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Das Grüne Kleid: Ein Heimatroman
Das Grüne Kleid: Ein Heimatroman
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eBook271 Seiten3 Stunden

Das Grüne Kleid: Ein Heimatroman

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Über dieses E-Book

Eine Geschichte rund um Liebe, Spannung, Politik und kulinarische Entdeckungen. Wie in einem Kaleidoskop spiegeln sich deutsche Zustände, gesellschaftliche Spannungen und politische Entwicklungen, angereichert mit philosophischen Gesprächen über Heimat und Globalisierung, über Freundschaften und allzu menschliche Eigenschaften. Gewürzt mit Lokalkolorit aus Düsseldorf und Berlin, westfälischem Humor und weltoffenem Herzen. Und einem Grünen Kleid als Camouflage. Denn grün ist zwar die Farbe der Natur und Erneuerung; ein Grünes Kleid kann aber auch für etwas ganz anderes stehen. Als Sepp (eigentlich Josef Kofi) Wurzbacher, Café-Bar-Betreiber in Düsseldorf, eines Morgens von ihr förmlich überrumpelt wird, ahnt er nicht, wie sehr sich sein Leben durch Loretta Da Rosa verändern wird. Es ist Liebe auf den ersten Blick – aber Loretta und Sepp verlieren sich wieder aus den Augen. Mit Hilfe von Sepps Freund Hagemann finden sie jedoch schließlich zusammen. Durch Zufall werden sie dabei auf die kriminellen Machenschaften eines dubiosen konservativen Politikers aufmerksam, den sie zusammen mit ihrem Kumpel Bergmann schließlich zum Rücktritt bringen. Zwischenzeitlich sind kritische Situationen, wie Schmierereien und ein Überfall, zu überstehen. Nach den Aufregungen treffen sie sich zu einer überraschungsvollen Urlaubswoche. Durch die Erlebnisse festigt sich ihre Freundschaft. Die politische Situation im Lande hat sie jedoch nachdenklich gemacht, so dass sich Gespräche auch um Themen wie Bodenständigkeit, Weltoffenheit und Anderssein drehen. Gemeinsame Ausflüge beflügeln ihre Ideen für ein gutes Leben. Ihre Offenheit für Veränderungen führt Loretta und Sepp schließlich zusammen an einen neuen Ort. Ihre Freundschaft ist nicht alltäglich, aber unerschütterlich. Und mindestens so ausgeprägt wie ihre Lust am Genuss und am guten Essen. Daher als Zugabe: die Rezepte der im Text angesprochenen Gerichte.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum3. Apr. 2019
ISBN9783748261858
Das Grüne Kleid: Ein Heimatroman
Autor

Gerhard Sauer

1957, Sauerländer, lebt in Berlin und der Uckermark; beruflich ist er zurzeit angestellt in einer Verwaltung in Düsseldorf. Sauer war viel im Politikbetrieb unterwegs, wo Reden und Artikel schreiben lange das tägliche Brot war. Mittlerweile schreibt er lieber Romane und Reiseberichte, sowie hin und wieder Gedichte. Erschienen sind bisher - Das Grüne Kleid – Ein Heimatroman ( 2019) - Eine Nacht. Immerhin / Kriminalroman (2021) - Der Kopf muss ab/ Kurzgeschichtensammlung (2021). Die "Unterwegsbetrachtungen - Strauße, wilde Würste und ein Dom" erscheinen im Januar 2023.

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    Buchvorschau

    Das Grüne Kleid - Gerhard Sauer

    Volltreffer

    Sepp Wurzbacher, Café-Bar-Besitzer togolesisch-bajuwarischer Abstammung, blickt erstaunt auf. Die Kaffeemaschine zischt und spritzt, doch diese Stimme, dieses fröhliche Guten Morgen! schlängelt sich sofort und intensiv durch die Geräuschkulisse von Kaffeemaschinen, vorbeifahrenden Autos, Gesprächen und Handyklingeln. Das Timbre versetzt sein Trommelfell in Schwingungen, verursacht so ein inneres Flimmern. Ein Stromschlag trifft ihn. So glaubt Sepp jedenfalls. Er kennt sie nicht. Doch ihm bleibt der Mund offenstehen. Groß, blond, mit einem Stich ins rötliche, mit einem breiten Lächeln und wehendem bunten Sommerkleid kommt sie direkt auf ihn zu. Bleibt vor der Theke stehen, schaut ihm in die Augen.

    Guten Morgen mein Schoko-Prinz, machste mir ne heiße Schokolade?

    Ihr Augenaufschlag gibt Sepp den Rest.

    Die Frau schaut sich nach einem freien Platz um und setzt sich in die Nähe des großen Fensters mit Blick auf die Straße. Omis zockeln dort mit ihren Einkaufs-Trolleys über den Gehweg, Handwerker verstopfen mit ihren Werkstattwagen die enge Straße, Muttis zwängen genervt Kinderwagen daran vorbei, Kinder toben Richtung Spielplatz – und in ihrem Kopf tobt ein Hormonsturm. Sie atmet tief durch und wartet auf…, ja auf was wartet sie eigentlich?

    Seit über dreißig Jahren, quasi seit Geburt, wehrt Sepp sich nun schon gegen Bemerkungen zu seiner Hautfarbe. Togo ist seine zweite Heimat, da sich dort sein Vater damals Hals über Kopf verliebt und Sepp das Ergebnis dieser heißen Liebesnacht geworden war. Seit zehn Jahren betreibt er jetzt schon seine Café Bar „Sepps", serviert Frühstück, eher französisch angehaucht, Kaffee und Kuchen und abends auch manchmal mediterrane Kleinigkeiten. Freundlich, aber bestimmt hatte er bisher jedem, der eine blöde oder unbedachte Bemerkung gemacht hatte, eine heftige Diskussion aufgezwängt, über Weiß und Schwarz und Farbig, über Gut und Böse, über Geschmack und Geschmäckle.

    Doch diesmal bleibt er wie vom Donner gerührt stehen, nimmt die Tasse, füllt heiße Milch ein, fügt ein Stückchen Schokolade hinzu, um sie langsam schmelzen zu lassen. Untertasse, Löffel, ein Keks. Sepp funktioniert. Wie in Trance. Langsam schmilzt die Schokolade. Und ganz langsam schmilzt Sepp dahin.

    Hagemann beobachtet seinen Freund Sepp. Wie so häufig ist er heute Morgen auf seinem Weg ins Büro kurz für Croissant und Café au lait hereingekommen. Manchmal kommt er auch später am Nachmittag zum Buch oder Zeitung lesen und Leute treffen. Und für ein Schwätzchen. Über Fußball, Politik, Wetter. Über Frauen, zum Beispiel. Nie hatte er Sepp bisher in einer festen Beziehung erlebt. Mal dies und mal das. Ein freies Vögelchen nannte Sepp sich immer. Bisher. Und jetzt das. Hagemann lächelt. Legt das Geld auf den Tisch und schlendert in den Tag.

    Sepp Wurzbacher, eigentlich Josef Kofi Wurzbacher, Café Bar Besitzer, einmeterfünfundachtzig groß, ist mit achtzig Kilo nicht durchtrainiert, aber sportlich; ein begeisterter Radfahrer, wenn auch mit zu wenig Zeit für lange Ausfahrten; gelegentlicher Jogger und Läufer; engagierter politischer Zeitgenosse und Mitorganisator für Feste und Treffpunkte im Viertel, Liebhaber schwarzer T-Shirts und gebügelter Jeans, Anhänger eines rot-weißen und eines schwarz-gelben Fußballvereins und in der Regel immer mit einem flotten Spruch am Start. Dieser Sepp Wurzbacher nimmt die heiße Schokolade und bringt sie zum Tisch. Wieder dieser Blick. Dann dieses zart dahingehauchte „Danke!". Wieder dieses Lächeln.

    Sepp kann nicht sprechen, er schnuppert, fast ein wenig auffällig. Das ist ihm egal. Er möchte ihren Duft aufnehmen, genießen, für immer speichern.

    „Hey, Bedienung! Sepp, wo bleibst du?"

    Sepp ist im Moment in einer anderen Welt, für ihn fühlt es sich an, wie eingesperrt zu sein hinter Glasscheiben, oder wie in Watte eingepackt zu sein. Da geht das Leben weiter, andere Gäste warten auf Kaffee und Brötchen, wollen zahlen, noch einen Kaffee. Sepp schüttelt sich.

    „Komme!"

    Sie schaut ihn an, grün-blaue Augen strahlen mit dem sonnigen Morgen um die Wette, eine leichte Spur der Schokolade umrandet ihren vollen Mund. „Schoko-Schnute und Schoko-Prinz", denkt Sepp und dreht sich um. Hatte sie gerade etwas sagen wollen? Er ist sich unsicher, geht aber zum Tresen, kümmert sich.

    Die Sprecherin im Radio erklärt neun Uhr zur aktuellen Zeit und verliest dann die täglichen Weltverrücktheiten, draußen bellt ein Hund, ein Handy brummt, die Welt scheint stehen zu bleiben und dreht sich trotzdem weiter.

    Jupp, Chäläne und viele Fragen

    Ein Foto von Jupp Beuys, eine Wagnerbüste mit schwarzer Filzkappe, Jazzmusik im Hintergrund, Gespräche an der Theke und den Nachbartischen. Schrille Frauenstimmen, offensichtlich bereits am Nachmittag mit einem Pilschen zu viel unterfüttert. Hagemann schaut sich um, ihm gefällt die Kneipe. Schon ein paar Mal hatte er sich, seit er in diesem Viertel in der Nähe seines Arbeitsplatzes wohnt, zu einem Bier die paar Meter von seiner Wohnung hierher bewegt. Meist zum Tagesabschluss. Heute ist er mal früher dran, hatte kurz nach der Mittagspause das Handtuch geworfen und auf zukünftigen Überstundenausgleich vertraut. Bewegen, bewegen war der dringende Wünsch gewesen, als er nach seinem frühen Dienstschluss zu Hause angekommen war. Ergebnis: halbe Stunde in die Stadt laufen und Besorgungen machen. Halbe Stunde zurücklaufen. Immerhin.

    Hier ist es völlig unaufgeregt. Man kann sich einfach auf einen freien Platz setzen und hat seine Ruhe. Frisches Bier wird ihm unaufgefordert gebracht, man kennt ihn mittlerweile schon. Kurzer Plausch.

    „Wie geht's? Alles gut?"

    „Jau Jau."

    Kühlschranktüren klappen auf und zu, Gläser werden gespült. Essen nach draußen getragen. Leider waren alle Plätze unter den Sonnenschirmen besetzt gewesen, so dass er sich am Ede der Theke platzieren musste. Hier ist wenigstens Leben, denkt Hagemann. Im Gegensatz zum täglichen Büro-Einerlei.

    Zwei Meter entfernt fragt eine Schrille, warum sie sich eigentlich eine Kreditkarte zulegen solle. Was denn der Unterschied zur ECKarte sei. Jemand erklärt‘s ihr. Nochmals. Erläuterungen. Hoffnungslos.

    Daneben ein etwa Siebzigjähriger, blaue Weste mit rotem, abgewetztem Kragen, weißem Vollbart, zwingt seinem zufälligen Thekennachbarn ein Gespräch auf. Endlich hat er ein Opfer gefunden. Radebrechen auf Englisch. Dann ein Erinnerungs-Selfie mit zwei Thekenschlampen.

    Einen Barhocker weiter ist „Chäläne", die Fischer, das Thema. Und der andere Schlagerfuzzi.

    „Wie hieß der noch gleich?"

    „Mach uns mal noch nen Ouzo."

    Jetzt wird's laut. Widerspruch gegen das Schlagersternchen? Wird nicht geduldet.

    „Datt Publikum ist doch nicht komplett doof, oder? Alle wollen datt doch hören! Oder willste etwa sagen, dass ich doof bin?"

    „Nee, aber ich finde datt einfach Banane. Und jetzt trink deinen Ouzo."

    „Jamas."

    „Aber die Blödheit ist doch unbeschreiblich, oder?"

    Helene geht rauchen. Entspannung.

    Hagemann hört zu, schaut, nippt an seinem Glas, wundert sich, dass er sich wundert über das Publikum. Wundert sich noch mehr und freut sich gleichzeitig, seinen Freund Sepp zu sehen.

    „Was machst du denn hier? Heute ist doch gar nicht Montag?"

    Sepp kommt angeschlurft, setzt sich wortlos neben Hagemann, bestellt Schnaps und Rotwein.

    „Oh, oh!" Hagemann runzelt die Stirn und sich will gerade nach dem Befinden erkundigen, da dringt ein Stöhnen aus Sepp heraus.

    „Mich hat’s erwischt."

    „Krank?"

    „Nee, schlimmer! Und das Schlimme ist, ich weiß weder ihren Namen noch sonst etwas. Das kann man mir doch nicht antun!"

    Sepp kippt den Schnaps und schlürft am Rotwein, bestellt nochmal das gleiche. So hat Hagemann ihn noch nie erlebt, eigentlich trinkt Sepp selten Alkohol, außer mal guten Rotwein zum Essen. Und schon gar nicht so früh am Tag.

    „Seit gestern Morgen bin ich total durch den Wind! Sie hat mir das Geld für die Schokolade auf den Tresen gelegt, gelächelt, und ‚Bis bald, mein Schokoprinz gehaucht‘, und fort war sie. Leichtfüßig, fast tänzelnd, ist sie zur Tür hinaus, über die Straße und in ein Taxi geschwebt. Hast du mich schon mal wortlos erlebt, mein Hagefreund? Ich sag dir, das ist der Tag, der alles durcheinanderbringt. Ich konnte mich kaum konzentrieren. Kaffee, Cappuccino, Espresso, Schokolade, Brötchen oder was auch immer – ich hab alles durcheinandergebracht. Bestimmt zwanzigmal musste ich die Bestellung revidieren. Und heute Morgen war es nicht besser. Da hab‘ ich nach dem Mittagsgeschäft den Laden zugemacht. Ein Schild in die Tür gehängt. ‚Wegen Unwohlsein heute ausnahmsweise mal geschlossen‘. Bringt heute eh nix mehr. Seit zwei Stunden laufe ich durch den Park, wie ein Tiger im Käfig. Wie soll das weitergehen?", sprudelt es aus ihm heraus.

    Sepp Wurzbacher, Café-Bar-Betreiber togolesisch-bajuwarischer Abstammung, seufzt so tief und herzzerreißend, dass seine Oma, die unter dem Baum am Rande des Dorfes ihrer Vorfahren im Westen Togos begraben liegt, fast diesem Grab entstiegen wäre, um zu schauen, warum ihr einzigartiger Enkelsohn solche Seelenqual mit sich herumträgt.

    „Wo kam sie her, wo ist sie hin? Los mach was, Hagemann. Mach was. Du musst mir helfen!!!" Drei Ausrufzeichen.

    Sepp, oder auch „Sekou-Sepp" wie er von seinen afrikanischen Freunden auch genannt wird, schnauft und schüttelt sich. Er schaut in Hagemanns grüne-braune Augen, vermutet etwas Unverständnis hinter dem fragenden Blick und steht auf.

    „Ich zähl‘ auf Dich! Lass Dir etwas einfallen. Ich habe auch schon so oft über deine kleinen Liebeleien mein schützendes Händchen gehalten. Jetzt kannst du zeigen, was du kannst. Ich aber brauch erstmal frische Luft!"

    Hagemann schaut seinem Freund hinterher. „Den hat’s ja wohl heftig erwischt", murmelt er vor sich hin. Grübelnd bestellt er sich noch ein Bier, lässt sich Zettel und Stift geben, und fängt an, Fragen und Ideen zu notieren.

    „Eigentlich hab‘ ich ja anderes zu tun – aber watt mutt, datt mutt!"

    Wieder so ein Murmeln, leise vor sich hin Brabbeln. Micha, Hansdampf am Zapfhahn hinter der Theke, schaut schon ganz irritiert, zieht die Augenbrauen fragend hoch, hält sich aber mit Fragen zum Gesundheits- und Geisteszustand zurück.

    Wann kam Sie? Woher? Wer kennt sie? Wo ging sie hin? Foto? Wege nachgehen? Skizze anfertigen? Warten auf ein erneutes Erscheinen? Alter? Name? Wohnt sie weit entfernt (kann nicht sein, es schien mir, als wenn sie das Café gekannt hat)?

    Scheinbar zusammenhanglose Fragen notiert Hagemann auf seinem Zettel, bestellt noch ein Bier, setzt sich ans Fenster, um den Blick schweifen zu lassen und versenkt sich in Gedanken. Die Musik, das Gelaber und Geschwalle, der Lärmteppich um ihn herum ist jetzt weit weg, irgendwo zu erahnen, aber nicht mehr störend. Fast eine Meditation über Schokoprinzen und Schönheiten und Fragen und Wege und das Leben und die Liebe.

    „Noch ein Bier…!"

    Am Deich

    Sepp strampelt. Das Rad ist sicherlich eine Nummer zu klein, aber ein anderes war gerade nicht greifbar gewesen. Er hatte keine Lust, erst nach Hause zu laufen und sich so an der Radstation unter der Stadtautobahn ein Gefährt gemietet. Vorbei an den Touristenströmen, den Kneipen am Flussufer, war er stadtauswärts geradelt. Es ist früher Abend, mehr als die zweite Hälfte der Woche liegt noch vor ihm, wartet noch auf ihre Gestaltung. Das Radeln tut gut – der Wind in den Haaren und im Gesicht, die Sonne auf der Stirn, der Geruch von frisch gemähtem Gras in der Nase. Links sieht er Schiffe vorbeiziehen Richtung Meer, das leise Tuckern der großen Dieselmotoren hat einen beruhigenden Klang. Gemächlich ziehen die Transportschiffe dahin, gemächlich rollt er auf dem Asphalt des Fahrradwegs, langsam kommt Ruhe in Herz und Hirn.

    Sepp hält an, stellt das Rad ab, legt sich an der Böschung ins Gras. Die Sonne steht jetzt am frühen Abend im Westen nicht mehr ganz so hoch, ist aber immer noch kräftig. Irgendwann später wird sie hinter den Wiesen am anderen Ufer untergehen.

    Der Radweg ist auf der Krone des Flussdeiches angelegt, die recht steil abfallende Böschung geht am Deichfuß in eine Wiese über, auf der mehrere Weiden mit Zäunen abgeteilt sind. Diese Wiesen erstrecken sich links und rechts von ihm so weit, wie er schauen kann, bestimmt über mehrere Kilometer, unterbrochen von schmalen Fußwegen, einzelnen Baumgruppen und vielen Büschen in Ufernähe. Die Wiesen fallen Richtung Flussufer leicht ab, um auf der anderen Uferseite unvermittelt wieder aufzusteigen.

    Dort ist der Deich ein paar hundert Meter nach hinten versetzt, wird aber auch von Radfahrern und Spaziergängerinnen bevölkert. Hinter dem gegenüberliegenden Deich erstrecken sich kleine Wälder und Ackerflächen. Noch weiter in der Ferne meint Sepp, den Himmel den Boden berühren und aus der Berührung kleine weiße Wölkchen entstehen zu sehen. Kleine Wölkchen, die aufsteigen, auseinanderstieben und dann ihren Weg übers Land antreten.

    Er schließt wieder die Augen. Immer wieder läuft die gleiche Szene auf der inneren Leinwand, immer wieder klingt die gleiche Stimme in seinem inneren Ohr, immer wieder beginnt das gleiche Herzflimmern.

    Ein Schatten huscht über Sepps Gesicht. Er blinzelt, sieht nichts gegen die Sonne – aber das Dröhnen der Triebwerke eines Jets kündigt von einer Landung auf dem nahegelegenen Flughafen. Dann wieder Stille.

    Schafe grasen etwas entfernt nahe dem Flussufer; leises Blöken schallt herüber. Einfach so an einem normalen Wochentag langgestreckt in der Sonne zu liegen, das hat er so lange nicht mehr getan. Ihm wird warm, er zieht sein T-Shirt aus, rollt es zusammen und legt es unter seinen Kopf. Hinter sich hört er immer wieder Schritte, Spaziergänger sind hier häufig unterwegs. Rollschuhfahrer, Radfahrer auch. Aber ohne großes Getöse. Das ist so wohltuend.

    Ob sie wohl auch Rad fährt, geht ihm durch den Kopf, oder Inline-Skates? Vielleicht mag sie laufen, joggen, walken – und kommt hier gleich vorbei?

    Sepp richtet sich auf. Schaut sich um. Kein Mensch in der Nähe. Nein, auch nicht der eine, bestimmte, erwartete Mensch in der Nähe.

    „Ob ich einfach mal hier liegen bleibe und warte?"

    „Quatsch, geh an deine Arbeit, mach hinne. Sonst ist bald gar nix mehr mit Schokoprinz!"

    Die zwei Stimmen im Ohr – eine verliebte, eine vernünftige - verunsichern ihn.

    „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, bedauert er sich mit Goethe-Zitat. „Warum kann ich nicht einfach mal einfach sein?

    Sepp rafft sich auf. Den restlichen Abend hier auf der Lauer liegen? Quatsch, es gibt noch mindestens einhundertfuffzig andere angenehme Plätze in der Stadt, an denen die Schöne auftauchen kann – das bringt‘s doch auch nicht.

    „Wenn ich nur wüsste, wo ich anfangen soll! Was ich nur mit mir jetzt anfangen soll! „Plötzlich elektrisiert ihn ein Gedanke. Wie heißt es immer in den Krimis, die er sich hin und wieder abends nach Feierabend reinzieht? „Die Täter kommen immer zum Tatort zurück!" Das ist es!

    „Sie hat einmal den Weg zu mir gefunden und wird ihn auch wiederfinden…".

    Sepp springt aufs Rad, zurück in die Stadt.

    Hagemanns Hauptsätze

    Hagemann hatte sich nach dem vierten Bier erstmal Kaffee bestellt, um einen halbwegs klaren Kopf zu behalten, und versucht, sich weitere offene Fragen zum Verbleib der Schokoprinzen-Kopfverdreherin auszudenken; anschließend hatte er mit Micha noch ein wenig über Sepps Seelenqual gefrotzelt, seinen Deckel bezahlt und war anschließend eher ziellos umher gestreift. Um irgendwann im Stadtgarten zu landen und dort seine übliche Runde – konzentrisch von außen nach innen – zu laufen. Sozusagen: das Problem einkreisen.

    Schon oft hat er festgestellt, dass er beim Gehen oder Laufen besser nachdenken kann. Sozusagen: alles im Fluss. Festsitzen in beschränkten Räumen beschränkt eher den Gedankenfluss und lässt keine Kreativität aufkommen, davon ist Hagemann überzeugt. Und diese Überzeugung hatte schon vor einigen Jahren er in seinen „Ersten Hagemannschen Hauptsatz destilliert: Bewegen hilft beim Denken! Auch diesmal hatte es wieder „Bling gemacht und seine Füße hatten ihn unvermittelt in das Lebensmittelgeschäft seines Vertrauens geführt.

    Zwiebeln, Knoblauch, Möhren, Sellerie, Hackfleisch, Tomaten, Tomatenmark, Hühnerleber, Speck. Hagemann legt nun seine Einkäufe auf den Küchentisch, die gleich beim „Zweiten Hagemannschen Hauptsatz – „Kochen ist Kontemplation -die Hauptrolle spielen sollen.

    Ein Griff in diese hauseigene Philosophie-Apotheke hatte bisher immer geholfen. Wenn Probleme gewälzt, Lösungen gefunden, Gedankennüsse geknackt werden mussten – oder bei der Bewältigung von Lebenskrisen geholfen werden konnte. Und Hagemann ist auch schon ein wenig stolz darauf, denn so manchem seiner Freundinnen und Freunde hat er schon mit stoischer Ruhe, einem gemächlichen Gang durch Wald und Flur oder einem guten Essen wieder zu neuem Lebensmut verholfen.

    Hagemann holt eine Flasche Weißwein aus dem Vorrat. Eine Bolognese ohne Wein wäre doch wie…, wie ein Prinz ohne Schokolade. Hagemann muss lachen. Natürlich, er würde Sepp gleich anrufen, nein, besser noch, die Bolognese aufsetzen, die Hitze runterstellen und die paar Straßen bis zum „Sepps" laufen, um seinen liebesverwirrten Freund zum späten Abendessen abzuholen. Die Sauce kann, oder besser: Sie muss einige Zeit vor sich hin köcheln, um den richtigen vollen Geschmack zu entfalten. Nun steht erstmal die Vorbereitung an: Gedankensammeln beim Kleinschneiden des Gemüses, anbraten, rühren, aufgießen, abschmecken.

    Er stellt einen großen, gusseisernen Topf und eine Sautierpfanne auf den Herd. Zuerst Möhren und Sellerie würfeln, die Zwiebeln klein hacken, ebenso den Pancetta. Nachdem Hagemann den Speck in der Pfanne ausgelassen und dann das Hackfleisch darin angebraten hat, gibt er die zuvor kleingehackte Hähnchenleber hinzu, die schnell ihre Form verliert, eher zähflüssig wird, schmilzt, im Fleisch-Lebergemisch aufgeht, aber zum unverwechselbaren Geschmacksaroma beiträgt. Dann löscht er mit Weißwein ab. Nun gibt er Olivenöl in den Topf und dünstet zuerst die Zwiebeln an, gibt nach einer Weile das gewürfelte Gemüse hinzu, lässt dies ebenso andünsten, fügt Lorbeerblätter hinzu. Sobald das Gemüse etwas trockener wird, gibt er Tomatenmark in den Topf und röstet ihn mit an, dann folgen zerkleinerte Tomaten, denn die bringen die notwendige Flüssigkeit. Sobald der Alkohol verdunstet ist, fügt er das Fleisch aus der Pfanne hinzu und füllt mit Hühnerbrühe auf.

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