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Im Tod unsterblich: Von Menschen, die vor ihrer Zeit und für ihre Ziele starben
Im Tod unsterblich: Von Menschen, die vor ihrer Zeit und für ihre Ziele starben
Im Tod unsterblich: Von Menschen, die vor ihrer Zeit und für ihre Ziele starben
eBook278 Seiten3 Stunden

Im Tod unsterblich: Von Menschen, die vor ihrer Zeit und für ihre Ziele starben

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Über dieses E-Book

Die Geschichte ist sowohl Beispielgeber für Facetten menschlicher Tragik als auch Kulisse für leidenschaftliches Geschick im Sturm der Zeit. Sie entfaltet sich uns, die wir als rückwärtsgewandte Zuschauer auf sie blicken, als eine Reihe von Bildern und Ereignissen rund um menschliche Schicksale, liefert den Stoff für Legenden und wird wiederum aus diesen aufgebaut. Die Erlebnisse Einzelner können dabei den Antrieb großer Gruppen oder eines vergangenen Zeitgeistes symbolisieren.

Dieses Buch skizziert anhand von historischen Persönlichkeiten auch grob die Geschichte Europas. Angefangen bei Sokrates geht es durch die klassische Antike über Cato Uticensis auf die Iberische Halbinsel mit El Cid. Die bei ihm einsetzenden Konfessionskonflikte werden in der Frühen Neuzeit durch Jan Hus und Thomas More versinnbildlicht, das dabei neu entstehende Weltbild durch Ferdinand Magellan gefestigt. Johan de Witt, Olympe de Gouges und Robert Blum setzen sich dann bis zum Äußersten in einer Welt des Umbruchs dafür ein, diese im bürgerrechtlichen Sinn zu gestalten. Über den Entdecker Roald Amundsen wird schließlich das 20. Jahrhundert betreten, in dem sich Janusz Korczak, Youra Livchitz und Albrecht Haushofer dem nationalsozialistischen Terror entgegenstellen, bevor Imre Nagy als Anführer des Ungarn-Aufstandes von 1956 an der kommunistischen Vormundschaft der UdSSR scheitert.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum11. Okt. 2021
ISBN9783347404540
Im Tod unsterblich: Von Menschen, die vor ihrer Zeit und für ihre Ziele starben

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    Buchvorschau

    Im Tod unsterblich - Stephan Gäth

    1. Sokrates

    Das Leben unserer Vorfahren aus den frühesten Stadien der Menschheitsgeschichte kann nur nachvollziehen, wer archäologische Funde zusammenträgt und Schlussfolgerungen anstellt. Erst mit dem Aufkommen einer Schriftsprache ließen sich weiterführende Gedanken festhalten und sind bis heute greifbar. Das Geschriebene markiert deshalb den Übergang zur Frühgeschichte. Für Europa geschah dies zuerst in seinem sonnigen Südosten: Griechenland als Wiege der abendländischen Kultur errichtete auf vielfältigsten Gebieten noch nie da gewesene Meilensteine und ebnete so den Weg für alle daran anknüpfenden Denker. In und zwischen den griechischen Stadtstaaten gab es eine wahre Flut von großen Umwälzungen in Politik, Gesellschaft und Kultur. Und gerade daraus resultierten ein Bedürfnis nach Struktur, Fragen bezüglich eines übergeordneten Ganzen und damit ein ganz neues Betätigungsfeld, das sich diesem Spektrum widmete – die Philosophie.

    Der berühmteste Vertreter dieser Suchenden war Sokrates. Er befand sich an jener gesellschaftlichen Schwelle des Übergangs von Mündlichkeit, innerhalb derer z.B. Homers Epen tradiert wurden, und der Schriftlichkeit. Der Mythos wurde zum Logos, die archaische Götterwelt zu irdischer Vorstellung von Moral und Vernunft. So markiert Sokrates denn diese Schnittstelle besonders dadurch, dass kein einziges Schriftstück aus seiner ohnehin kaum benutzten Feder überliefert ist. Sein Zeitgenosse Xenophon begründet das in seinen „Erinnerungen" mit der Überzeugung Sokrates‘, dass man nur im mündlichen Dialog Ideen verständlich machen könne. Das geschriebene Wort, zwar auch kommentiert, sei nämlich immer widerleg- oder umkehrbar. So lässt sein Schüler Platon den Lehrer in seinem Werk Phaidros sagen, dass an das Verschriftlichte keine Fragen gestellt werden könnten und es auch für ungeeignete Leser zugänglich sei.

    Der berühmte Sokrates ist also nur mittelbar durch den Freund und Zeitgenossen Xenophon greifbar, taucht in einer Komödie des Aristophanes noch zu seinen Lebzeiten als handelnde Person auf und wird durch seinen Schüler Platon und dessen Schüler Aristoteles beschrieben, wobei Letzterer den großen Athener nur noch durch Reden Anderer kannte. Sie alle befassen sich zudem mit unterschiedlichen Lebensabschnitten des Sokrates und überliefern seine „Sache" auf verschiedenen Wegen. Am hervorstechendsten von ihnen ist und bleibt aber natürlich der Sokrates, wie wir ihn aus der Feder Platons überliefert bekommen. Dieser wird die Schilderung seines Lehrmeisters mit eigenen Ansichten vermischt haben. So sind die frühen Dialoge Platons noch geprägt von Sokrates, die mittleren schon von der Ideenlehre und die letzten von der Sinnhaftigkeit der eigenen Erkenntnisse, aber fast nicht mehr in Dialogform. Platon emanzipiert sich und sein Schaffen vom Lehrer. Auch könnten alle (und damit besonders die frühen) platonischen Texte, die sich der Tugend widmen, auf Sokrates zurückgehen, während staats- und ideenphilosophische Schriften (und damit die späten) wiederum Platon selbst zuzuordnen sind.

    Dass Sokrates selbst nichts Schriftliches verfasste, macht die Suche nach seinen Überzeugungen schwierig. Die Forschung versucht sich deshalb in immer neuen Ansätzen über die Sokratesfigur Platons und die der übrigen Quellen hinweg ein eigenes Bild des doch unfassbar bleibenden Philosophen zu machen. Seine Arbeitsweise war dabei mehr oder minder gekennzeichnet durch augenscheinliches Zustimmen, aber doch widerlegende Vorgehensweise (Ironie), die Annäherung an das innere Wesen der Dinge (Hermeneutik) und/oder das Anerkennen der eigenen Ratlosigkeit (Aporie). Durch ein Zusammenspiel dieses Vorgehens wurde ein Gegenstand in seiner Gesamtheit abstrahiert, in Frage gestellt und musste grundlegend erörtert werden. Dabei kam man zu widersprüchlichen Ergebnissen und Sokrates war in die Lage versetzt, seinen Gesprächspartnern ihr eigenes Nichtwissen zu spiegeln. Dabei bediente er sich auch der Mäeutik, der Hebammenkunst, in Anlehnung an den vermeintlichen Beruf seiner Mutter, um die Lernenden selbstreflexiv zu unterweisen. Auch der Beruf seines Vaters, der Bildhauer gewesen sein soll, lässt sich auf diese philosophische Arbeitsweise beziehen.

    Doch Sokrates‘ Leben und Wirken befinden sich nicht nur am Übergang zur Verschriftlichung, er gliedert auch die antike Philosophiewelt: Vor ihm war die „Liebe zur Weisheit" das Streben hin zu einem Begreifen des Ganzen, einer Durchdringung des Seins mittels der Aneignung von Begrifflichkeiten und der Erlangung von Wissen. Sokrates hingegen sah sich als Liebhaber, nicht Besitzer der Weisheit und erhob den Prozess, nicht sein Ergebnis, zur Philosophie. Dafür war es wichtig, die Begriffe als Instrumente zu verstehen, sie zu systematisieren und schließlich mit ihnen zu arbeiten. Der sokratische Dialog besteht also aus Fragen, nicht aus Antworten. Durch ständiges Nachhaken zwang Sokrates seine Gesprächspartner immer wieder zurück zu sich selbst, dem Reflektieren des eigenen Denkens und Handelns. Er setzte sich so auch von den vorherrschenden, weil älteren, Philosophieansichten Heraklits ab, der die Welt und alles auf ihr Befindliche in stetem Fluss sah. Sokrates hingegen suchte nach dem statischen, wahren Sinn der Dinge und dementsprechend Definitionen. In dieser Hinsicht musste es aber auch Überschneidungen mit Heraklit geben, denn der Wandel von etwas setzt voraus, dass diesem Etwas bestimmte Eigenschaften innewohnen.

    Abgesehen von den philosophischen Grundüberzeugungen widmen sich vier Dialoge Platons dem anderen entscheidenden Faktor, der Sokrates zu einer solch einzigartigen Persönlichkeit der Geschichte macht: Der Prozess gegen ihn, den prominentesten Philosophen Athens, und das sich daraus ergebende Todesurteil. Womöglich hat gerade der verordnete Schierlingsbecher Sokrates erst zur Symbolfigur werden lassen. Freilich aber wurde diese von seinem Schüler Platon literarisch inszeniert, seine Dialoge zum Tod des Lehrers nützten dem Ansehen beider. Im Euthyphron befindet sich Sokrates auf dem Weg zum Gericht, die Apologie widmet sich seinen im Endeffekt erfolglosen Verteidigungsreden, im Kriton soll er zur Flucht überredet werden und der Phaidon schildert schließlich den letzten Tag des großen Philosophen und seine Ausführungen zum Umgang mit dem Tod.

    Anders als zu seinen letzten Stunden ist in Hinsicht auf Sokrates‘ Leben nicht viel bekannt. Er wurde 469 v. Chr. geboren, da er 399, dem Jahr seines Prozesses, siebzigjährig starb. Sein Freund Xenophon lobt Sokrates‘ Zurückhaltung beim Essen und in der Liebe sowie seine Anspruchslosigkeit gegenüber Komfort und finanzieller Sicherheit. Allerdings war Sokrates dem Wein nicht abgeneigt und wird von Platon auch als trinkfest beschrieben, von Aristophanes im übertragenen Sinne als bewusst ungepflegt. Auf Bildnissen wird er mit breiter Nase auf fülligem Gesicht mit kahlem Kopf und rauschigem Bart nicht als Schönheit, aber sympathisch anmutende Gestalt dargestellt. Sokrates war sich seiner Erscheinung bewusst, aber ging umso emsiger daran, sie mit seinem wirkenden Geist zu überschatten. Verheiratet war er mit Xanthippe, mehrere Quellen sprechen noch von einer zweiten Ehefrau namens Myrto. Am Ende seiner ersten Rede vor Gericht betont Sokrates noch, dass er mit Absicht seine Familie nicht aufrufe, insbesondere seine drei Söhne, von denen einer bereits ein Jüngling und die zwei anderen Knaben seien, um kein falsches Mitleid zu erzeugen. Ein solches Gehabe gezieme sich nicht für ehrenhafte Bürger der Stadt und sei „weibisch. Ganz und gar nicht „männlich verlebte er selbst jedoch seinen Alltag nach besten Kräften in Muße und finanzierte ihn durch eine Erbschaft von seinem Vater. Diese reichte, um im Heer als Hoplit, also schwerer Infanterist, zu kämpfen. Übertragen auf die gesellschaftlichen Schichten hieß dies, dass Sokrates mehr Geld als leichte Infanteristen besaß, sozial aber unter jenen stand, die sich Pferde für den Krieg leisten konnten. Den ihm also fast gleichgestellten Handwerkern oder den Mitgliedern der Volksversammlung trat Sokrates aber fast durchgehend abwertend gegenüber.

    Dieses Verhalten stellte sicherlich auch den hauptsächlichen Grund für seinen Prozess dar. Ankläger waren drei Repräsentanten der Bürger Athens. Von ihnen war nur der Politiker Anytos in Athen bekannt, wenngleich die Apologie allein dem Intellektuellen Meletos das Wort erteilt. Der Kaufmann Lykon spielte historisch und dramaturgisch nur eine Nebenrolle. Sie zusammen warfen Sokrates vor, die stadteigenen Götter abzulehnen, dafür neue einzuführen und überdies noch die Jugend Athens zu verderben. Während der darauf fußenden Gerichtsverhandlung konnte sich der Angeklagte nach Verlesung der Anklageschrift mit seiner Verteidigungsrede äußern. Dem dann ausgesprochenen Schuldspruch folgend forderten die Ankläger ein Strafmaß, dem Sokrates abermals widersprechen konnte. Ein drittes Mal äußerte er sich dann nach Verkündung des Urteils in einer letzten Stellungnahme, was in der Prozessordnung nicht vorgesehen war. Den Wortlaut der Gerichtsreden müssen wir nicht eindeutig an dem Dialog Platons festmachen, aber er als Zeuge des Verfahrens wird uns das Grundmuster der Verteidigung des Sokrates relativ treffend vermitteln. Die folgende Darstellung orientiert sich deshalb an der sokratischen Argumentation in der Apologie:

    Sokrates beruft sich eingangs der eigenen Verteidigungsrede auf seine einfache, aber wahrhaftige Sprechweise, die seine Ankläger fälschlicherweise in den höchsten Tönen gelobt hätten. Tatsächlich war er jemand, den viele Einwohner und Besucher Athens häufig auf den Straßen antreffen und reden hören konnten. So wie sie sich durch ein Gespräch in seinem Ruhm sonnten, machte auch er sich einen Spaß daraus, sie philosophisch, oder vielmehr rhetorisch, kaltzustellen. Je mehr Reputation ein Gesprächspartner dabei besaß, desto größer war die Freude des Sokrates, ihm dialektisch ein Bein zu stellen und diese Form des „Lehrgesprächs" zu kultivieren. So war denn ein Dialog mit ihm geprägt vom Impulsgeber auf der einen und dem als Projektionsfläche Dienenden auf der anderen Seite.

    Xenophon nennt die Gesprächsführung von Sokrates des Weiteren so überzeugend, weil es dieser verstanden habe, Problematiken auf ihre Grundlagen zurückzuführen und so auch den Gegnern Sachverhalte einleuchtend zu machen. Seine Dialogpartner leitete er dazu an, sich eigene Gedanken zu machen, um das Problem selbst beheben zu können. Erst das Erkennen des Angestrebten, nicht bloß ein Bild von ihm, lässt es in seiner Gesamtheit verständlich werden. Sokratische Erkundung ist deshalb dynamisch: Weg vom Speziellen, hin zu etwas Allgemeinem, das allerdings erst bestimmt werden muss. Aristoteles unterstellte Sokrates später, nicht auf einer Ebene mit dem Gesprächspartner gestanden zu haben, wie dies in der Dialektik erforderlich ist, sondern sich auf das reine Nachfragen verlassen zu haben, also nur von dem Wissen des Partners abhängig gewesen zu sein. Und auch Cicero beschwerte sich in späterer Zeit darüber, dass Sokrates es brillant beherrscht habe, alle ihm vorgetragenen Ansichten widerlegen, selbst aber mit keiner eigenen aufwarten zu können.

    Doch Sokrates konnte selbst auch Thesen aufstellen. Sein Ruhm kann nicht allein daher zeugen, dass er sich auf das Wissen und die Denkkraft seiner Dialogpartner verließ. Er hat eher das Undefinierbare aufzeigen wollen, anstatt alles erklären zu können. Deshalb stellt er keine neuen Wahrheiten auf, sondern sucht sie im Wesen der Dinge und hinterfragt sie in Dialogen. Dass er auch andere dazu bringen wollte, brachte ihm unentwegt neue Feinde ein. Sie setzten sich größtenteils aus überzeugten Anhängern der staatlichen Institutionen zusammen, die Sokrates bekanntlich so gewissenhaft mied. Wer ihm zudem Böses wollte, fand in seinen uneindeutigen Formulierungen außerdem noch leicht Gründe dafür. Doch auch die berühmte sokratische Ironie war nicht allein Spott, sondern Hinterfragen bis zu einem Punkt, an dem klar wurde, dass schon der Ansatz der Diskussion zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis führen konnte. Außerdem gab Sokrates seine Ansichten nicht preis, das musste auf seine Zuhörer überheblich wirken. Sophisten und andere Philosophen entwaffnete er durch sein Eingeständnis, nichts zu wissen. Fest steht, dass Sokrates‘ Denken einen unmittelbaren Einfluss auf seine Zeitgenossen hatte und tatsächlich von den Herrschenden als Gefahr angesehen wurde.

    In seiner Verteidigungsrede geht Sokrates nur beiläufig auf diesen Punkt ein. Er wolle sich erst gegen die früheren Ankläger wehren, dann gegen die aktuellen. Denn die früheren hätten den Keim der Missgunst schon seit der Jugend seiner Geschworenen unter ihnen verbreiten können. Kern dieser Angriffe sei die Behauptung gewesen, er, Sokrates, mache die schlechtere Sache zur besseren. Wie Schatten lägen diese Vorwürfe über ihm, dem Angeklagten, der sie mit dem Argument entkräften möchte, dass es ihm immer eine Pflicht gewesen sei, dem Gesetz Folge zu leisten. Dabei ist zu unterscheiden, dass Sokrates einerseits seinen inneren Grundsätzen gehorchte, die von außen wirkenden andererseits aber ebenfalls akzeptierte. Im platonischen Kriton versucht ihn der gleichnamige Freund von der Flucht zu überzeugen, doch Sokrates begründet sein Verharren im Gefängnis damit, dass man mit der Flucht falsch gegenüber dem Gesetz handle und selbst erlittene Ungerechtigkeit dürfe nicht mit gleicher Münze heimgezahlt werden. An anderer Stelle in diesem Werk wird gesagt, Sokrates habe Athens Gesetze sein Leben lang anerkannt, er wolle jetzt in den letzten Tagen nicht gegen sie verstoßen. Dazu kommt, dass Tugend und Gerechtigkeit als angesprochene innere Grundsätze durch die Flucht ebenfalls ausgehöhlt, sein philosophisches Wirken und Erbe damit zerstört worden wären. Seine Nichtflucht sollte ein Zeichen sein gegenüber der ihm zuteilwerdenden Ungerechtigkeit und ein Plädoyer für standfeste Moralvorstellungen.

    Seine alten Verleumder, fährt Sokrates in der Apologie fort, wären meist unbekannte Gestalten, außer vielleicht einem Komödiendichter. Damit ist Aristophanes gemeint, in dessen „Wolken" von 423 der Philosoph im 1. Akt diese als den Göttern überlegen ansieht und Zeus‘ Macht leugnet. Der Bauer Strepsiades, der sich in seinem Alter nicht mehr viel merken kann, bringt hier seinen Sohn Pheidippides zu Sokrates. Der wiederum lehrt, mit Worten Sieger zu bleiben sowie später auch zu begründen, dass der Sohn den eigenen Vater schlagen dürfe und ebenfalls nicht mehr an Zeus glauben brauche. Strepsiades zündet schließlich das Haus des Gottesfrevlers Sokrates an und dieser ruft als Letztes, dass er ersticke – eine wundersame Vorausdeutung auf das wahre Ende des Philosophen. Sokrates fungiert hier als Lehrmeister der Sophistik, aber auch Projektionsfläche für alles Wunderliche, das die Bürger Athens in ihm sahen. Die ihm hier zugeordneten Attribute entstammen sicher nicht allein der Phantasie des Aristophanes, sondern beherbergen einen Funken Wahrheit, den die Athener Bevölkerung wahrgenommen hatte. Wenn dies auch nur ein fiktives Theaterstück war, blieb die dort dargestellte Sokratesfigur dem Publikum dennoch im Gedächtnis.

    Der später vor Gericht stehende, reale Sokrates wehrt sich gegen noch ein Vorurteil: Er habe nie Geld für seine Weisheit angenommen. Er wollte, kann man vermuten, durch seine Dialoge nicht seinen Lebensunterhalt bestreiten, sondern Freude und Freunde gewinnen. Außerdem konnte er sich so seine Gesprächspartner aussuchen und wurde nicht von finanziellen Interessen geleitet, was er den Sophisten unterstellte. Aus seiner Sicht postulierten sie zudem fälschlicherweise für sich, die Wahrheit durch ihre Redekunst vermitteln zu können. Diesem Anspruch, sinnhaftes Leben zu verstehen und deshalb lehren zu können, stellte er demonstrativ seinen eigenen Skeptizismus entgegen. Sokrates beharrte fortwährend darauf, das Wesen des Seins nicht zu kennen und führt in seiner Verteidigungsrede auch gleich an, warum gerade dieser Standpunkt Grund seines Erfolges wäre: Das berühmte Orakel von Delphi habe gesagt, es sei niemand weiser als er. Dies ließe sich aber nur durch eben jene Erkenntnis erklären, dass er selbst nichts wisse. So grenzt Sokrates sich für seine Anhänger, aber auch aus der eigenen Wahrnehmung heraus, positiv von anderen ab. Denn daraufhin zählt er verschiedene Gesellschaftsschichten auf, die er hinsichtlich ihrer Gelehrsamkeit geprüft und dabei nie einen wirklich Weisen getroffen habe. Wenngleich vielleicht nicht so gemeint, ist diese Äußerung in den Ohren der Zuhörer und aller Betroffenen natürlich als ungeheure Überheblichkeit wahrgenommen worden.

    Der Sokrates der Apologie ist sich dieser Tatsache bewusst. Verschiedene Gruppen seien gleichsam sauer auf ihn gewesen und stellvertretend für sie alle stünden nun drei Ankläger vor ihm: so seien Meletos für die Dichter, Anytos im Namen der Handwerker und Politiker und schließlich Lykon für die Redner gegen ihn ins Feld gezogen. Sokrates hatte sich ganz augenscheinlich von großen Teilen der Gesellschaft und althergebrachten Vorstellungen abgegrenzt. Teils durch sein „Nichtwissen", teils durch daraus resultierendes, permanentes Fragenstellen. Dies goss Wasser auf die Mühlen seiner Kritiker, die ihm vorwarfen, dass der wichtigste Teil seines philosophischen Denkens darin bestand, alles zu prüfen und anzuzweifeln. Doch Dinge werden erst bedeutsam, wenn sie durchdacht werden, erst real, wenn in Gedanken manifestiert. Philosophie ist das Er- und Hinterfragen von Begrifflichkeiten, für Sokrates‘ Feinde rüttelte dies an den Grundfesten des Staates. Denn Dialektik im negativen Sinn fragt nach Definitionen und lehnt alle folgenden Erklärungsversuche ab, ohne eigene Lösungsmöglichkeiten anzubieten. Im gemeinsamen Suchen kann man sich der Wahrheit nur nähern.

    So hätten ihn, sagt Sokrates nun vor Gericht, reiche Jünglinge auf seinen täglichen Gesprächen begleitet und seine Art der kritischen Widerlegung nachgeahmt, weshalb ihm nun der Vorwurf gemacht werde, er verderbe die Jugend. Tatsächlich imitierten ihn die halbwüchsigen Adligen aus seinem Gefolge und erwarben somit den Ruf, auf sokratische Manier jeden bloßstellen zu können. Die Frage nach dem „Was-ist-das" wurde zu einer stadtweiten Modeerscheinung der Jugend, die damit Traditionen und Ansichten der Älteren auf den Prüfstand stellte und so die gesellschaftlich eigentlich Überlegenen ärgerte. Denn am Ende eines sokratischen Gesprächs steht die Erkenntnis, die Lösung nicht zu kennen. Dies geschah durch eine Reihe von Fragen, die dem Gesprächspartner offenbaren sollten, was ohnehin in ihm steckte. Sokrates sieht sich auch im späteren Verlauf seiner Verteidigungsrede nicht als dafür verantwortlich, er habe einzig interessierten Zuhörern niemals verweigert, ihn zu begleiten.

    Es werde ihm ferner vorgeworfen, er glaube nicht an die stadteigenen Götter, sondern an eigens geschaffene, dämonische Wesen. Der Anklagepunkt, die von Athen verehrten Götter nicht zu achten, hieß auch, die Grundfesten der Polis anzugreifen. Religiosität unterlag hier keinem normierten Glaubensbekenntnis, wohl aber gewissen Kulthandlungen und einer generellen Zustimmung bezüglich der Hoheit der Götter. Da Sokrates der Asebie, also der Unfrömmigkeit, bezichtigt wurde, musste er für Einige gegen diese lockeren Vorgaben verstoßen haben. Xenophon berichtet allerdings davon, dass Sokrates den üblichen Kultriten sehr wohl nachgekommen sei, den Göttern also privat und öffentlich Opfer dargebracht habe. Als wahren Grund für die Anschuldigungen nennt der Angeklagte vielmehr Misstrauen gegenüber dem daimonion, seinem persönlichen Schutzgeist. Dies war eine Form übersinnlichen Gewissens, das ihn nach eigenen Aussagen vor Fehlentscheidungen schützte und das er tatsächlich über die Götter stellte. Später in der Apologie sagt Sokrates außerdem, sein Dämon habe ihm nie zu etwas geraten, nur abgeraten – besonders von politischer Betätigung. Er betont das Auftreten nur bei „Kleinigkeiten", wirklich Relevantes müsse der Mensch lösen. Für die Ankläger klang das dennoch nach Nichtanerkennung der eigenen und Einführung neuer Gottheiten.

    Wenn er also falle, wirft Sokrates den Anklägern und Geschworenen entgegen, dann wegen der Missgunst der Massen, wie so viele vor ihm auch schon. Denn er hatte keines der schwerwiegenden Verbrechen begangen, die in der Polis Athen mit dem Tod bestraft wurden. Er fand mit sich selbst zugleich jene Freiheiten angeklagt, von denen er und die Bürger immer profitierten. Sokrates war kein aktiver Umstürzler, nichts an seinem Handeln rüttelte an den Grundfesten des Staatsgebildes. Zwar sah er die aristokratischen Regierungen Spartas und Kretas als überlegen an, richtete sich aber nie direkt gegen die demokratische Ordnung Athens. In dieser Hinsicht machte er sich keines todeswürdigen Verbrechens schuldig. Es müssen also seine philosophischen Überlegungen gewesen sein, die ihn zur Zielscheibe machten.

    Aber gerade sie waren, abgesehen von ihrer Methodik, inhaltlich auf positive Weise revolutionär. Der bislang allgegenwärtige und maßstabsetzende Homer war beileibe kein demokratischer oder humaner Dichter gewesen. Sein Held zerstört in der Odyssee die Stadt Ismaros, tötet alle Männer, versklavt die Frauen, raubt viele Güter. Von Moralität ist in diesem Grundwerk der Antike nicht viel zu spüren. Eine andere Instanz der Orientierung im alten Griechenland war die Religion, doch auch die jähzornigen, fremdgehenden, nachtragenden, eitlen Götter des Olymp stellten kein leuchtendes Beispiel für sittliches Verhalten dar. Sokrates grenzte sich von diesen beiden Orientierungspunkten ab und griff dem Gedanken des Neuen Testaments vor, seinen Nächsten wie sich selbst zu behandeln. Er sagt im Protagoras, dass alles menschliche Handeln durchweg nach dem Guten strebe, schlechte Taten nur fehlgeleitet seien. Er holte so, wie Cicero in seinen „Gesprächen in Tusculum" später sagte, die Philosophie vom Himmel herab und zwang die Menschen, über das Leben und die Sitten nachzudenken. Das tat auch der leibhaftige Sokrates fortwährend und sieht in dem Prozess einen fundamentalen Angriff auf sein philosophisches Gesamtwerk.

    Selbst bei einem Freispruch – und nicht der vielleicht verhängten Todesstrafe – will der apologetische Sokrates deshalb trotzdem freiwillig auf ein Leben verzichten, das ein Philosophie-Verbot beinhalte. Denn Sokrates übertrug sein geistiges Ideal in die Praxis. Er unterwarf

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