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Kira
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eBook289 Seiten4 Stunden

Kira

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Über dieses E-Book

Auf einer Bergwanderung treffen Kira, ihre Tochter Tanja und Kiras älteste Freundin Barbara auf die zwei Freunde Stefan und Bernd. Nach der Wandertour meldet sich der spirituell geprägte Stefan bei der bodenständigen Allgäuerin Kira, um sie wiederzusehen. Trotz einiger weltanschaulicher Differenzen beginnt eine romantische Liebesgeschichte, die durch verschiedene Schwierigkeiten und prägende Familiengeheimnisse, anders als erwartet, gestärkt wird. 
Nach fünf erlebnisreichen und harmonischen Jahren, tritt 2020 die Pandemie in ihr Leben. Kira muss sich mit den immer extremer werdenden Ansichten Stefans auseinandersetzen. Dieser ist anfänglich davon überzeugt, dass das Coronavirus nicht existiere und die Impfstoffe gefährlich seien.  Seine Haltung entfremdet ihn von den Freunden und allmählich auch von Kira. Wird Kiras und Stefans Liebesbeziehung die Pandemie überleben? 

„Kira” ist ein moderner zeitkritischer Roman, deren Figuren in teils drastischen Facetten aufzeigen, wie die Spaltung der Gesellschaft durch Corona entstand und wie tief sie in die Beziehungen eingreifen kann.  Durch seinen mitreißenden Stil liest er sich fließend und die Spannung, wie Kiras und Stefans Liebesgeschichte endet, bleibt bis zur letzten Szene erhalten.

Wolfgang Schulz wurde 1944 in Markgröningen als jüngstes von sechs Kindern geboren. Hunger, Angst und Gewalt durch den Stiefvater prägten die Kindheit. Mit neun Jahren kam er in ein Heim für verwahrloste und schwererziehbare Kinder. Wolfgang Schulz lernte das Fliesenlegerhandwerk und gelangte danach über den zweiten Bildungsweg zur Hochschulreife. Er studierte Deutsch und Geschichte, doch seine politischen Ansichten führten zum Berufsverbot für den Lehrberuf. Danach lernte er Werkzeugmacher, wurde aber aufgrund seiner politischen Aktivitäten entlassen. Es folgten Tätigkeiten als Koch, selbständiger Fliesenlegermeister und zuletzt Berufsschullehrer. Er ist Mitbegründer von „ATTAC“, dem Netzwerk für ein bedingungsloses Grundeinkommen, der Partei WASG, des Sozialforums Pforzheim und der Bürgerbewegung für eine sozialere und demokratischere Stadt „Wir-in-Pforzheim“ WiP, für die er zehn Jahre im Stadtrat aktiv war. 
 
SpracheDeutsch
HerausgeberEuropa Edizioni
Erscheinungsdatum31. Okt. 2022
ISBN9791220133647
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    Buchvorschau

    Kira - Wolfgang Schulz

    1 Am Ende des Weges

    Der schlanke hochgewachsene Mann mied den großen Parkplatz am Bahnhof Röthenbach und parkte in einer befahrenen Straße einige hundert Meter vom Bahnhof entfernt. Sollte sein Vorhaben gelingen, durfte sein Volvo nicht zu früh geortet werden. Dann nahm er den nächsten Zug nach Oberstaufen. In der mittäglichen Novembersonne begrub die kristallglitzernde Schneedecke die zahlreichen Hügel zwischen Röthenbach und Oberstaufen unter sich und ließ sie noch sanfter erscheinen, als in den Sommermonaten. Wie immer zu Beginn der Skisaison war das sündige Dorf, wie man Oberstaufen auf den umliegenden Bauernhöfen spöttisch nannte, voller Touristen. Sein Blick schweifte über den Bahnhofsvorplatz und fiel auf den Seelekopf, das Ziel seines Vorhabens. Fasziniert hielt er inne. Durch kein Wölkchen getrübt, tauchte die nächmittägliche Sonne die Gipfel der Nagelfluhkette, allen voran der mächtige Hochgrat in ein gleißend blendendes Weiß. Er wollte so wenig wie möglich gesehen werden, verzichtete deshalb auf seinen gewohnten Kaffee und stieg in den wartenden Hochgratbus. Die letzten zwei Nächte hatte er in einem der zahlreichen Heuschober des Allgäus geschlafen, denn als Ungeimpfter wäre er in keinem Hotel oder Gasthof aufgenommen worden. Die Kälte der feuchten Hütte und die Vorkommnisse der vergangenen Woche hatten ihn kaum schlafen lassen. Stefan war todmüde, doch das kam seinem Vorhaben entgegen. Der Bus erreichte die Talstation der Hochgrat Bergbahn. Auf das „Sie wollen jetzt noch auf den Grat?" der Kassiererin nickte er nur und lief rasch zu den Gondeln, um weiteren Fragen auszuweichen. Während unten im Tal sich Häuser und Autos in Spielzeuge verwandelten, überschwemmten ihn die Bilder und Ereignisse der letzten Wochen. Hatte die Bergfahrt bei früheren Fahrten in ihm Erhabenheit ausgelöst, entsetzte sie ihn in diesem Augenblick. Es war ein Abschied. Endgültig, unwiderruflich.

    Die Sonne stand bereits im Westen, wo er den Bodensee vermutete. Der blieb jedoch unter seinem berüchtigten Nebelschleier verborgen. Stefan wollte vor Einbruch der Dunkelheit an seinem Ziel sein und beeilte sich.

    Was er befürchtet hatte, traf nicht ein. Der Gratweg zum Falken war nur wenig verschneit. Ein Schild lud zur Einkehr in die Bergstation ein. Doch er las auch hier: Nur für Geimpfte oder Getestete, fluchte, und unterdrückte die Lust auf einen Kaffee, und wenige Minuten später ebenso den Wunsch, noch einmal im erinnerungsträchtigen Staufnerhaus einzukehren. Er durfte nicht gesehen werden, sollte sein Plan aufgehen. Der Weg vom Hochgrat zum Hochhädrich schien sein Schicksalsweg. Auf ihm hatte er alles erlebt, von jubelnden Höhen bis in die schmerzlichsten Tiefen. Und, es war Kiras liebste Bergstrecke. Nicht nur weil der Pfad phantastische Ausblicke in die südlichen Alpen und in das nördliche Unterland bot. Fünf Jahre zuvor, es war die Zeit der ersten Wahl Trumps, hatten sie sich auf diesem Weg kennengelernt.

    Im Tal sah er die alten Bauernhäuser mit ihren rostbraunen Dächern, deren Fassaden oft mit pastellfarbenen Schindeln verkleidet waren. Bei manchen fehlte die schützende Farbe, und die Schindeln waren ausgetrocknet und rissig. An ihrem Zustand könne man ablesen, wie weit der Bauer körperlich oder finanziell noch in der Lage war, seinen Hof zu erhalten, hatte Kira auf einer sommerlichen Wanderung behauptet. Ähnliches gelte auch für die Bäuerin und ihren Kräuter- und Blumengarten am Hof und mehr noch für die Blumenkästen vor den Fenstern. „An diesen Blumenkästen erkenne ich, ob auf diesem Hof noch eine glückliche Familie lebt, hatte sie gesagt und traurig hinzugefügt: „Als meine Mama noch lebte, war unser Garten ein blühendes Paradies an Margariten, Gladiolen, Astern, Lavendel, Dahlien und vor allem ihren Lieblingsblumen, die Löwenmäulchen! Der Gedanke an Kira machte ihn traurig. Wie schön könnte diese Welt sein! hatte er oft geseufzt, seit das Coronavirus und die Politik der Regierung das gesellschaftliche Leben bis in die Familien hinein dominierte und die Impffrage die Menschen zerriss. 

    Der im Sommer stark frequentierte Weg lag sonnig und verlassen vor ihm. In den letzten Tagen war wenig Schnee gefallen, und einige Schneewanderer hatten verwehte, aber noch erkennbare Spuren hinterlassen. Noch schien die Sonne, in gut einer Stunde würde sie untergehen und die Dämmerung hereinbrechen. Er kam gut voran, obwohl er sich wieder und wieder in quälende Erinnerungen verlor, die seine Konzentration auf den Weg beeinträchtigten. An einer nur leicht abschüssigen schattigen Engstelle blieb er in einem tiefen Fußstapfen stecken und stürzte. Sein Körper knickte zu Seite und sein Kopf hing verdammt nah am nördlichen Steilhang. In panischer Angst krallte er sich in den Schnee und zog sich langsam, jede heftige Bewegung vermeidend, auf den Pfad zurück. Erst nachdem das harte Schlagen seines Herzens nachließ und sein Atem sich beruhigte, setzte er den Weg fort. Den widerstreitenden Stimmen und Gefühlen versuchte er durch verstärkte Konzentration auf den Weg Herr zu werden, aber es gelang ihm nicht.

    „Du hast Angst vor dem Tod, höhnte eine innere Stimme, „und du willst…. „Ich will vor allem bis an mein Ende selbst bestimmen, wie ich lebe oder sterbe. Vor allem will ich nicht abstürzen und als Krüppel weiterleben!" Mit diesem laut gesprochenen Satz brachte er die Stimme zum Schweigen.

    Durch den Sturz war seine Kleidung feucht geworden. Zwar fror er nicht, doch seine Stimmung, bis dahin mehr durch die schmerzlichen Erinnerungen, als durch die Müdigkeit geprägt, verschlechterte sich zusehends. Er sah an sich hinab und lachte sarkastisch. Mit diesen Jeans und den leichten Wanderschuhen in die winterlichen Berge zu gehen, war Irrsinn! Aber bei dem unfreiwilligen Abschied hatte er noch nicht gewusst, wohin ihn sein Weg führen würde. Die Entscheidung war erst danach, von Stunde zu Stunde gereift. In ähnlicher Weise wie er zuvor Monat um Monat, und Mensch um Mensch, den eigenen Sohn und schließlich seine große Liebe verloren hatte. Das war vor zwei Tagen.

    Kiras zornige Worte hatten jede Hoffnung auf Rettung zertrümmert. Der Konflikt dauerte nun fast zwei Jahre: „Ich kann deine ganzen pseudopolitischen Prophezeiungen, diese dubiosen Prognosen, was morgen oder in Kürze alles Herrliche oder Schreckliche geschehen wird, diese unbegreiflichen und unglaublichen Behauptungen was schon geschehen sei, nicht mehr hören! Ich kann und will nicht glauben, dass Hunderttausend Mediziner und Wissenschaftler schweigen würden, wenn der Impfstoff so schädlich wäre, wie du glaubst. Nein, nicht glaubst, nicht befürchtest, nicht ahnst. Nein! du, du! du w e i ß t ja alles! Ich will nichts mehr von einem nebulösen Deep State hören! Warum nennt ihr nicht einfach die Verbrecher, die die Völker erpressen und plündern, beim Namen? Nein, Stefan, ich kann und will nichts mehr davon hören!" Wenige Tage nach diesem Wortwechsel, der das Zerwürfnis angekündigt hatte, geschah das bisher Undenkbare. Nach einem schrecklichen Streit in Tanjas Familie hatte Kira ihn mit leiser, aber fester Stimme gebeten zu gehen, sie habe keine Kraft mehr, sich mit ihm auseinander zu setzen. Sie habe Angst um ihn, die angesichts seiner Entwicklung unerträglich geworden sei. Stumm war er gegangen. Bis zu dieser Katastrophe hatte Stefan die bedrückende Entwicklung unter den Menschen ertragen. Doch von Woche zu Woche litt er mehr unter der Entfremdung, die eine durch Verunsicherung, Angst und Aggression verursachte Distanzierung und Anfeindung, selbst unter Freunden, erzeugt hatte. Die Kündigung im Buchladen, nach mehr als zwanzigjähriger Betriebszugehörigkeit, schien ihm bedeutungslos, angesichts der Nackenschläge, die ihm sein alter und einziger Freund und auch sein Sohn verpasst hatten. Für den Freund war der Impfgegner ein `Vollidiot`, für den fanatisch gewordenen Sohn, ein `Verräter`, der die `Vergiftung unserer Kinder durch den Impfstoff` nicht wahrhaben wollte.

    Mit diesen Gedanken erreichte Stefan sein Ziel, den großen überhängenden Felsen am Seelenkopf, unter dessen kühlen Schatten er vor fünf Jahren bei einem unvergesslichen Picknick Kira, deren Tochter Tanja und Kiras Freundin Barbara kennengelernt hatte. Mit Bitterkeit dachte er an Bernd, dessen jovialem Witz und Draufgängertum er dieses überraschende Picknick zu verdanken hatte.

    Im Windschatten des mächtigen Felsbrockens lag nur wenig Schnee. Die Sonne war hinter den schartigen Baumwipfeln einer Fichtenkette verschwunden, die ihn in ihrer dunklen Silhouette an den Unterkiefer eines urzeitlichen Reptils erinnerte. Die Dämmerung breitete sich rasch aus.

    Mit vorbeikommenden Wanderern war nicht mehr zu rechnen. Also musste er sich nicht verstecken. An dem windgeschützten Platz zwischen einem Kieferstamm und dem Felsen, an dem er zum ersten Mal in Kiras Augen blickte, wählte er sein notdürftiges Lager. Unfassbar! In der Nische leuchtete ein farbiger Fleck: eine kleine blassviolette Herbstzeitlose klammerte sich in der dürftigen Erde noch an das Leben. Mit klammen Händen scharrte er Erde zusammen und häufte sie als schützenden Ring um die kleine Blume. Leb wenigsten du, dachte er und lächelte.

    Der Wind war abgeflaut. Nur der hohe, dünne Ton des Tinnitus in seinem linken Ohr störte die friedliche Stille der hereinbrechenden Nacht. Wie schön Stille sein kann, dachte er und wie grausam, wenn man auf ein erlösendes Wort hofft. Das musste er nach Kiras verzweifelter Klage bitter erfahren.

    Er begann zu frieren. Behutsam holte er seinen wertvollen Schatz, eine schlanke Flasche, aus dem kleinen Rucksack, betrachtete lächelnd das Etikett, auf dem in vollem Widerspruch ein blühender Zwetschgenbaum mit einer vollreifen Zwetschge um die Aufmerksamkeit des Käufers wetteiferten. Der Schnaps brannte wie Feuer in seiner Kehle. Er wärmte ihn. Er war bereit.

    2

    Zwei „arme Mädchen"

    „Ich muss in die Berge! Ich muss raus! Notfalls gehe ich auch alleine!" rief ich ins Telefon und Barbara, meine beste Freundin, feixte: „Das ist wieder mal typisch Kira! Ruft dich der Berg oder fällt dir wieder mal die Decke auf den Kopf? Übermorgen ist Samstag, da hätte ich Zeit und

    Lust! Also, willst du?"

    „Und ob ich will! Abgemacht! Wohin gehen wir?"

    Ohne Zögern kam Barbaras Vorschlag: „Ich würde gerne mal wieder auf den Hochgrat, und dann im Staufnerhaus einkehren. Einverstanden? Wo starten wir?" fragte sie.

    „In Steibis. Wir gondeln mit der Imbergbahn hoch, fahren mit dem Shuttlebus bis zur Hörmoosalpe und laufen von dort zur Falkenhütte."

    „Shuttlebus? Kira! Spinnst du jetzt? Auf keinen Fall – wir laufen!"

    „Barbara, das können wir doch am Samstag direkt vor Ort entscheiden. Ich meine, allein der Anstieg auf den Falken und dann auf dem Grat zum Hochgrat ist nicht ohne.

    Oder?"

    „In Ordnung, meine Liebe. Ich hole dich Samstag früh um fünf Uhr ab. Ihr Schmunzeln konnte ich mir bildhaft vorstellen. „Okay, spöttelte ich mit ernster Stimme zurück, „die erste Gondel fährt um acht. Dann haben wir für die 25 Kilometer Anfahrt nach Steibis drei Stunden Zeit. Das müsste reichen." Mit keinem anderen Menschen konnte ich so herzlich lachen, wie mit Barbara. Als hätte sie meine

    Gedanken erraten sprach sie es aus: „Kira, es ist so schön mit dir zu lachen! Also ich hole dich Viertel nach Sieben ab. Ich freue mich riesig!"

    „Ich freue mich auch! Dann bis Samstag. Ciao Bella! Schon wollte ich auflegen, da fiel mir ein, dass Barbara ein wichtiges Date hatte. „Stopp, brüllte ich, „bleib noch dran! Frage: Was macht deine Liebe? Hat er sich gemeldet?"

    „Ach Kira, schön, dass du fragst. Ja, er hat sich gemeldet."

    „Ja – und?"

    „Ich habe ihn zum Teufel gejagt."

    „Warum?"

    Sie seufzte. „Ich habe erfahren, dass er verheiratet ist. „Armes Mädchen, sagte ich, „das tut mir wirklich leid. Wollen wir heute Abend ein Gläschen trinken?" „Schade, das geht leider nicht. Ich hab am Abend eine Klientin, deren Mann sich nach dreißig Jahre Ehe scheiden lassen will und die eine psychotherapeutische Hilfe braucht. Lass uns Samstag beim Wandern plaudern.

    Okay?"

    Barbara war seit Wochen heiß verliebt. Der Mann schien wirklich seriös und sah so blendend aus, dass ich meiner Freundin nach dem ersten Treffen ins Ohr flüsterte: „Den würde ich gerne nehmen, wenn du ihn satthast!" Leider hatte er an den Wochenenden selten Zeit. Jetzt wusste sie weshalb. Konsequent hatte sie unser Dogma umgesetzt: Niemals mit einem verheirateten Mann! Armes Mädchen, dachte ich traurig. Auch Barbara war bald fünfzig und hatte ebenso wie ich den Wunsch nach einer lebendigen und harmonischen Partnerschaft. Häufig blieben wir abends nach einem intensiven Gespräch zusammen, nur um am Morgen gemeinsam mit einem vertrauten Menschen aufzuwachen und fröhlich plaudernd zu frühstücken.

    Kaum hatte ich die Gedanken um meine Freundin beendet, klingelte erneut das Telefon. Es war meine Tochter. Mit ihren langen blonden Haaren, ihren blaugrünen Augen und ihrem ebenmäßig schönen Gesicht war Tanja unbestritten eine Schönheit und mein ganzer Stolz. Ihr offenes, freundliches Wesen und ihr klarer Verstand hatten sie früh zur beliebten Stationsleiterin im Krankenhaus gemacht.

    Sie weinte herzzerreißend. Wieder erfuhr ich, dass eine Partnerschaft zerbrach. Drei Jahre quälte sie sich schon in der anstrengenden Beziehung mit Marc. Anfänglich fand ich den jungen Arzt überaus sympathisch und Barbara hatte ihn „attraktiv wie den jungen Rock Hudson" beschrieben. Der schwarzhaarige Sohn des Chefarztes hatte lange um Tanja gebuhlt, und Tanja hatte den Schönling erhört, obwohl dieser noch mit einer Kollegin verlobt war. Allerdings hatte das schöne Bild des Traummannes bald gelitten, nachdem mir die hochschwangere Tanja gestand, dass er eigentlich kein Kind wolle. Dennoch zogen sie zusammen, ehe die kleine Sophie geboren wurde. Leider begann er danach, ihr jeden Cent vorzurechnen. Klar, ein Krankenhausarzt verdient zwar nicht übermäßig viel, aber doch genug zum Leben, sagte ich mir. Bald hatte Marc, wenn ich mit Barbara über ihn sprach, einen Spitznamen: der `Erbsenzähler`. Und als wäre dieses Ärgernis nicht genug, entwickelte er einen peniblen Ordnungs- und Reinlichkeitszwang, der dem freiheitsliebenden und dem oft mehr als lässigen Charakter meiner einzigen Tochter völlig widerstrebte. `Mach ich es heute nicht, mach ich es halt morgen`, war eher ihre Verhaltensmaxime. Na ja, liebe Kira, dachte ich oft und sarkastisch: Man muss Kinder gar nicht erziehen – sie machen einem sowieso alles nach! Ich war nicht viel besser.

    „Tanja, was ist denn passiert?"

    „Ach Mama! Es hat am Morgen schon mit einer dummen Kleinigkeit angefangen. Du weißt ja: Marc ist sehr eitel. Sein Haar muss immer picobello gescheitelt sein, kein Härchen darf auf der falschen Seite liegen. Beim Frühstück habe ich aus Spaß seine Haare verstrubbelt. Du kannst dir nicht vorstellen wie sauer der war. Es hat das Frühstück abgebrochen, ging ins Bad, frisierte sich neu und ging ohne Abschiedsgruß zur Arbeit. Am Abend haben wir uns dann fürchterlich gestritten. Ich wollte am Wochenende unbedingt wieder mal mit ihm tanzen gehen. Er hatte endlich einige dienstfreie Tage, aber partout keine Lust. Also ging ich allein. Er war sogar einverstanden, der Heuchler! Ich habe mich richtig amüsiert und ausgetobt. Es wurde etwas später und als ich ihm einen Gute-NachtKuss geben wollte, hat er sich umgedreht und mir den Rücken zu gestreckt. Am Sonntagmorgen rief dann der Typ an, mit dem ich viel getanzt und gelacht habe. Mehr war nicht, ich schwör ´s dir! Der Teufel weiß, woher der Mensch meine Nummer hatte. Die Szene, die Marc mir dann machte, will ich dir nicht beschreiben. Es ist aus! Ich bin keine Schlampe! Ich…"

    „Stopp, rief ich, „hat er dich wirklich eine Schlampe genannt?

    „Nein, nicht direkt. Aber ich wäre schlampig, flatterhaft und… und …und … Es ist aus!" wiederholte sie energisch.

    „Tanja, bitte halte kurz inne. Nur zum Verständnis: Wenn er dich als Schlampe bezeichnet hätte, würde er deinen Charakter und dich als ganzen Menschen verurteilen.

    Wenn er aber sagte, du seist schlampig, kritisiert er dein Verhalten, und das ist… Nun unterbrach sie mich: „Mama, das ist mir doch klar. Aber ich kann, nein, ich will nicht mehr. Ich will fröhlich sein und leben! Ich und Sophie, wir schaffen das auch alleine. Verlass dich drauf!

    „Armes Mädchen, sagte ich heute nun zum zweiten Mal zu einem geliebten Menschen, „ich mach dir einen Vorschlag… So kam es, dass wir am Samstag zu dritt in der Gondel saßen, die uns auf den Imberg brachte. 

    3

    Ein berauschendes Picknick

    Der Himmel strahlte in tiefstem Azurblau. Weit und breit kein Wölkchen. Der Besucherandrang an den Gondeln der Imbergbahn hielt sich noch in Grenzen und so hatten wir eine Kabine für uns allein und konnten unserer Freude freien Lauf lassen.

    Das Lachen mit den Beiden tat mir gut. Ich bin eher ein still schmunzelnder Typ. Tanja behauptete oft, ich sei melancholisch und seit meiner letzten Scheidung sogar manchmal depressiv. So ein Quatsch! sagte ich dann immer, fragte mich aber im Stillen, ob sie nicht doch auch ein wenig recht hatte. Ich rettete mich mit der Behauptung, dass sie eine gewisse Traurigkeit mit einer Depression verwechsle. Traurig war ich schon, wenn ich daran dachte, dass ich in zwei Beziehungen, die so schön begonnen hatten, gescheitert war. Da gibt es nichts zu beschönigen, auch wenn Barbara mich immer damit trösten wollte, dass zu allem Glück und Unglück immer zwei gehören. Kurz und gut, ich war an diesem Morgen in einer unergründlichen Stimmung zwischen Jubeln und Weinen.

    An der Bergstation entspann sich eine lebhafte Diskussion um die Frage: Laufen wir von hier aus zur Hörmoosalpe oder nehmen wir den Shuttlebus? Die Beiden waren richtig sportlich. Ohne Zweifel sportlicher als ich und plädierten für den Fußmarsch. Man hätte die beiden blonden Frauen für Mutter und Tochter halten können, eher als Tanja und mich. Was den Ausschlag für den Bus gab, weiß ich nicht. War es mein Argument, dass der einstündige Marsch auf der geteerten, oft sehr steilen Fahrstraße nichts für meine Gelenke seien, oder mein Versprechen, sollten wir den Bus nehmen, sie auf der Hörmoosalpe zu einem Cappuccino einzuladen.

    Kaum stand der Cappuccino vor uns, spöttelte Barbara: „Vielleicht sollten wir umdisponieren und uns den anstrengenden Weg zum Hochgrat ersparen und stattdessen eine gemütliche Wanderung zum Hädrich machen. Die dauert nur eine Stunde und geht bergab." Sie nippte an ihrem Kaffee und schaute mich grinsend an. Ich protestierte energisch. Irgendetwas trieb mich auf den Grat. Vielleicht mein siebter Sinn, der mich häufig vor Gefahren warnte, und mich oft, wenn ich unschlüssig zweifelte, auf den richtigen Weg geführt hatte.

    Allerdings erreichte mein Puls beim steilen Anstieg auf die Falkenhütte schwindelnde Höhen, und angesichts der beiden munter plappernd Vorauslaufenden, wurde mir leicht mulmig. Die Vorstellung, dass wir von den fast sechshundert Höhenmeter zum Hochgrat gerade mal hundertfünfzig überwunden hatten, trug das ihre dazu bei. Kurz vor der Falkenhütte, wurde der Pfad so steil, dass man Stufen eingebaut hatte.

    „Warum lachst du?" fragte Tanja. Beide waren stehen geblieben, um auf mich zu warten.

    „Wegen einer lustigen Erinnerung, sagte ich. „Im letzten Winter stieg ich hier hoch. Es lag nicht allzu viel Schnee, vielleicht dreißig oder vierzig Zentimeter. Die Fußstapfen der wenigen Vorgänger waren schon ziemlich verweht. Meter um Meter habe ich mich hochgearbeitet und ungefähr dort…, ich zeigte auf die verkrüppelte Kiefer, die sich weiter oben in den Hang schmiegte, „…kippte ich um und rutschte auf dem Hintern und auf meinem Rucksack vielleicht zehn bis fünfzehn Meter den Hang hinab. Aber es ist nichts passiert", setzte ich schnell hinzu, als ich die entsetzten Gesichter der Beiden sah.

    Obwohl ich große Lust hatte, mich in einen der einladenden Liegestühle fallen zu lassen, ein sympathisches Kennzeichen der Falkenhütte, ließen wir sie rechter Hand liegen. Das war angesichts der noch morgendlich kühlen Temperatur und der ständig wärmer werdenden Morgensonne nicht unklug.

    „Wenn wir auf dem Falken sind, machen wir eine gemütliche Frühstückspause!" ermunterte mich meine Tochter. Ich fragte mich, weshalb sie das tat? Ahnte sie mein inneres Beziehungsdilemma, das sich mit ihrer Trennung von Marc verstärkt hatte? Nahm sie mehr wahr als ich?

    Doch nach wenigen Schritten blieb sie stehen, umarmte mich und flüsterte mit einem strahlenden Lächeln: „Jetzt sind wir alle Drei allein…und frei!".

    Da wusste ich, dass sie nicht mit mir litt, sondern Alleinsein und Freiheit freudig begrüßte und ich wusste auch, dass nur ich allein war. Allein mit meiner Sehnsucht nach einer glücklichen und meiner Trauer über Tanjas gerade scheiternde und über meine gescheiterten Beziehungen. „Wir drei? wunderte ich mich und glaubte kurz sie hätte Barbara mit einbezogen. „Ja, falls du es vergessen hast: ich habe eine kleine Tochter und die heißt…? „Sophie! rief ich und stimmte in ihr Lachen ein. „Genau! rief die Freiheitskämpferin, und fügte theatralisch hinzu: „Wir werden ein unschlagbares Team sein!"

    Wenige Minuten später registrierte ich, dass Barbara nicht den Weg nach Westen, Richtung Falkenkopf ging, sondern links abzweigte, zum Eineguntgipfel. „Gehst du bewusst in diese Richtung?", rief ich ihr nach.

    Sie nickte: „Wir haben noch genug Gipfel vor uns! Ist das in Ordnung für euch?" Und ob es das war! Das ersparte mir das anstrengende Kraxeln auf dem letzten steilen Stück zum Falkengipfel. Noch wichtiger war mir, dass ich endlich Zeit fand, mit Tanja zu reden.

    „Du hast Sophie sicher bei Dagmar untergebracht. Tanja strahlte: „Ja, du weißt ja, seit Marcs Vater, dieser Frauenheld, sie verlassen hat, ist sie total vernarrt in die Kleine. Marcs Vater war Chefarzt und der Vorgesetzte von Tanja und Marc. Seit Jahren ging ihm dieser Ruf voraus. Nach deren Trennung hatten sich Tanja und Dagmar enger angefreundet.

    „Ich bin unsagbar froh, dass Sophie zwei so tolle Omis hat! Welches Kind hat das schon!?"

    „Glaubst du, dass eure Trennung endgültig ist?" Ich wusste, dass beide sehr verantwortungsbewusst waren. Deshalb ersparte ich ihr die Frage, die sich mir allerdings stark aufdrängte, ob sie sich das gut überlegt hätten.

    „Ich denke – Ja! Wir sind beide nicht mehr glücklich, nörgeln an uns herum, bis Sophie sogar manchmal weint. Sie sah meine bekümmerte Miene und nahm mich in die Arme: „Ach Mama, auch ich hab lange an die bedingungslose, unzerstörbare Liebe geglaubt. Erinnerst du dich an unser Gespräch über diesen schönen Wahn als ich schwanger war?

    Natürlich erinnerte ich mich daran. Damals hatte sich Marc endlich mit der bevorstehenden Geburt seiner Tochter nicht nur abgefunden, sondern sich offensichtlich darauf gefreut. Ihre beidseitigen Beteuerungen, dass sie sich bedingungslos lieben, brachte mich, angesichts ihrer Differenzen, sehr zum Nachdenken und lange Zeit war dieses Thema der wichtigste Teil unserer

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