der Suche nach Freiheit
Süd Dakota 1969 - Widerstand gegen seinen brutalen Vater kostet den jungen Lakota Nama-shai fast das Leben. Gerettet durch Weisse, doch erneut gefangen. Er kann fliehen, aber bald fesselt ihn eine Vision an die Feinde seines Volkes.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum19. Okt. 2021
ISBN9783347394629
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    Buchvorschau

    Im Schatten der Eidechse - Mia Brendt

    Kapitel 1

    Es war Anfang August. Die anhaltende Trockenheit hatte das Land ausgedörrt. Und doch brannte die Sonne weiterhin unbarmherzig auf die staubig rissige Haut von Mutter Erde. Eine glühende Scheibe, die mit stoischer Gleichgültigkeit über den stahlblauen Himmel zog. Seit Wochen zeigte sich kaum eine Wolke am Horizont. Kein Regen, nur gelbbrauner Staub, der die wellige, nahezu baumlose Hügellandschaft bedeckte. Selbst der Wind, der hier sonst sein ständiges Zuhause unterhielt, war erstickt. Flirrend lag die Luft über wehrlos ausgezehrtem Land – einem unbedeutenden, menschenleeren Landstrich nahe den Badlands von South Dakota. Einem Land, in dem selbst solche Einöden Stimmen haben.

    »Das muss so sein«, wisperten die Alten.

    »Das bringt uns um«, klagten die Jungen.

    Eine lebensfeindliche Gegend, in der keine Kreatur zu überleben schien. Bei genauerem Hinsehen jedoch huschte eben eine winzige graubraune Eidechse über die heißen Steine in den schattigen Unterschlupf eines flachen Felsens. Kaum ein Lebewesen wagte sich in diese erbarmungslose Hitze. Umso erstaunlicher war es, daβ an diesem brütend heißen Nachmittag vier Reiter unterwegs waren. Zum Schutz gegen das grelle Sonnenlicht hatten sie ihre breitkrempigen Hüte tief ins Gesicht gezogen. Sie ritten hintereinander von einem der unzähligen Plateaus hinunter in die vor ihnen liegende Ebene. Der schmale Pfad, auf dem sich die Pferde langsam abwärtsbewegten, wand sich behäbig wie eine vollgefressene Schlange durch herb duftendes Salbeigestrüpp.

    Auf den Anhöhen hatte bisher eine schwache Brise den Ritt leidlich erträglich gemacht. Doch nun ebbte sie ab, die Luft stand still und den Männern kam es so vor, als befänden sie sich in einem glühenden Backofen. Sie hatten das mit dürrem Gras bedeckte Flachland, das sich weit nach Osten hin ausdehnte, fast erreicht. Nur wenige Meilen noch bis zur Reservationsgrenze. Dahinter – karges trostloses Indianerland.

    Mit jedem Schritt schien die Hitze unerträglicher. Dann, völlig unerwartet, erhob sich ein schwacher Windhauch. Aber statt der ersehnten Frische blies er den Männern wie mit teuflischem Hohn staubige heiße Luft ins Gesicht. Das Atmen wurde immer beschwerlicher. Zusammengesunken, mit gesenkten Köpfen, saßen die Reiter im Sattel, keiner sprach ein Wort. Jeder schien sich in Gedanken auf die baldige Rückkehr nach Rusk-Point zu freuen. Nur noch knappe zehn Meilen trennten sie von ihrem Ziel, der dortigen Nationalparkstation.

    Dieser Nationalpark im Mittleren Westen, mit seinen bizarren Felsenformationen aus Sandstein und Ton, zählte zu den einzigartigen Besonderheiten der Gegend. Für die ersten Siedler hatte das Naturphänomen der vegetationsarmen Badlands eine letzte ungastliche Hürde auf ihrem beschwerlichen Weg zur Besiedlung des westlichen Teils des Kontinents dargestellt.

    Heute zog die unberührte, wild zerklüftete Felsenlandschaft mit ihren unzähligen Canyons, theatralisch von urzeitlicher Wasserkraft geformt, den steinernen Mondlandschaften und dem Farbenspiel der Sedimentschichten unzählige Besucher aus aller Welt an. Tieren wie Bisons, Gabelantilopen, Maultierhirschen und Präriehunden bot der Park ein letztes Rückzugsgebiet vor der fortschreitenden Zerstörung ihres Lebensraumes. Zahlreiche Fossilienfunde waren wohl ebenfalls ein Grund dafür, diese unvergleichliche ursprüngliche Wildnis zu schützen und zu erhalten und dieses Gebiet 1939 zum Nationalpark zu erklären.

    Die kleine Gruppe, die sich mühselig weiter durch die Sommerglut quälte, wurde angeführt von Ray Johnson, einem hageren Mann Mitte dreißig, mit dunklen kurzen Haaren, die, wie sein buschiger Schnurrbart, bereits von einigen Silberfäden durchzogen waren.

    Während sich sein Pferd langsam, aber trittsicher den besten Weg über den schmalen steinigen Pfad bergab suchte, gab er sich der angenehmen Vorstellung hin, in ein paar Stunden zu Hause bei seiner Familie zu sein.

    Seit fast genau fünf Jahren lebte er nun in Rusk-Point, zusammen mit seiner Frau Sue, seinem Sohn Michael und der zweijährigen Tochter Olivia. Im Sommer 1964, kurz nach Michaels Geburt, hatte er die Leitung der südlichen Nationalparkstation übernommen. Sue und er waren sich darüber einig gewesen, daβ es für ihre Kinder besser wäre, in einer naturnahen Umgebung aufzuwachsen, statt im konservativen Mief der Kleinstadt, in der sie bis dahin gewohnt hatten. Obwohl inzwischen der Flower-Power-Generation entwachsen, war immer noch ein Rest von unverblümtem Idealismus in ihren Herzen. So schien ihnen ein Leben auf der Station der beste Weg zu sein, um ein harmonisches Familienleben zu führen.

    Ray freute sich darauf, sie wiederzusehen, dennoch musste er sich eingestehen, daβ es ihm gutgetan hatte, dem täglichen Bürokram für eine Woche den Rücken zuzukehren. In den letzten Monaten hatte er immer mehr Stunden des Tages hinter dem Schreibtisch verbracht. Die Menschen interessierten sich wieder zunehmend für die unberührte Schönheit der Natur. Dies zeigte sich allein schon an der ständig steigenden Zahl der Nationalparkbesucher. Er führte dies darauf zurück, daβ die Menschen auf der Flucht waren vor ihren alltäglichen Sorgen und Ängsten. Sie suchten Ruhe und Frieden in dieser unsicheren Zeit. Ray spürte nur wenig von den wirtschaftlichen Schwierigkeiten und sozialen Unruhen im Land. Nur über das Radio hatte er von der Wahl des Republikaners Richard M. Nixon zum Präsidenten, von dem Tod von Martin Luther King und den Geschehnissen und den unzähligen Opfern des Vietnamkrieges erfahren.

    Für ihn waren die Zeiten der Proteste, Demonstrationen und nächtelangen Diskussionen mit politischen Mitstreitern und Antikriegsgegnern vorbei. Nicht, daβ ihm sein Interesse am Weltgeschehen abhandengekommen wäre, doch er hatte entschieden, seine ganze Kraft der Familie und seiner Arbeit zu widmen, und dies verlangte seinen vollen Einsatz.

    Schon seit einiger Zeit hatte er einen zunehmenden Drang verspürt, seinen Schreibtisch, das Telefon und den ständigen Papierkram zu verlassen. Deshalb hatte er die Gelegenheit wahrgenommen und sich kurzerhand entschlossen, die beiden Journalisten, die für ein bekanntes Naturmagazin recherchierten, selbst auf dieser Strecke zu führen. Normalerweise würde er einem »seiner« Parkranger die Führung solcher Touren überlassen. So aber war es eine willkommene Abwechslung gewesen, dem gewohnten Trott zu entfliehen. Diese Tour war ein voller Erfolg gewesen. Die Journalisten hatten sich zufrieden gezeigt, nicht zuletzt auch deshalb, weil ihnen mit seiner Unterstützung seltene Schnappschüsse von Bisons, Weißwedelhirschen und sogar eines Pumas gelungen waren. Er war selbst erstaunt gewesen, die scheue Raubkatze in diesem Gebiet anzutreffen.

    Er lächelte und blickte nach hinten zu Bryan Cooper: »Na Doc, ganz schön ungewohnt, so viel Natur auf einmal. Bist du auch froh, bald wieder zu Hause zu sein?«, erkundigte er sich gut gelaunt bei der Aussicht darauf, dieser Bruthitze bald entronnen zu sein.

    »Klar, waren gute Tage, aber jetzt brauche ich erst mal eine kalte Dusche und ein weiches Bett. Ich hoffe nur, daβ der junge Kollege in meiner Praxis alles im Griff hat«, erwiderte Bryan.

    »Bestimmt. Sicher hatte er außer mit ein paar Schlangenbissen und einigen harmlosen Kratzern sowieso nicht viel zu tun«, meinte Ray beruhigend.

    »Vielleicht«, brummte Bryan zurück. Er runzelte die Stirn. Rays Bemerkung hatte ihn gekränkt. Obwohl er wusste, daβ er nur seine besorgten Gedanken zerstreuen wollte, hatte er für einen Moment das Gefühl, er nehme seine Arbeit nicht ernst genug. »Aber ganz ohne Arzt konnten wir die Station auch nicht zurücklassen. Man kann ja nie wissen. Daher war ich schon froh, daβ der junge Assistenzarzt aus Rapid so kurzfristig als Vertretung eingesprungen ist«, widersprach Bryan nach einigen Minuten.

    Ray schmunzelte nur, er wusste, Bryan war gerne Arzt auf der Station, und daβ es beileibe nicht immer nur um kleine Verletzungen ging, war auch ihm durchaus bewusst.

    Die beiden Männer verband eine innige Freundschaft, die jedoch gelegentlich durch kleinere Missverständnisse, bedingt durch ihre unterschiedlichen Charaktere, auf die Probe gestellt wurde. Ray auf der einen Seite, der eher impulsiv und zielstrebig zu reagieren pflegte, während es auf der anderen Seite Bryans Wesensart entsprach, besonnen und diplomatisch zu handeln. Dennoch hatten sie sich bereits bei ihrer ersten Begegnung vor vier Jahren auf Anhieb bestens verstanden.

    Doktor Bryan Cooper hatte eine athletische Statur mit der stattlichen Größe von gut eins neunzig. Seine dunkelblonden kurzen Haare umrahmten ein offenes Gesicht mit freundlichen grau-grünen Augen, die alles interessiert wahrnahmen, was ihre Aufmerksamkeit erregte. Er war ein Mensch, den man gern zu seinen Freunden zählte. Ein gutaussehender Mann mit einem aufrichtigen, warmherzigen Wesen. Obwohl die Vierzig schon weit überschritten, umgab ihn immer noch ein jungenhaftes Flair, das ihn, gepaart mit seinem unwiderstehlichen Lächeln, bereits früh zum Frauenschwarm werden ließ. Doch eine dauerhafte Beziehung konnte er nie aufbauen. Anfangs scheiterte dies an seinem Freiheitsdrang. Später an seinen beziehungsfeindlichen Arbeitszeiten oder auch daran, daβ er Partys, romantische Candle-Light-Dinner oder vielversprechende Rendezvous oft wegen dringender Notfälle vorzeitig verlassen musste. Inzwischen war er überzeugter Junggeselle und sein Liebesleben bestand aus unverfänglichen Flirts mit der Damenwelt.

    Bevor er seine Arbeit auf der Station begann, hatte er im Memorial Hospital in Salt Lake City gearbeitet. Sein Alltag wurde von der Hektik des Klinikbetriebs, medizinischer Fließbandarbeit, gepaart mit Überstunden, Schlafmangel und hastig heruntergeschlungenem Essen beherrscht. Erst der Tod seines besten Freundes und Arztkollegen hatte ihn aufgerüttelt. Unerwartet hatte er David durch einen Herzinfarkt verloren. Dieser Verlust zwang ihn, sein bisheriges Leben neu zu überdenken. Damals war er zweiundvierzig und fragte sich, ob ihn irgendwann das gleiche Schicksal erwarten würde, wenn er so weitermachte? Warum betrieb er diesen Raubbau an seiner Gesundheit? Weshalb ließ er sich in dieser sterilen Atmosphäre derart verheizen? Welche Lebensqualität hatte sein momentaner Tagesablauf?

    Genau zu dieser Zeit, als er sich in all diese schwerwiegenden Daseinsfragen verstrickt sah, erfuhr er von der zu besetzenden Arztstelle auf der Nationalparkstation in Rusk-Point. Dort wurde ein Arzt für eine verantwortungsvolle Herausforderung gesucht. Neugierig geworden, was sich wohl dahinter verbergen mochte, nahm er sich kurzerhand eine Woche frei, bestieg seinen alten Lincoln und fuhr gemächlich Richtung Osten, um sich das Ganze einmal aus der Nähe anzusehen.

    Nach einem freundlichen Willkommen und einem ausführlichen Gespräch über die Aufgaben, die ihn erwarten würden, bat er um etwas Zeit, um in Ruhe eine Entscheidung treffen zu können.

    Ray war ihm von Anfang an sympathisch gewesen und ihm gefiel die Art, wie er offen und unumwunden die zu erwartende Arbeit und ihre Schwierigkeiten geschildert hatte. Die Vorstellung lockte, abseits der hektischen Zivilisation und der Hightech-Medizin eigenverantwortlich arbeiten zu können. Er wog auch die Nachteile und Einschränkungen, die er auf sich nehmen müsste, dagegen ab. Doch nach kurzer Bedenkzeit beschloss er, die neue Herausforderung anzunehmen und sich von seinem bisherigen Lebensstil zu verabschieden. Auf der Rusk-Point-Station wurden seine medizinischen Fähigkeiten dringender gebraucht. In dieser Gegend gab es immer wieder Unfälle und Erkrankungen, die schnelle Hilfe erforderten, und das nächste Krankenhaus war in Rapid City, über dreißig Meilen entfernt. Außerdem gehörte die medizinische Betreuung des südöstlichen Teils der Reservation zu seinen Aufgaben. Einmal pro Woche fuhr er nach Kyle, um dort seine Sprechstunden abzuhalten. Doch dies war viel zu wenig, um diese Patienten wirklich ausreichend zu betreuen. All seine Bemühungen, mit denen er sich für eine medizinische Grundversorgung der Reservatbewohner einsetzte, stießen bei den zuständigen Regierungsstellen auf taube Ohren. Angesichts des Elends, dem er oft genug gegenüberstand, hatte er das Gefühl, seine Arbeit sei nur der frustrierende Tropfen auf dem heißen Stein. Trotzdem war er nicht bereit, sich entmutigen zu lassen.

    Bryan reckte sich im Sattel und blickte versonnen über die endlose Weite der vor ihm liegenden Ebene. So weit das Auge reichte, erstreckte sich das Land zu seiner Rechten bis zum Horizont, überzogen von verdorrtem Gestrüpp und dürrem Gras. Wandte er den Blick nach Osten, endete die Prärie nahezu unvermittelt. Wie hinter einer unsichtbaren Grenze dehnte sich ockergelbes Ödland. Darin ragten wie Werke eines eigenwilligen Künstlers bizarr geformte turmartige Felsgebilde in den wolkenlosen Himmel. Im grellen Sonnenlicht kalkweiß warfen sich ihre Schatten teilweise übereinander wie Zeiger sinnlos platzierter Sonnenuhren.

    Seine Augen suchten in der Ferne die Anhöhe, auf der drei alte verkrüppelte Kiefern standen. Bald würden sie auftauchen. Hinter ihr lag die offene Senke, die sich bis zum White River erstreckte, in der sich auch die kleine Ansiedlung Rusk-Point befand.

    Ein seliger Frieden durchströmte ihn und machte ihm zum wiederholten Mal bewusst, wie glücklich er war. Dieser faszinierenden ursprünglichen Landschaft, den hier lebenden Menschen und seiner Arbeit verdankte er das langersehnte Gefühl, endlich sein wahres Zuhause gefunden zu haben.

    »Ich fühle mich großartig und bedauere es keineswegs, daβ ich mitgekommen bin. Hat mir gut getan, zur Abwechslung mal etwas anderes zu sehen als nur Heftpflaster und Desinfektionsmittel«, teilte er Ray ausgelassen mit.

    Für eine Weile ritten sie schweigend weiter. Der Weg führte die vierköpfige Gruppe gerade durch ein ausgetrocknetes Bachbett, als Bryan plötzlich in den stahlblauen Himmel zeigte. Ray folgte seiner Geste und konnte ebenfalls in einiger Entfernung einige kreisende Geier ausmachen.

    »Werden wohl einen Kadaver gesichtet haben«, vermutete Ray, ohne den gefiederten Aasfressern besonderes Interesse entgegenzubringen.

    »Willst du nicht nachsehen, was los ist?«, fragte Bryan.

    »Nein, ich habe keine Lust auf einen Umweg nur wegen eines toten Kojoten.«

    »Woher willst du das denn so genau wissen?«

    »Ach, was weiß ich. Das Gebiet da drüben gehört nicht mehr zum Nationalpark. Also bin ich auch nicht zuständig dafür, was in diesem gottverlassenen Teil der Welt passiert«, gab Ray gleichgültig zurück. Er dachte nur noch an eines: So schnell wie möglich raus aus dieser Gluthitze und zu Hause frisch geduscht im Schatten mit einem kalten Bier die Füße hochlegen.

    Bryan konnte sich das seltsame Gefühl selbst nicht erklären, das ihn beim Anblick der Geier beschlichen hatte. War es ein instinktives Wissen, daβ da draußen etwas nicht in Ordnung war? Er musste der Sache auf den Grund gehen, Zuständigkeit hin oder her. Es ließ ihm keine Ruhe. Und eines war sicher: Solange die Geier am Himmel kreisten, war der Kojote, oder was auch immer dort seinem Ende entgegenging, noch nicht tot.

    »Ray, ihr könnt von mir aus weiterreiten. Ich reite rüber und schau mir das mal an.«

    »Das ist nicht dein Ernst! Hat dir diese Bruthitze das Hirn angesengt? Verdammt noch mal, Bryan, bleib hier! Dein ärztliches Engagement in allen Ehren, aber willst du einem alten Kojoten mit Herzmassage wieder auf die Sprünge helfen?« Sein Unverständnis für Bryans Hartnäckigkeit war nicht zu überhören.

    »Auf die halbe Stunde kommt es mir jetzt auch nicht mehr an. Ich gehe«, erklärte dieser entschlossen.

    Ray überlegte kurz und sah keine Chance, ihn umzustimmen. Er wollte seinen Freund nicht allein gehen lassen. Aber er trug auch die Verantwortung für die beiden Journalisten. Er kannte Bryan gut genug, um zu wissen, daβ er sich davon nicht abbringen ließ, wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte. Ihn allein gehen zu lassen, könnte zu gefährlich sein. Keiner wusste, was dort drüben bei diesen Geiern tatsächlich los war, und Bryan wäre im Ernstfall ein lausiger Schütze. Verdammter Dickschädel, dachte er. Verärgert darüber, daβ er sich gezwungen sah, Bryans Vorhaben nachzugeben, hielt er sein Pferd an. Mit einer unwirschen Bewegung nahm er den Hut ab und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Dann drehte er sich im Sattel zu den anderen um.

    »Hören Sie mal, der Doc möchte unbedingt dem Geheimnis dieser kreisenden Geier auf den Grund gehen. Daher wollte ich Sie fragen, ob Sie bereit wären, einen kleinen Umweg in Kauf zu nehmen«, fragte er mit sarkastischem Unterton in die Runde.

    »Ja, warum nicht? Vielleicht gibt es etwas Interessantes zu sehen«, gab einer der beiden Journalisten überraschenderweise zurück. Der andere nickte zustimmend. Anscheinend bin ich hier nur von Verrückten umgeben, dachte Ray und gab sich geschlagen. Bei dem Gedanken, daβ es diese hässlichen Aasfresser tatsächlich geschafft hatten, sogar die journalistische Neugier zu wecken, konnte er ein Grinsen nicht zurückhalten. Mit einer gewissen Genugtuung stellte er sich ihre enttäuschten Gesichter vor, wenn sie nach diesem völlig unnötigen Abstecher vor einem verendeten Kaninchen oder Ähnlichem standen. Dennoch stellte er sich nur widerwillig der Tatsache, in der Minderheit zu sein, und setzte sein Pferd wieder in Bewegung.

    Da sie flacheres Gelände erreicht hatten, trieben sie ihre Pferde an, um schneller voranzukommen. Der Landstrich, auf den sie sich zubewegten, wurde zunehmend karger, fast schon wüstenartig. Jeder Stein, jedes Hälmchen war überzogen mit pulverfeinem Staub. Einzeln stehendes dürres Gestrüpp, besetzt mit wehrhaften Dornen, prägte das Bild dieser lebensfeindlichen Gegend.

    Der kleine Trupp mühte sich weiter. Kurz darauf stellte sich ihrem Blick nichts mehr in den Weg, außer einige turmhohe, vom Wind glatt geschliffene Sandsteinsäulen, die wie mahnende Zeigefinger aus dem Boden in die Höhe ragten. Der harte Untergrund gab donnernd die Hufschläge ihrer galoppierenden Pferde zurück. Erst als handbreite Risse die ausgetrocknete Erde spalteten, mussten sie gezwungenermaßen ihr Tempo wieder verlangsamen.

    Fast hatten sie die Stelle erreicht, über der die Geier kreisten. Dann, gerade als sie einen der großen Felsblöcke zur Hälfte umrundet hatten, bot sich ihnen eine Szene, die wohl keiner von ihnen je vergessen würde. Sie brachten ihre Pferde zum Stehen. Wortlos, wie gebannt, starrten sie auf einen kahlen, völlig verdorrten Baum, der etwa hundert Schritte entfernt in einer sandigen Mulde stand. Die ausgebleichten Äste standen waagerecht ab, so als wollten sie Hilfe suchend nach Wasser bitten. Doch es war nicht das unerwartete Auftauchen des Baumes, was sie so abrupt anhalten ließ und ihnen trotz der fast unerträglichen Hitze einen kalten Schauer über den Rücken trieb. Nein, es war der erschütternde Anblick eines an einem der Äste festgebundenen Menschen. An den Handgelenken aufgehängt wie Schlachtvieh. Der Körper hing fast in der Luft. Die Füße berührten nur knapp den Boden.

    Der Schreck fuhr den Männern derart in die Glieder, daβ ihre verschwitzten, staubbedeckten Gesichter wie versteinert auf die gefesselte Gestalt starrten. Sie wagten kaum, zu atmen. Die wabernde Hitze verzerrte den grauenvollen Schauplatz zu einem skurrilen Trugbild, das den Männern vorzugaukeln schien, das Gesehene sei nur eine unwirkliche Spiegelung ihrer überhitzten Fantasie. Eine alles beherrschende bedrückende Stille breitete sich aus. Nur die Geier wagten es, sie hin und wieder mit einem heiseren Schrei zu durchbrechen.

    Es verstrichen Minuten, bis sich die Männer wieder halbwegs gesammelt hatten und dazu fähig waren, aus ihren Sätteln zu steigen. Langsam, die Pferde am Zügel mitführend, näherten sie sich vorsichtig. Erst jetzt erkannten sie, daβ es sich bei dem Gefesselten um einen Indianer handelte. Sein Kopf war auf die Brust gesunken. Ein kurzer glühend heißer Windhauch wehte durch seine langen dunklen Haare. Die leblose Gestalt war fast nackt, nur eine zerfetzten Jeans hingen an seinen Beinen.

    Schockiert blieben sie stehen. Dann wagte sich Bryan näher heran. Der Körper des Mannes war mit feinem gelbbraunem Staub überzogen, einige Stellen blutverschmiert. Auf den ersten Blick konnte er außer einigen Schürfwunden keine Verletzungen feststellen. Er untersuchte die vordere Seite des Mannes genau, jedoch ohne sie dabei zu berühren. Dann ging er um den Indianer herum. Erst jetzt erkannte er das ganze Ausmaß des leidvollen Geschehens. Blankes Entsetzen weitete seine Augen. Fassungslos erstarrte er mit offenem Mund. Unbegreiflich. Derart Bestialisches war ihm noch nie begegnet. Bestürzt schüttelte er den Kopf und fuhr sich mit der Hand über die Augen, so als könne er wegwischen, was nicht wahr sein konnte.

    »Mein Gott …«, flüsterte er kaum hörbar.

    Eine Mischung aus tiefster Abscheu und Wut begann sich seiner zu bemächtigen. Nein, er durfte sich jetzt nicht von Emotionen leiten lassen. Entschlossen straffte er die Schultern und konzentrierte sich auf seine berufliche Aufgabe. Rasch kam seine ärztliche Ruhe zurück und er fing an, die Verletzungen genauer in Augenschein zu nehmen. Der Rücken des Mannes war übersät von kreuz und quer verlaufenden Peitschenstriemen. Nur ein grausamer, zutiefst von Hass erfüllter Mensch konnte einem anderen Menschen so etwas antun. Unerbittlich war auf diesen Mann eingeschlagen worden. Unzählige Schläge hatten tiefe Spuren unbeherrschter roher Gewalt ins Fleisch gerissen. Entlang der fingerbreiten Wundränder klebte schwarz verkrustetes Blut. Bryan wehrte zahlreiche Schmeißfliegen ab, die den geschundenen Körper bedrängten und mit ihrem gierigen Speichel die klebrigen Wunden offenhielten, um weiterhin ihre Eier darin ablegen zu können. Die Mischung aus Staub, Dreck und dem Geruch von Schweiß, Blut und Tod löste selbst bei Bryan ein angewidertes Würgen aus. Er drehte sich kurz ab, atmete tief durch und zwang seinen Verstand, mit berufsmäßiger Sachlichkeit weiterzumachen. Gab es überhaupt noch ein Anzeichen von Leben in diesem erbarmungswürdigen Bündel Mensch? Prüfend legte ihm Bryan Zeige- und Mittelfinger an die Halsschlagader. Ein leichtes Flattern, der Hauch eines Pulses ließ ihn aufschrecken. »Schnell«, schrie er und suchte mit hastigen Blicken nach Unterstützung. Ray, der am nächsten stand, rief er zu: »Beeil dich! Bring mir meine Arzttasche und eine Decke!« Ray hastete los und brachte wenig später die gewünschten Sachen. Nun sah er, weshalb Bryan derart erschüttert reagiert hatte. Geschockt wich er unwillkürlich einige Schritte zurück.

    »Los, komm schon!«, forderte Bryan.

    Ray kam wieder näher und starrte wie gebannt auf die grauenvollen Verletzungen des direkt vor ihm hängenden Körpers. Er konnte nicht sagen, ob es die Fliegen oder der süßlich brandige Geruch waren oder die Ahnung, daβ es Knochen sein könnten, die da durch das rohe Fleisch drückten. Ray spürte nur noch, wie ihm übel wurde. Angeekelt wandte er sich erneut ab. Sein Magen drehte sich. Er bemühte sich, sich mit aller Kraft zusammenzureißen, was ihm schließlich unter mehrmaligem krampfhaftem Würgen doch noch gelang. Bryan legte ihm mitfühlend die Hand auf die Schulter und erkundigte sich: »Gehts wieder?« Als Ray bestätigend nickte, fügte er an: »Hilfst du mir, ihn loszuschneiden?«

    Immer noch angeschlagen zog Ray wortlos sein Messer aus dem Gürtel. Mit angehaltenem Atem und mit auf die Fesseln gerichtetem Blick setzte er die Klinge an, als er bemerkte, daβ einer der Journalisten scheinbar schon eine ganze Weile Fotos von dieser erschütternden und doch auch makabren Szene machte.

    »Das ist ja nicht zu fassen! Aufhören, sofort!« Vor Empörung war Rays zuvor blasses Gesicht jetzt zornrot. »Haben Sie denn überhaupt keinen Anstand im Leib?«, schrie er den taktlosen Fotografen an. Dieser zuckte allerdings nur unbeeindruckt mit den Schultern und meinte gleichgültig: »So was kann ich mir bei meinem Job nicht leisten.«

    Über so viel Pietätlosigkeit konnte Ray nur den Kopf schütteln. Er wandte sich wieder zu Bryan, um ihm dabei zu helfen, dem Verletzten die Lederriemen durchzuschneiden, mit denen er gefesselt worden war. Die Handgelenke des Mannes waren blutunterlaufen und wund gescheuert, bemerkte Ray, als sie den leblosen Körper auf die am Boden ausgebreitete Decke legten. Bryan überprüfte nochmals den Puls. Erleichtert nickte er einige Sekunden später und sie trugen den Verletzten gemeinsam in den schmalen Schatten eines Felsblocks. Die beiden Journalisten waren inzwischen ebenfalls herangekommen. In gebührendem Abstand und ohne Fotokamera sahen sie Bryan dabei zu, wie er den Geschundenen nun gründlich untersuchte.

    »Wie siehts aus?«, wollte Ray kurze Zeit später wissen.

    »Sein Zustand ist äußerst kritisch. Er atmet nur noch schwach und das Herz schlägt sehr unregelmäßig«, antwortete er, während er das Stethoskop abnahm und wieder in seiner Tasche verstaute. Mit besorgter Stimme fügte er hinzu: »Die Verletzungen und die Hitze haben ihm übel zugesetzt.«

    »Was schätzen Sie, Doc«, mischte sich einer der Journalisten ein, »wie lange ist er schon hier draußen?«

    Nachdenklich fuhr sich Bryan mit der Hand übers Kinn. »Hhmm …, bei der Hitze? Schätzungsweise einen Tag, vielleicht auch eineinhalb. Auf der Innenseite seiner Arme ist die Haut von der Sonne verbrannt. Es haben sich bereits einige kleine Brandblasen gebildet.«

    »Und jetzt?«, wollte Ray wissen.

    »Wir nehmen ihn erst einmal mit auf die Station«, entschied Bryan.

    »Bringen Sie mir meine Wasserflasche«, forderte er kurzdarauf den Journalisten auf, der neben ihm stand. Als dieser die Flasche gebracht hatte, goss der Arzt Wasser auf ein Tuch und begann, die aufgesprungenen, blutverschmierten Lippen des Bewusstlosen zu säubern. Dann flößte er ihm einige Tropfen Wasser ein.

    »Mehr kann ich im Augenblick nicht für ihn tun. Auf der Station kann ich ihn besser behandeln. Beeilen wir uns also mit dem Rückweg«, sagte er.

    Er holte sein Pferd, verstaute seine Arzttasche und setzte sich in den Sattel.

    »Gebt ihn mir hoch«, forderte er die anderen Männer auf. Ray und einer der Journalisten wickelten den Patienten behutsam in die Decke und hoben den zerschundenen bewusstlosen Körper vorsichtig zu Bryan aufs Pferd.

    »Du bist verrückt, Bryan, das wird er nie überleben«, gab Ray seinem Freund zu bedenken.

    »Wir werden sehen. Jedenfalls ist das besser, als ihn hier seinem Schicksal zu überlassen. So kann ich wenigstens versuchen, sein Leben zu retten«, gab dieser zurück.

    »Okay. Du bist der Arzt«, stimmte er schließlich zu und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.

    »Etwas kapier ich an der ganzen Sache einfach nicht, wenn jemand diesen Kerl erledigen wollte, warum jagt er ihm nicht einfach eine Kugel in den Kopf, sondern quält ihn derart und lässt ihn dann hier draußen langsam verrecken? Warum tut jemand so was?«

    »Komm jetzt, vielleicht werden wir es nie erfahren. Doch jetzt sollten wir keine Zeit mehr verlieren. Reiten wir zurück!«, drängte Bryan.

    So schnell es die Umstände erlaubten, ritten sie weiter. Während des Rückwegs betrachtete Bryan das Gesicht des Indianers eingehend. Es war aufgeschwollen und wie der Rest des malträtierten Körpers bedeckt mit Staub und getrockneten Blutresten. Eine Platzwunde über dem linken Auge entstellte es zusätzlich, es schien ihm unmöglich, das Alter dieses Mannes zu schätzen.

    Bryan beschäftigten ähnliche Fragen, wie Ray sie schon kurz zuvor geäußert hatte: Wer war dieser Mann? Wer hatte ihn so grauenhaft zugerichtet und warum? Wer hatte ihn in dieser gottlosen Einöde an diesen Baum gefesselt? War es ein Indianer aus der Reservation, den ich vielleicht sogar kannte? Er seufzte aus dem tiefsten Grunde seines Herzens. Respekt vor dem Leben gehörte für ihn zu seiner persönlichen Grundeinstellung. So auch die Achtung vor der Würde des Menschen, gleichgültig, welche Hautfarbe er hatte. Eine solch verabscheuungswürdige Tat war ihm absolut zuwider und völlig unverständlich. Für den Moment gab es nur rätselhafte Fragen zu diesem bedauernswerten Wesen, ohne eine auch nur halbwegs plausible Erklärung.

    An der Stelle, an der sie den Verletzten gefunden hatten, hatte Ray die nähere Umgebung genau abgesucht. Er fand weder Spuren noch sonstige Hinweise, die Aufschluss darüber gaben, wie oder aus welcher Richtung dieser Mann dorthin gelangt war. Nicht der geringste Anhaltspunkt, der etwas über seine Herkunft verriet. Weder Schmuck noch Verzierungen an der zerschlissenen Hose ließen Rückschlüsse auf seine Stammeszugehörigkeit zu. Nichts war zurückgeblieben, außer einem bis an die Grenzen des Wahnsinns gequälten Körper.

    Kapitel 2

    Sie waren ohne Rast weitergeritten und erreichten mit der Abenddämmerung die Station. Allmählich begann die Hitze des Tages zu weichen. Von der kleinen Anhöhe aus blickten die Männer auf ihr ersehntes Ziel. Letzte Strahlen der Abendsonne berührten gerade noch die Giebel des lang gezogenen Gebäudekomplexes, in dem sich das Informationsbüro, der kleine Laden, die Lodge und der Saloon befanden. Der restliche Teil der flachen Senke und die übrigen Häuser lagen bereits im Schatten. Nach Süden hin umrahmte der träge dahinfließende White River mit einer sanften Biegung die kleine Ansiedlung – endlich zu Hause. Ray atmete erleichtert auf. Selbst die Pferde schlossen sich mit freudigem Wiehern der allgemeinen Begeisterung an. Die Männer mussten sie hart an die Zügel nehmen, um sie beim Anblick der heimischen Weiden und der Aussicht auf duftendes Heu davon abzuhalten, in wildem Galopp loszustürmen.

    Nachdem sie bei den Stallungen angekommen und die Pferde angebunden waren, brachte Bryan mit Rays Unterstützung den Verletzten zur Krankenstation. Bryan und der Arzt, der ihn vertreten hatte, übernahmen die weitere Versorgung. Ray verabschiedete sich. Er musste sich noch um die weitere Betreuung der Journalisten kümmern, die erst am nächsten Tag abreisen wollten. Schließlich gehörten sie zu den zahlenden Gästen, und die waren ein wichtiger Teil der Einnahmequellen des Nationalparks.

    Nachdem er seinen Pflichten als Stationschef nachgekommen war, widmete er sich für den Rest des Abends seiner Familie und genoss es, wieder zu Hause zu sein. Erst am nächsten Morgen, als er mit Bryan wie gewohnt eine Tasse Kaffee trinken wollte, bemerkte er, daβ er ihn seit ihrer Rückkehr nicht mehr gesehen hatte. Auch beim Abendessen und heute Morgen beim Frühstück war er nicht aufgetaucht. Und jetzt war es bereits zehn Uhr. Wo steckte er bloß?

    In Rusk-Point gab es einen erheblichen Unterschied zu den anderen Stationen im Mittleren Westen Nordamerikas. Sie war bedeutend größer als im Allgemeinen üblich. Dies rührte daher, daβ sie einen besonderen Ursprung hatte. Bereits im letzten Jahrhundert befand sich auf dem heutigen Stationsgelände der Handelsstützpunkt Rusk-Point. Dieser war immer schon eine zentrale Anlaufstelle gewesen. Früher für Siedler, die sich mit Proviant eingedeckt hatten bevor sie weiter Richtung Westen gezogen waren. Für die einstigen Trapper und sonstige Reisende war sie Handelstreffpunkt oder Austauschstelle für wichtige Informationen gewesen. Inzwischen lebten in diesem kleinen Ort ausschließlich Angestellte des Nationalparks, davon einige mit ihren Familien.

    Im Wandel der Zeit wurde er ein Anziehungspunkt für Touristen und Ausflügler, die kamen, um die Naturschönheiten des Parks zu besichtigen. Doch auch Wissenschaftler, z.B. Geologen, Paläontologen und Biologen, fanden hier eine Basis für verschiedene Studien und Forschungsprojekte. Sie erhielten nicht nur wertvolle Informationen, Verpflegungsmöglichkeiten, ortskundige Führer, sondern es wurden auch einfache Unterkünfte zum Übernachten angeboten. Zudem eignete sich dieser ehemalige Stützpunkt in idealer Weise als Ausgangspunkt für die Organisation und Kontrolle des etwa 1.500 Quadratkilometer großen Nationalparks.

    Um all den vielfältigen Aufgabenbereichen gerecht zu werden, war es erforderlich, daβ alle Stationsangestellten eng zusammenarbeiteten. Nur so war ein möglichst reibungsloser Ablauf gewährleistet. Das ganze Team, ob nun Ranger, Stallbursche, Arzt oder Köchin, bildeten auf gewisse Weise eine große Familie. Sie trafen sich zu den Mahlzeiten und besprachen nebenbei die wichtigsten Arbeiten des Tages oder was es sonst so an Neuigkeiten gab.

    »Hey, Sue. Ich geh mal eben rüber zu Bryan«, sagte Ray zu seiner Frau, die gerade dabei war, das restliche Frühstücksgeschirr abzuräumen, um den Speiseraum der Lodge für das Mittagessen herzurichten. Sie nickte ihm lächelnd zu.

    Als er die Krankenstation betrat, war Bryan nirgends zu sehen. Er rief ihn. Keine Antwort. Nur der junge Assistenzarzt lag schlafend auf dem Sofa im Vorraum der Praxis. Er weckte ihn.

    »Wo ist Doktor Cooper?«, wollte er von ihm wissen.

    Schlaftrunken bekam er zur Antwort: »Drüben im Krankenzimmer, nehme ich an.«

    Ray betrat das Krankenzimmer und fand Bryan schlafend auf einem Stuhl zusammengekauert neben dem Bett des verwundeten Indianers. Er rüttelte ihn wach.

    »Hey, Bryan, was ist denn hier los?«, fragte er den völlig übernächtigt aussehenden Arzt.

    Erschrocken richtete der sich auf. »Oh, Ray, du? Ich wollte noch gestern Nacht zu dir rüber. Aber ich hab’s nicht mehr geschafft. Wir haben fast die ganze Nacht gebraucht, um den Verletzten zu versorgen«, antwortete Bryan und ließ ein herzhaftes Gähnen folgen.

    »Soll ich dir einen Kaffee holen?«

    Bryan rieb sich die Müdigkeit aus den Augen. Doch mitten in der Bewegung hielt er inne und zuckte zusammen. Die Erinnerung an die letzte Nacht machte ihn mit einem Schlag hellwach. Ray sah ihn nur verwundert an.

    »Oh Gott …, ich muss dir unbedingt etwas Wichtiges zeigen«, sagte er ganz aufgewühlt. »Das musst du dir ansehen.«

    »Okay. Nun mal langsam. So viel Hektik am Morgen ist ungesund. Ich hol dir erst einen Kaffee, der bringt dich wieder auf die Beine. Dann können wir immer noch in Ruhe darüber reden, was es denn so Wichtiges gibt.« Mit einem »Bin gleich wieder da« war er auch schon aus der Tür gehuscht.

    Nach wenigen Minuten kam er mit zwei großen Tassen heißem Kaffee zurück. Bryan saß wie zuvor neben dem Bett und betrachtete nachdenklich den bewusstlos daliegenden Indianer.

    »Wie gehts ihm denn?«, erkundigte sich Ray.

    »Na ja. Sein Zustand ist immer noch sehr kritisch. Der Kreislauf macht mir Sorgen. Er hat hohes Fieber und die Verletzungen sind stark entzündet. Außer ihm eine Infusion mit Antibiotikum zu geben, kann ich nichts mehr für ihn tun. Ich kann dir nicht sagen, ob er überlebt. Den weiteren Verlauf müssen wir abwarten.« Er nahm einen Schluck Kaffee. »Im Prinzip ist es sowieso egal, ob er jetzt stirbt oder später«, fügte er mit einem resignierten Gesichtsausdruck seiner Prognose hinzu.

    »Was? Wieso sagst du so was?«

    Bryan seufzte und begann zu erklären: »Gestern Nacht, nachdem wir alle Wunden gesäubert und versorgt hatten, habe ich noch den restlichen Schmutz von seinem Körper gewaschen. Dabei habe ich etwas entdeckt. Doch es war schon zu spät, um dich zu rufen.«

    »Was entdeckt? Wovon redest du überhaupt?«

    »Komm, ich zeig es dir, dann verstehst du, was ich meine.«

    Er stand auf und drehte den bewusstlosen Indianer, der wegen seiner Verletzungen auf dem Bauch lag, vorsichtig auf die rechte Seite.

    »Sieh dir mal seine Brust an.«

    Ray schlug entsetzt die Hand vor den Mund: »Verdammt! Nein! Was machen wir denn jetzt?«

    Was ihm Bryan eben gezeigt hatte, fuhr ihm derart heftig in die Glieder, daβ er sich setzen musste. Er hatte sofort erkannt, was die tätowierte Eidechse zu bedeuten hatte. Nach dem ersten Schock flüsterte er: »Der Kerl muss weg. Schnell.«

    Einige Minuten verharrte er so, bis er mit einem beherzten Atemzug den Kopf hob und Bryan entschlossen ansah. »Wir müssen unbedingt den Sheriff benachrichtigen.«

    Bryan nickte zustimmend. Beide waren sich der gefährlichen Tatsache bewusst, daβ es sich bei diesem Indianer um einen der berüchtigten Lizard-Rebellen handeln musste.

    »Bryan, wenn die Drecksbande erfährt, daβ einer ihrer Männer hier ist, wird das keiner von uns überleben.« Panik vibrierte in seiner Stimme.

    »Wieso hast du mich nicht schon gestern Nacht informiert?«

    »Bleib ruhig, Ray! Vorerst wissen nur wir beide, daβ er ein Lizard ist. Und daβ ein verletzter Indianer hier ist, wissen auch nur einige Leute.«

    »Und was ist mit Dr. Morgan?«, fragte Ray.

    »Der hat die Tätowierung nicht gesehen. Im Übrigen fährt er gegen Mittag sowieso wieder in die Stadt zurück.«

    »Was sollen wir denn jetzt bloß machen? Lass mich nachdenken.« Ray seufzte. »Verflucht noch mal. Wären wir gestern doch bloß weitergeritten. Dann wäre dieser Kerl wahrscheinlich tot und wir hätten jetzt nicht diesen ganzen Ärger am Hals. Als Erstes werde ich losreiten und unsere Spuren verwischen. Falls die anderen Rebellen ihn suchen, werden sie sie finden und geradewegs hierhergeführt. Außerdem muss ich den Sheriff anrufen. Der ist mit Sicherheit hocherfreut über diese Nachricht. Denn soviel ich weiß, ist es der Polizei bisher noch nie gelungen, auch nur einen dieser blutrünstigen Bastarde zu fangen.« Seine Stimme verriet den Wandel seiner Angst in nüchterne Entschlossenheit.

    »Hey, Ray, genau das habe ich vorhin gemeint. Ich kämpfe hier um das Leben dieses Mannes, nur damit ihn der Sheriff in den Knast steckt und er dort wahrscheinlich nicht überlebt. Irgendwie macht das keinen Sinn.«

    »Was willst du denn sonst tun? Warten, bis er aufwacht und dir aus Dankbarkeit die Kehle durchschneidet?«, fuhr ihn Ray aufbrausend an.

    »Schon gut. Reg dich nicht so auf. Ich bin eben Arzt. Meine Aufgabe besteht nun einmal darin, Leben zu retten und zu erhalten. Wem immer es auch gehört. Etwas kommt mir bei der ganzen Sache jedoch seltsam vor. Sieh dir den Mann doch mal genau an. Er ist noch sehr jung. Höchstens Anfang zwanzig würde ich schätzen. Ich kann mir nicht vorstellen, daβ sich einer in dem Alter den Lizards anschließt. Die junge Generation kümmert sich doch kaum noch um die alten Geschichten und Traditionen. Unter den Älteren gibt es sicher noch ein paar Spinner, die das Rad der Geschichte gerne zurückdrehen würden und die den geheimen Wunsch hegen, den Weißen eins auszuwischen. Aber das sind doch nur einzelne Fanatiker.«

    »Unterschätze die Rothäute nicht, Bryan. Auch im Reservat brodelt es immer wieder. Wer weiß da schon genau, wer mit diesen Abtrünnigen unter einer Decke steckt.«

    »Du tust den Indianern unrecht. Ich bin oft im Res¹ und es gibt dort einige, die ich zu meinen Freunden zähle.«

    »Und du bist ein unverbesserlicher Optimist. Aber den Burschen, den wir uns jetzt aufgehalst haben, ist eine höchst beunruhigende Tatsache. Und er trägt diese verfluchte Eidechse auf der Brust, und das macht mir gewaltige Sorgen. Wenn ich nur daran denke, was mir Clark vor Kurzem erzählt hat … Gerade vor einigen Wochen hat diese Bande oben beim Stony Creek eine kleine Siedlung überfallen. Sie haben alles niedergebrannt. Kein einziger Bewohner hat dieses Massaker überlebt. Es wäre wirklich höchste Zeit, daβ die Polizei diesen Mistkerlen endlich das Handwerk legt. Doch bis jetzt hatten sie nicht den geringsten Erfolg. Diese verteufelten Bastarde sind ihnen jedes Mal entwischt.«

    »Eine schlimme Sache. Aber im Moment sollten wir überlegen, was das Wichtigste ist. Ich schlage vor, du reitest los, um unsere Spuren zu verwischen. Inzwischen rufe ich Sheriff Benson an und bitte ihn, herzukommen.«

    »Gut, einverstanden.«

    Ray ging zum Stall, sattelte sein Pferd und ritt den Weg zurück, auf dem sie gestern gekommen waren.

    Bryan ging in sein Büro, setzte sich an den Schreibtisch und wählte die Nummer des Sheriffs. »Hallo, Sheriff. Hier ist Dr. Cooper.«

    »Oh, hallo, Doc. Wie gehts? Was verschafft mir die Ehre?«, erkundigte er sich in jovialem Tonfall.

    »Sheriff, wir haben auf der Station einen höchst brisanten Vorfall, und ich wollte Sie bitten, möglichst schnell herzukommen.« Die Dringlichkeit in seiner Stimme ließ den Sheriff aufhorchen.

    »Was in Gottes Namen ist denn passiert?«

    »Darüber möchte ich am Telefon lieber nicht sprechen.«

    »Na, Sie machen es aber spannend, Doc. Ich werd sehen, was ich tun kann. Doch vor heute Nachmittag werde ich es wohl kaum schaffen.«

    »Schon gut, das ist in Ordnung. Also bis dann.«

    Bryan legte erleichtert den Hörer auf. Sollte doch der Sheriff entscheiden, was mit diesem Indianer weiter geschehen sollte. Er fühlte sich bei der ganzen Sache ziemlich unwohl – oder lag es auch daran, daβ er so wenig geschlafen hatte? Ein dumpfer Druck machte sich in seinem Kopf bemerkbar und seine Glieder waren bleischwer. Trotz seiner Abgespanntheit ging er noch einmal ins Krankenzimmer zurück und kontrollierte Blutdruck, Puls und Temperatur seines Patienten. Sein Zustand war immer noch äußerst kritisch, obwohl sich seine Werte etwas stabilisiert hatten. Für den Moment konnte er nichts weiter tun, und so beschloss er, sich ein bisschen Ruhe zu gönnen. Vorsichtshalber schloss er das Krankenzimmer ab, bevor er in seine kleine Wohnung ging, die direkt neben der Krankenstation lag. An der Tür der Praxis hatte er eine Notiz angebracht mit dem Hinweis, wo er bei einem Notfall zu finden war. Jetzt würde er sich erst einmal hinlegen und ausruhen.

    ¹ umgangssprachlich für Reservat

    Kapitel 3

    Gerade entlud sich ein heftiger Regenschauer über der Stadt. Sheriff Clark Benson sah aus dem vergitterten Fenster des Police Office.

    »Verdammtes Pisswetter«, fluchte er. »Ausgerechnet jetzt, da ich noch nach Rusk-Point muss, schüttet es wie aus Kübeln.« Allerdings war nicht nur das Wetter schuld an seiner gereizten Stimmung. Am Morgen hatte er einen vermeintlichen Hehler mangels Beweisen wieder auf freien Fuß setzen müssen. Solche Dinge schlugen ihm immer gewaltig aufs Gemüt. Ruhelos ging er einige Male im Büro auf und ab. Sah dann auf seine Armbanduhr. 14 Uhr 30. Erneut blickte er aus dem Fenster. Die schweren Regenwolken begannen, nach Norden abzuziehen.

    »Wird auch Zeit, daβ dieses Sauwetter endlich aufhört.« Er drehte sich um, ging zu seinem Schreibtisch und griff nach den Autoschlüsseln. »Hey, Nash, ich mach mich jetzt auf den Weg rüber zur Station«, sagte er zu seinem Deputy. Nash Taylor, ein schlaksiger junger Mann blickte von der Schreibmaschine auf, an der er sich redlich abmühte, einen Patrouillenbericht zu tippen. »In Ordnung, Sir. Ich halte hier die Stellung«, meinte er mit einem beflissenen Ausdruck auf seinem blassen Pickelgesicht. Er war froh, daβ sein Chef das Büro verließ, bevor der auf die Idee kam, seine miese Laune an ihm auszulassen.

    Sheriff Benson nahm seinen Stetson und setzte ihn vorsichtig auf, damit sich die sorgfältig mit Pomade frisierten spärlichen dunklen Haarsträhnen nicht verschoben, die er jeden Morgen mit äußerster Präzision über die kahle Kopfmitte kämmte. Schon seit geraumer Zeit versuchte er, so seinen zunehmend schütterer werdenden Haarwuchs zu kaschieren. Den Hut zog er tiefer ins Gesicht als sonst. Bestimmt hatte er wieder diese hektischen roten Flecken im Gesicht. Zum Henker damit. Jedes Mal, wenn er sich aufregte. Ihre Erscheinung war ihm höchst peinlich, verrieten sie doch jedem, in welchem gereizten Gemütszustand er sich befand. Sich darüber zu ärgern, verschlimmerte ihr Auftreten nur noch. Ein lästiges Vermächtnis seines britischen Großvaters, auch er sah bei der kleinsten Aufregung aus wie ein frisch gerupfter Truthahn.

    Als er vor die Tür des Office trat, fielen die letzten Tropfen. Sein Blick hob sich prüfend zum Himmel. Über den Hügeln am Stadtrand hing noch ein Rest blau-schwarzer Wolken. Er lebte schon lange genug in dieser Gegend, um zu wissen, daβ in kürzester Zeit die Sonne wieder hervorbrechen würde. Doch er hatte keine Zeit, darauf zu warten. Hastig eilte er zum Parkplatz. Im Übrigen schätzte er es gar nicht, wenn seine Uniform nass oder sonst irgendwie in Mitleidenschaft gezogen wurde. Schließlich war er eine Respektsperson und stets darauf bedacht, den Bürgern ein korrektes Erscheinungsbild zu präsentieren. Denn nur so hatte er die Gewissheit, ausreichend Autorität auszustrahlen.

    Bei seinem Wagen angelangt öffnete er eilig die Fahrertür. Nachdem er seine korpulente Figur hinter dem Lenkrad verstaut hatte, zündete er sich eine Zigarette an. Nachdenklich blies er den Rauch gegen die regennasse Windschutzscheibe.

    »Na dann mal los«, befahl er sich selbst, startete den Wagen und fuhr vom Parkplatz. Ein unruhiges Gefühl begleitete ihn. Viele Fragen tauchten auf und ließen ihn nicht mehr los: Warum hatte ihn der Doc angerufen und nicht Ray? Seine Stimme hatte sehr besorgt geklungen. Was war denn passiert, daβ er am Telefon nicht darüber reden wollte? In den letzten Jahren war es nur selten vorgekommen, daβ er beruflich zur Station musste. Meistens war er hingefahren, um mit Ray ein Bier zu trinken oder auf eine Partie Freundschaftspoker.

    Wie er vermutet hatte, war es der Sonne bereits auf der Hälfte seiner Wegstrecke gelungen, erneut die Oberhand über den Himmel zu gewinnen. Er musste sehr vorsichtig fahren, denn die unbefestigte Straße, die zur Station führte, war vom Regen aufgeweicht und die Schlaglöcher mit Wasser gefüllt. Erschwerend kam hinzu, daβ sein Dienstwagen nicht mehr zu den neuesten Modellen gehörte. Eigentlich war es längst überfällig, daβ ihm der Stadtrat einen neuen Dienstwagen bewilligte. War ja schon lebensgefährlich, mit dieser altersschwachen Schrottbüchse unterwegs zu sein. Wurde mal wieder Zeit, einen neuen Antrag zu stellen, beschloss er. Bestimmt schon sein fünfter innerhalb der letzten drei Jahre. Jedes Mal wurde er abgelehnt. Müssten diese Geizkragen selbst einen solchen Knochenschüttler fahren, wäre dieses leidige Thema längst vom Tisch.

    Nach der gut zweistündigen Fahrt fuhr er über die letzte Anhöhe und sah Rusk-Point wie gewohnt friedlich daliegen: die im Blockhausstil errichteten Gebäude auf der einen und die großflächigen Pferdeweiden auf der anderen Seite des Geländes. Auch hier schien es heftig geregnet zu haben. Die Straße führte nahe an den Weiden vorbei. Einige Pferde wälzten sich im frisch entstandenen Schlamm. Als er vorbeifuhr, schüttelten die Tiere ihre regennassen Mähnen und stürmten in wildem Galopp davon.

    Als er angekommen war, fuhr er auf einen der Parkplätze neben dem Hauptgebäude. Zielsicher steuerte er den kleinen Saloon an, der zwischen der Lodge und dem Informationsbüro lag. Dort würde er bestimmt irgendwen finden, der ihm sagen konnte, wo Ray oder der Doc zu finden war. Gerade als er die Stufen zum Saloon betrat, hörte er hinter sich jemanden rufen.

    »Hi, Clark. Gut, daβ du gekommen bist«, rief Ray atemlos. »Ich habe dich vom Stall aus gesehen.«

    Er war erst seit Kurzem wieder zurück und damit beschäftigt, sein Pferd abzusatteln, als er das Auto des Sheriffs gehört hatte. Da er vermeiden wollte, daβ die Anwesenheit des Sheriffs zu viel Aufsehen erregte, hatte er sich beeilt, ihn zu erwischen, bevor er den Saloon betrat.

    »Du bist ja ganz schön außer Puste, alter Junge«, begrüßte ihn der Sheriff und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Sag mal, was ist denn bei euch los? Der Doc klang so merkwürdig am Telefon«, fragte er mit der gewohnt beruflichen Neugier.

    »Na, komm mal mit. Das solltest du dir selbst ansehen. Sonst glaubst du es mir sowieso nicht.«

    Gespannt folgte der Sheriff Ray zur Krankenstation, die etwas abseits der anderen Gebäude lag. Bryan war gerade dabei, einige Krankenberichte durchzusehen, als die beiden durch die Tür traten. »Hallo, Doc, wie gehts?«, begrüßte ihn der Sheriff und nahm seinen Stetson ab.

    »Ganz gut so weit«, gab Bryan zurück. Er legte die Lesebrille zur Seite und massierte ausgiebig deren Druckstellen an der Nasenwurzel. Seit er aufgewacht war und einen starken Kaffee getrunken hatte, fühlte er sich bedeutend besser.

    »So, ihr beiden, jetzt aber raus mit der Sprache. Weshalb habt ihr mich den ganzen Weg hier rauffahren lassen?«

    Bryan verließ seinen Schreibtisch und ging mit ihnen zum Beobachtungsfenster im Vorraum. Die sonst geschlossenen Jalousien waren jetzt hochgezogen – so war es ihm möglich, das Krankenzimmer einzusehen, ohne seinen Patienten unnötig zu stören.

    »Wie gehts ihm?«, erkundigte sich Ray.

    »Sein Zustand ist immer noch sehr kritisch. Obwohl sich sein Kreislauf geringfügig stabilisiert hat.«

    Der Sheriff wurde zunehmend ungeduldiger und räusperte sich mehrmals. »Okay, ihr habt hier einen kranken Indianer liegen. Allerdings bin ich nicht hergekommen, um bei einer Rothaut einen Krankenbesuch zu machen. Also los jetzt. Kommt endlich auf den Punkt!«

    »Na gut, folgen Sie mir«, forderte ihn Bryan auf. Die Männer betraten das Krankenzimmer. Ray zwirbelte unsicher an seinem Schnurrbart. Er wusste nicht genau, wie er am besten beginnen sollte, die Umstände zu erklären.

    »Clark, dieser Bursche, den du hier siehst, ist einer der Lizard-Rebellen«, sagte er ganz direkt, um ohne Umschweife auf den Grund zu kommen, weshalb sie ihn hergerufen hatten. Für einen Augenblick starrte ihn der Sheriff ungläubig an.

    »Bist du total verrückt!?« Er warf den Kopf zurück und lachte laut auf. »Nie im Leben! Ein schlechter Scherz, oder? Wie kommst du auf diese absurde Idee? In dieser Gegend sind die Kerle noch nie aufgetaucht.«

    »Mit so etwas würde ich nicht scherzen«, entgegnete Ray ernst. »Du hast mir doch von dieser Bande mit dem Eidechsenzeichen erzählt. Wenn du mir nicht glaubst – überzeug dich selbst.« Er gab Bryan ein Zeichen und dieser schob das Laken, das den Körper des Verletzten bedeckte, zurück. Drehte den noch immer Bewusstlosen zur Seite und zeigte ihm die Eidechsentätowierung, um ihn davon zu überzeugen, daβ es keinen Zweifel gab.

    Verunsichert trat Sheriff Benson näher, um den Verletzten genauer zu betrachten. Nach wenigen Sekunden schnaubte er wütend und packte ohne die geringste Vorwarnung den Verletzten mit einem harten Griff an den Haaren, riss seinen Kopf vom Kissen und schrie ihn an: »Verdammter Bastard, mach das Maul auf. Wo sind die anderen? Rede!«

    »Hey, Sheriff, lassen Sie ihn sofort wieder los! Sehen Sie denn nicht, wie schwer verletzt er ist?«, rief Bryan entsetzt. Sein Patient stöhnte bei dieser brutalen Attacke laut auf, verlor aber kurz darauf wieder das Bewusstsein. Widerwillig löste der Sheriff seinen Griff und stieß ihn unsanft zurück aufs Bett.

    »Verfluchter Scheißkerl«, zischte er verächtlich und warf ihm einen hasserfüllten Blick zu. »Tut mir leid. Hab die Beherrschung verloren«, entschuldigte er sich, doch seiner Stimme war klar zu entnehmen, daβ er es nicht wirklich ernst meinte.

    »Kommt, ist wohl besser, wenn wir uns in meinem Büro unterhalten«, schlug Bryan vor.

    Ray legte dem Sheriff besorgt die Hand auf die Schulter und fragte: »Hey, Clark, was ist denn in dich gefahren?«

    »Wenn du schon einmal gesehen hättest, was diese verdammten Rebellen angerichtet haben, würdest du mich verstehen«, fuhr er ihn an und schnappte wütend nach Luft. »Ich war schon an Orten, die diese Drecksbande heimgesucht hat. Da stand kein Stein mehr auf dem anderen. Die Menschen, die sie gleich erschossen haben, konnten sich glücklich schätzen, daβ ihnen das erspart blieb, was sie mit den Übrigen angestellt haben. Bestialisch! Es war ihnen scheißegal, ob es sich um Kinder, Frauen oder Männer handelte. Ich könnte …«, er zeigte mit einer Kopfbewegung in Richtung des Krankenzimmers, »… diesen Hurensohn mit bloßen Händen erwürgen. Das kannst du mir glauben.«

    Mit einem verständnisvollen Nicken schob Ray den Sheriff in Bryans Büro. Sie verteilten sich auf der alten abgewetzten Polstergruppe. Bryan versorgte alle mit einer dampfenden Tasse Kaffee. Der Sheriff zündete sich in hastiger Nervosität eine Zigarette an. Ray nahm vorsichtig einen Schluck heißen Kaffee, stellte dann die Tasse hart auf den vor ihm stehenden Couchtisch zurück. Er räusperte sich, starrte einige Minuten nachdenklich auf seine staubigen Stiefel, bevor er von den gestrigen Ereignissen und den Umständen berichtete, wie und wo sie die übel zugerichtete Person gefunden hatten.

    Schweigend, nur mit gelegentlichem Kopfschütteln, hatte Sheriff Benson Rays Bericht verfolgt.

    Bryan knetete nachdenklich seine Finger, sah den Sheriff an und fragte: »Wie gefährlich sind diese Rebellen? Ich habe bis jetzt nur das gehört, was Sie und Ray mir über sie erzählt haben.«

    »Sie sind äußerst gefährlich – absolut kaltblütig. Seit über sechs Jahren treiben sie ihr Unwesen und alle Versuche, sie hinter Gitter zu bringen, sind gescheitert.«

    »Das ist doch nicht möglich.«

    »Leider doch. Tja, als alles anfing, wussten ich und die anderen Sheriffs noch nicht, wer hinter diesen Überfällen steckt. Es gab hier eine niedergebrannte Farm, dort abgefackelte Weizenfelder, einen ausgebrannten Truck am Highway und ähnliche Vorfälle in verschiedenen Distrikten. Keine Spuren, keine Zeugen, nur Leichen. Zuerst vermuteten die anderen Sheriffs und ich, es handelt sich möglicherweise um eine aggressive Rockergruppe oder irgendwelche dubiosen Racheakte. Wir tappen völlig im Dunkeln. Um keine unnötige Panik auszulösen, haben wir die Bevölkerung vorerst nicht informiert. Wir haben ja auch nichts Konkretes in der Hand. Der einzige Anhaltspunkt, den wir haben, ist, daβ bei allen Verbrechen in irgendeiner Form ein Eidechsensymbol auftaucht. Einmal in den Staub gemalt, mal mit Ruß auf einem Stück Holz, einmal sogar in die Brust einer Leiche geritzt. Immer wieder diese verdammte Eidechse. Erst vor zwei Jahren klärte sich, wer für diese Verbrechen verantwortlich war. Es fing damit an, daβ ich bei einer nächtlichen Patrouille auf der Straße Richtung Scenic einen alten besoffenen Indianer aufgelesen und zur Ausnüchterung ins Gefängnis mitgenommen habe. Am Anfang hat er nur herumgegrölt, doch dann hat er angefangen, uns zu verfluchen. Im Suff drohte er: ›Die Eidechsenkrieger werden bald alle Weißen erwischen, keiner kann Shetane und seinen Männern entkommen. Niemand wird sie aufhalten, sie haben den ehrwürdigen Pfad betreten …‹ Na ja, so in der Art. Unerklärlicherweise fand ihn mein Deputy am nächsten Morgen tot in seiner Zelle. War über Nacht einfach abgekratzt. Einige Wochen später, als ich wieder zu einer der heimgesuchten Farmen gerufen wurde, fanden wir einen Mann, der zwar schwer verletzt war, aber noch lebte. Mit letzter Kraft stammelte er etwas von Indianern auf Pferden, halb nackt mit tätowierten Eidechsen auf der Brust, die im Morgengrauen seine Farm überfallen, seine Familie getötet und alles zerstört hätten.

    Kurze Zeit später war auch er tot.«

    Sheriff Benson seufzte, holte tief Luft und fuhr dann fort: »Mit der Aussage eines sterbenden Farmers und den Worten des alten Säufers im Delirium fing ich also an, mir langsam ein Bild davon zu machen, was wirklich dahintersteckte. Ziemlich dürftige und nicht gerade glaubhafte Informationen. Ich übergab die ganze Sache der Stammespolizei. Sollten die im Reservat erst einmal nachforschen. Leider ergebnislos. Das Einzige, was wir übereinstimmend vermuteten, war, daβ diese Rebellen ihr Versteck irgendwo in den Wirren der Badlands haben müssen. Doch da gibt es so viele Schlupfwinkel und Verstecke, sie dort aufzuspüren, ist, wie die verflixte Nadel im Heuhaufen zu finden. Trotzdem haben wir speziell ausgebildete Suchmannschaften losgeschickt. Nichts. Selbst Helikoptereinsätze blieben ohne den geringsten Erfolg. Zeitweise war monatelang Ruhe. Doch plötzlich gingen diese mörderischen Überfälle wieder los, und immer dort, wo wir sie am wenigsten erwarteten. Es ist ein absolut beschissenes Gefühl, hinter mordenden Phantomen herzujagen, das könnt ihr mir glauben. Und jetzt kommt ihr und legt mir einen dieser Mörder vor die Füße. Verdammt noch mal. Ich will sie haben, diese verfluchte Rebellenbrut! Lange genug haben die mich jetzt zum Narren gehalten!«

    Während er erzählte, hatte sich der Sheriff in eine derartige Rage hineingesteigert, daβ er nun schnaubend mit hochrotem Kopf auf dem Sofa saß. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Die Schläfen pulsierten in ohnmächtiger Wut. Erneut steckte er sich eine Zigarette an.

    Bryan stand auf und öffnete das Fenster, um die immer stickiger werdende Luft nach draußen zu entlassen. Ray, der die ganze Zeit still zusammengesunken auf seinem Sessel zugehört hatte, richtete sich auf und bemerkte entschlossen: »Jetzt gilt es, auf jeden Fall einen klaren Kopf zu bewahren. Das weitere Vorgehen muss genau durchdacht sein.«

    Benson nickte zustimmend. Etwas ruhiger geworden meinte er: »Dieser Shetane, vermutlich der Kopf der Bande, ist ein ganz gerissener Hund. Überall scheint er seine Spitzel und Informanten zu haben. Sonst hätten wir dieses verfluchte Pack schon längst geschnappt. Allerdings befürchte ich, wenn ich den Burschen da drüben in ein Krankenhaus oder ins Gefängnis bringen lasse, wird es nicht lange dauern, bis Shetane davon erfährt. Wir müssen äußerst vorsichtig vorgehen. Wer außer euch beiden weiß denn sonst noch, daβ dieser Kerl hier ist?«

    »Nur wir drei«, antwortete Ray und fuhr sich mit der Hand nachdenklich übers Kinn. »Aber etwas stört mich gewaltig.«

    »Was?«

    »Weshalb redest du immer von WIR? Es ist doch jetzt wohl deine Sache, dich weiter um diesen Kerl zu kümmern«, stellte Ray fest. Seine Erleichterung darüber, die Verantwortung nun dem Sheriff übergeben zu können, war ihm deutlich anzumerken. Dieser kratzte sich verlegen am Kopf. »Na ja, nicht ganz«, meinte er nach einer kurzen Pause. »Ich habe da eine Idee. Allerdings brauche ich dafür eure Unterstützung. Das Beste wäre …«, er räusperte sich ausgiebig, »ihr könntet den Indianer hierbehalten.«

    »Was …? Bist du verrückt?«, fiel ihm Ray ungehalten ins Wort.

    Mit einer besänftigenden Geste fuhr der Sheriff fort: »So wäre das Risiko aber am geringsten, daβ die Rebellen herausfinden, wo ihr Komplize steckt. Du hast ja schon gut vorausgedacht, als du eure Spuren beseitigt hast.«

    Energisch schüttelte Ray den Kopf. »Das ist nicht dein Ernst, Clark? Du kannst nicht von uns erwarten, daβ wir einen dieser Rebellen hier verstecken!«, meinte er entrüstet. »Nein! Auf gar keinen Fall! Hast du komplett den Verstand verloren?«

    »Ich kann deine Bedenken ja verstehen«, versuchte der Sheriff erneut, ihn zu beruhigen. »Aber überleg doch mal. Wenn es uns gelingt, diesen Kerl hier zum Reden zu bringen, und die anderen Lizards nichts davon wissen, daβ wir einen ihrer Leute lebendig erwischt haben … Dann hätte ich endlich die Chance, auf die ich schon so lange gewartet habe. Was meinen Sie, Doc? Wann wird er so weit sein, daβ ich ihn mir vorknöpfen kann?«

    »Zunächst ist nicht sicher, ob er überhaupt überlebt, und es stellt sich die Frage, ob er dann bereit wäre, mit Ihnen zu sprechen.«

    »Das lassen Sie nur meine Sorge sein, Doc. Ich krieg den Burschen zum Reden, darauf können Sie sich verlassen. So eine Gelegenheit, daβ diese verdammte Bande endlich ihre gerechte Strafe bekommt, lasse ich mir nicht entgehen.«

    »Wie stellst du dir die ganze Sache eigentlich vor?«, wollte Ray wissen. »Sollen wir abwechselnd Wache schieben? Der Kerl wird mit Sicherheit nicht freiwillig hierbleiben.«

    »Also, mein Plan sieht folgendermaßen aus. Bryan, Sie können doch Ihre anderen Patienten auch im Behandlungsraum verarzten.« Ohne die Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Also brauchen Sie das Krankenzimmer nicht unbedingt. Daher schlage ich vor: Das Fenster wird vergittert und an die Tür lassen wir ein elektronisches Sicherheitsschloss mit Nummerncode anbringen. Außerdem werde ich euch abwechselnd einen meiner zuverlässigsten Männer zur Bewachung schicken, rund um die Uhr.«

    »Jetzt machen Sie aber mal halblang, Sheriff. Sie können doch meine Krankenstation nicht einfach in ein Hochsicherheitsgefängnis umbauen«, griff Bryan empört in die Pläne des Sheriffs ein.

    »Lieber Doktor«, versuchte der Sheriff, ihn schmeichelnd für seine Strategie zu gewinnen, »ich verstehe durchaus, daβ es ein sehr ungewöhnlicher Vorschlag ist. Doch wenn wir es tatsächlich schaffen, diesen Killer dazu zu bringen, uns das Versteck der anderen zu verraten, und wir so dieses Rebellenpack schnappen, dann würden damit eine Menge Menschenleben gerettet werden und ich könnte endlich wieder ruhig schlafen.«

    Ray blickte zu Bryan, auf dessen Stirn sich nachdenkliche Falten zeigten. Die Argumente des Sheriffs waren einleuchtend und doch blieb ein großes Risiko, wenn sie einwilligten. »Du stellst uns hier vor eine schwere Entscheidung.« Unschlüssig fuhr er sich mit beiden Händen durch die Haare. »Na gut«, meinte Ray nach einer Weile des Abwägens. »Unter einer Bedingung bin ich einverstanden. Gibt es auch nur das geringste Anzeichen, daβ die Menschen in Rusk-Point auf irgendeine Weise in Gefahr sind, bringst du diesen Kerl sofort von hier weg«, forderte er.

    »Darauf gebe ich dir mein Wort. Ich weiß eure Unterstützung wirklich zu schätzen. Morgen früh werde ich euch den Wachposten schicken, und wegen der Handwerker rufe ich noch an. Ich muss jetzt wieder zurück. Heute Abend habe ich noch eine wichtige Besprechung. Vielen Dank noch mal für eure Hilfe. Okay, dann machts gut.« Im Gehen wandte er sich noch einmal um: »Hey, Doc, sehen Sie zu, daβ dieser Scheißkerl nicht vorzeitig abkratzt.«

    Bryan wollte noch etwas erwidern, doch der Sheriff war schon aus der Tür.

    Kapitel 4

    Bereits am frühen Morgen traf wie angekündigt der Officer ein, den der Sheriff zur Bewachung abkommandiert hatte. Dienstbeflissen bezog er sofort Posten im Vorraum der Krankenstation.

    Zwei Tage später kamen die Handwerker. Sie montierten ein stabiles Eisengitter vor das äußere Fenster des Krankenzimmers. An der Tür wurde das angekündigte Sicherheitssystem installiert. Der Sheriff schien die Situation wirklich sehr ernst zu nehmen.

    Für die Zeit, in denen die Männer bei der Arbeit waren, hatte Bryan den Verletzten nach nebenan ins Behandlungszimmer gebracht. Zum einen, weil er nicht wollte, daβ sein Patient unnötig gestört wurde. Vor allem aber, weil er vermeiden wollte, daβ Fremde ihn zu Gesicht bekamen.

    Am Abend, als die Handwerker ihre Arbeit beendet hatten und gegangen waren, brachte er ihn wieder zurück. Nachdem er seinen Zustand kontrolliert hatte, löschte er alle Lichter, bis auf eine kleine Lampe oberhalb des Bettes. Er hatte sich bereits zum Gehen umgewandt, als er bemerkte, wie sein Patient unruhig wurde. Aufmerksam setzte er sich ans Bett und beobachtete ihn. Der Mann bewegte den Kopf und stöhnte. Das Gesicht vor Schmerz verzerrt. Nach mehreren Versuchen gelang es ihm, langsam die Augen zu öffnen. Er sah Bryan an und es war offensichtlich, wie schwer es ihm fiel, die Lider offen zu halten. Dieser Blick hielt nur wenige Sekunden. Fiebrig glänzende Augen verwirrt und voller Angst. Der Atem des Verletzten beschleunigte sich, seine Lider zitterten, bevor sie sich ermattet schlossen. Es war nur ein kurzer Moment gewesen, in dem sich ihre Blicke begegnet waren, doch er genügte Bryan, um die körperlichen Qualen dieses Mannes zu erahnen. Er nahm seine Hand: »Schon gut. Ganz ruhig«, redete er ihm mit gedämpfter Stimme zu. Kaum spürbar erwiderte der Mann seinen Händedruck, bevor er entkräftet einschlief. Bryan fühlte sich aufgewühlt. Im Innersten seines Selbst zerrissen. Eine unerklärliche Sympathie für diesen Menschen stieg in ihm auf. Was sollte nur weiter mit diesem Mann geschehen? Die Vorstellung, daβ er schon bald lebenslänglich hinter Gittern landen sollte, bedrückte ihn. Und doch, er musste verurteilt werden. Er war ein Verbrecher, ein Mörder. Seufzend schüttelte er den Kopf, so, als könnte er damit seine Gedanken verscheuchen. Doch das Schicksal dieses Mannes ging ihm näher, als er sich eingestehen wollte. Er stand auf, öffnete mit dem Nummerncode die Tür und verließ das Zimmer.

    Eigentlich wollte er noch einen Artikel in einer Fachzeitschrift lesen. Aber jetzt entschied er, stattdessen im Saloon noch einen Drink zu nehmen, um auf andere Gedanken zu kommen.

    Es herrschte eine ausgelassene Stimmung, als er den Saloon betrat. Einige der Parkranger waren nach einer zweiwöchigen Tour mit einem Geologenteam eben erst zurückgekommen. Laut und ausgelassen feierten sie ihre Rückkehr. Bryan nickte ihnen zur Begrüßung kurz zu und setzte sich an die Bar.

    »Hallo, Bryan, was darfs sein?«, begrüßte ihn Sue mit einem strahlenden Lächeln.

    »Gib mir bitte einen doppelten Scotch.«

    »Kommt sofort. Was ist denn mit dir los?«, ihre Stimme klang besorgt. »Du wirkst so niedergeschlagen.« Sie stellte ihm mit fragendem Blick das gefüllte Glas auf den Tresen.

    »Ist schon okay, Sue. Der Ausflug in die Badlands hat mich wohl etwas mehr angestrengt, als ich erwartet habe, bin halt auch nicht mehr der Jüngste.« Er lächelte sie an und fragte: »Wo steckt denn dein Mann?«

    »Ray sitzt drüben bei Conchita in der Küche und lässt sich alte indianische Geschichten erzählen.«

    »Ich werde mich auch ein bisschen zu ihnen setzen. Vielleicht schau ich später noch mal vorbei.«

    Er nahm sein Glas und ging nach nebenan in die Küche. Ray saß am großen Küchentisch. Vor sich eine Tasse Tee und ein gewaltiges Stück Apfelkuchen. Er unterhielt sich angeregt mit Conchita, die nebenbei einen Kuchenteig knetete. Beide waren so in ihr Gespräch vertieft, daβ sie ihn gar nicht bemerkten. Die Küche war für Bryan schon immer ein besonders anziehender gemütlicher Ort gewesen. Heute durchzog ihn zudem noch ein verführerischer Kuchenduft. Dieser verlockenden Einladung konnte er nicht widerstehen.

    »Hallo, ihr beiden«, begrüßte er sie.

    »Hi, Bryan, komm setz dich.«

    »Guten Abend, Doc. Willst du auch ein Stück Kuchen?«, fragte Conchita mit einem freundlichen Lächeln auf ihrem runden braunen Gesicht.

    »Ja gern«, antwortete er und schmunzelte. Jeder wusste ihre Koch- und Backkünste zu schätzen, und sie war stolz darauf, wenn alle satt und zufrieden waren. Manchmal meinte sie es zwar fast zu gut, aber wer konnte ihr das schon verübeln? Sie kochte, backte und aß nun einmal für ihr Leben gern. Was man ihrer rundlichen Figur allerdings auch deutlich ansah. Alle mochten die füllige, herzliche, indianische Köchin.

    Sie lebte und arbeitete schon seit Jahren auf der Station. Davor hatte sie, nachdem sie ihren Mann und ihren Sohn verloren hatte, als

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