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Kinder der Revolution
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eBook393 Seiten5 Stunden

Kinder der Revolution

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Über dieses E-Book

Nach den Schrecken der blutigen Revolution tut sich Tiberiu schwer damit, sich in einer neuen Welt zurechtzufinden. Zu viele Verluste haben ihn zutiefst erschüttert, die Bilder der Kämpfe verfolgen ihn bis in seine schlimmsten Albträume.
Mittellos und ohne klares Lebensziel flieht er in den Osten des Landes und zieht sich in eine Hütte in den Karpaten zurück.

Doch auch die wilde Natur Rumäniens bleibt von den Nachwehen der Revolution nicht verschont, denn in Targu Mures bricht eine Art Bürgerkrieg aus – und Tiberiu mittendrin.
Nur die Freundschaft zu Leo lässt ihn nicht an all diesen Ereignissen verzweifeln. Obwohl zu Beginn eher Antipathie zwischen ihnen herrschte, schweißt sie der Bürgerkrieg zusammen.
Oder ist da vielleicht sogar viel mehr zwischen ihnen, als er anfänglich wahrhaben will …?
SpracheDeutsch
HerausgeberPlattini Verlag
Erscheinungsdatum1. Okt. 2021
ISBN9783947706372
Kinder der Revolution

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    Buchvorschau

    Kinder der Revolution - Silvia Hildebrandt

    KINDER DER REVOLUTION

    SILVIA HILDEBRANDT

    1. Auflage 2021

    ISBN 978-3-947706-36-5 (Taschenbuch)

    ISBN 978-3-947706-29-7 (e-Book)

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de

    © Plattini-Verlag – Alle Rechte vorbehalten.

    https://www.plattini-verlag.de

    Lektorat: Michaela Marwich – Dortmund

    Korrektorat: Jana Oltersdorff - Dietzenbach

    Umschlaggestaltung: Dream Design – Eitzweiler

    Konvertierung: Sabine Abels – www.e-book-erstellung.de

    Silvia Hildebrandt

    Kinder der Revolution

    Zum Buch

    Nach den Schrecken der blutigen Revolution tut sich Tiberiu schwer damit, sich in einer neuen Welt zurechtzufinden. Zu viele Verluste haben ihn zutiefst erschüttert, die Bilder der Kämpfe verfolgen ihn bis in seine schlimmsten Albträume.

    Mittellos und ohne klares Lebensziel flieht er in den Osten des Landes und zieht sich in eine Hütte in den Karpaten zurück. Doch auch die wilde Natur Rumäniens bleibt von den Nachwehen der Revolution nicht verschont, denn in Targu Mures bricht eine Art Bürgerkrieg aus – und Tiberiu mittendrin.

    Nur die Freundschaft zu Leo lässt ihn nicht an all diesen Ereignissen verzweifeln. Obwohl zu Beginn eher Antipathie zwischen ihnen herrschte, schweißt sie der Bürgerkrieg zusammen.

    Oder ist da vielleicht sogar viel mehr zwischen ihnen, als er anfänglich wahrhaben will …?

    TEIL I

    Kinder der Revolution

    IN MEMORIAM

    Kapitel 1

    Kinder der Revolution

    31. Dezember 1989

    »Liebe Frau Novák, mein aufrichtiges Beileid. Ihr Verlust tut mir leid. Ich weiß genau, was Sie … ich kann mir vorstellen, was Sie durchmachen müssen … Oh, Scheiße!« Tiberiu schlägt mit dem Kopf gegen das Lenkrad. Dort parkt er in der Straße in Mihailsdorf vor dem Novák-Bauernhaus, seinem zweiten Zuhause, und versucht der Frau, die kürzlich zwei ihrer Kinder verloren hat, etwas Tröstendes zu sagen. Die Frau, die Zeit seines Lebens wie eine Mutter für ihn war.

    Ist es wirklich erst ein paar Tage her, seit Rumänien im Chaos der Revolution versank? Seit sie ihren Tyrannen, Präsident Ceaușescu, gestürzt hatten? Seit so viele ihren Wunsch nach Freiheit mit dem Leben bezahlten? Und unter den Toten auch sein bester Freund aus Kindertagen: Attila, der jüngste Sohn der Nováks. Erst gestern wurde er zu Grabe getragen, aber es mutet Tiberiu an wie eine Ewigkeit. Schnee knirscht unter Tiberius Füßen, als er aus dem Auto steigt. Die summende Lampe kann der Straße kaum Licht spenden, er stolpert über einen Pflasterstein, der seit dem großen Erdbeben von 1977 lose ist.Er bringt eine Flasche Wein mit, einen ungarischen, um den kürzlich begrabenen Sohn der Familie zu ehren. An der Tür klingelt er, es bellt kein Hund, kein Hahn kräht sein Kukurikú, wie er es seit fast drei Jahrzehnten gewohnt ist. Als sich das Tor öffnet, erscheint ein erschöpfter Novák József, und Tiberiu kann seine Angewohnheit zu salutieren nicht unterdrücken. Zehn Jahre als Soldat in so einem Land hinterlassen ihre Spuren.

    József schaut zu Boden, sein Rücken ist gebeugt, sein Haar ist über Nacht weiß geworden. Tiberiu steht mit seiner Flasche verloren da und weiß nicht, was er genau tun oder sagen soll. So nicken sie sich wie Fremde zu, und Tiberiu folgt Herrn Novák über den Hof ins Haus.

    Novák Izabella sitzt mit glasigen Augen am Esstisch, die Hände im Schoß, eine einzelne Kerze brennt in dem sonst schwach beleuchteten Raum. Sobald Tiberiu die im Laden gekauften Kuchen in ihren hässlichen Plastikverpackungen sieht, die achtlos auf den Tisch geworfen wurden, weiß er, wie schlecht es ihr wirklich geht. Kein warmer, süßer Geruch weht aus der Küche, kein Mehl auf Frau Nováks Schürze. Die Matrone, als die er sie gekannt hatte, gibt es nicht mehr. Sie ist eine gebrochene Frau. Niemand sollte seine eigenen Kinder zu Grabe tragen müssen. Es gibt keinen Grund, nicht einmal die Freiheit eines ganzen Landes, der dies rechtfertigt.

    Niemand sagt etwas.

    Tiberiu holt drei Gläser und Teller aus dem Schrank. Er schenkt den Wein ein, öffnet den verpackten Kuchen und serviert jedem ein Stück. Die Gabeln klimpern in seiner Hand, und er sucht nach Servietten. Seit den späten Sechzigern weiß er, wo sich alles im Wohnzimmer befindet. Es hat sich nichts geändert.

    Er probiert den verpackten Kuchen, aber er schmeckt schrecklich. Zu trocken, zu süß, er würgt fast daran. Das Klappern des Bestecks auf dem Teller dröhnt in seinen Ohren. Und die Stille zerreißt ihn wie Kugeln.

    »Warum hast du ihn gestern Bruder genannt?« Plötzlich durchbricht Frau Novák das Schweigen.

    »Izabella«, murmelt József und seufzt.

    »Nein, ich möchte es wissen. Du bist nicht Attilas Bruder. Du bist nicht einer meiner Söhne, Nicolescu Tiberiu.«

    »Es tut mir leid«, sagt er und spielt mit Kuchenstreuseln, drückt sie zu flachen, klobigen Zuckerfladen. »Das sind meine aufrichtigen Gefühle. Ich habe ihn immer für einen Bruder gehalten. Wir sind seit dem Kindergarten zusammen aufgewachsen.«

    »Hey, ich habe Feuerwerksböller gekauft«, unterbricht ihn József. »Um Mitternacht können wir in den Innenhof oder ins Stadtzentrum gehen. Das neue Jahr begrüßen. Das erste Jahr in Freiheit. Was denkst du?«

    »Wechsle nicht das Thema, Józsi.«

    »Es tut mir leid, Frau Novák. Ich wollte Ihre Gefühle nicht verletzen.« Nach all den Jahren spricht er sie immer noch so an. Er fühlt sich wohl damit, Attilas Vater bei seinem Vornamen zu nennen, aber er wird es nie wagen, sie Izabella zu rufen.

    »Aber dann denke ich doch, ein Feuerwerk ist in Anbetracht der Ereignisse unangemessen«, murmelt Attilas Vater, größtenteils für sich.

    Nach Attilas Tod konnte Tiberiu nicht mehr in Bukarest bleiben. Die Hauptstadt versank im Chaos eines Bürgerkriegs, Revolution und Konterrevolution wechselten sich ab, zu viele Zivilisten mussten ihr Leben lassen, und inmitten dieser Hölle organisierte er den Transport von Attilas Leiche in sein Heimatdorf.

    »Und was waren diese hässlichen roten und braunen Flecken an seinem Körper? Hm, Tibi? Was war das? Kannst du mir das erklären?«

    Er half Izabella im Bestattungsinstitut, ihren verstorbenen Sohn zu identifizieren, zusammen mit ihr zog er der Leiche die Uniform aus und einen feierlichen schwarzen Anzug an, bereit für die Beerdigung. Sein Körper ähnelte einem ausgehungerten Vampir. Es gab nur einen Grund, warum all diese Läsionen Attilas Körper bedeckten. Darf er es sagen? Er vermutet, dass Attilas Eltern das größte Geheimnis ihres Sohnes wahrscheinlich nicht kennen.

    »Du weißt, was das war, oder?«, wimmert Izabella. »Ich sehe es in deinen Augen. Du weißt so viel über ihn. Mehr als ich. Warum sagst du es mir nicht?« Tränen rinnen über ihre Wangen. »Warum hat er aufgehört, mit mir zu reden, sich von mir entfremdet? Ich weiß kaum etwas über ihn. Warum, Tibi, warum?«

    Tiberiu räuspert sich. Ihm wird übel.

    »Sag’s mir, um Himmels willen, Tiberiu!«

    Okay. Das ist es. Jetzt muss er es wohl gestehen. »Nun, er … ähm … er war krank«, stammelt Tiberiu, »sehr krank. Er hatte eine Krankheit … Ich weiß nicht, ob Sie davon gehört haben. Eine Art … Autoimmunerkra… Hautkrebs.«

    Er beobachtet sie. Natürlich reicht diese Erklärung nicht aus. Sie runzelt die Stirn, und ihr Blick durchbohrt ihn. Der gleiche Blick wie der von Attila. »Hautkrebs? Autoimmuner Hautkrebs? Aber wie kann man Hautkrebs bekommen, wenn man kaum draußen in der Sonne ist?«

    Vampirismus, lacht er in Gedanken laut und spöttisch auf. Es erstaunt ihn, wie das Gehirn sich in diesem Moment so einen geschmacklosen Witz ausdenken kann. Aus Selbstschutz?

    »Nun …« Sie sollten es wissen. Sie verdienen, die Wahrheit zu erfahren. Attila verdient es, dass seine Eltern über seine wahre Natur Bescheid wissen. »Okay. Ich komm in die Hölle dafür, aber egal. Er hatte … AIDS.« Tiberiu beißt sich auf die Lippen und schmeckt Blut auf seiner Zunge. »Ich weiß nicht, wie lange er darunter gelitten hat. Er … ähm … er hatte ziemlich viele … ziemlich viele … Liebhaber. Anscheinend ist es …«

    »AIDS? Ich habe noch nie von einer Krankheit namens AIDS gehört«, knurrt Izabella. József ist ruhig geworden. Er bewegt sich nicht, kein Laut ist von ihm zu hören. Er ist tot für die Welt.

    »Es wurde von der Regierung geheim gehalten, von Attilas eigener Abteilung. Er selbst hatte …« Da hört er auf zu sprechen. Es ist zu schrecklich, darüber nachzudenken, wie verdreht das Leben war, das Attila geführt hatte. Erst jetzt merkt Tiberiu, was Attila für die Securitate durchgemacht haben musste. Wie er litt, weil Tiberiu ihn selbst in diese Position brachte. Wie er seine eigene Identität verleugnen musste.

    »Liebhaber? Was meinst du mit Liebhabern? Er hat nie gesagt, dass er Freundinnen hatte. Er sagte, er sei zu beschäftigt, um Beziehungen zu haben.«

    »Ah.« Tiberiu reibt sich die Stirn. Diese Kopfschmerzen werden ihn noch umbringen. Okay, Augen zu und durch. Er muss es hinter sich bringen. »Er hatte tatsächlich Liebesbeziehungen. Mit Männern.«

    Izabella zieht die Augenbrauen hoch und schüttelt den Kopf, als würde er Chinesisch sprechen. Nach dieser ersten Hürde spricht Tiberiu weiter: »Er war schwul. Homosexuell.«

    »Was?«, gibt sie empört zurück. »Nein! Tiberiu. Warum sagst du so etwas? Nach allem, was ich für dich getan habe? Warum ziehst du den Namen meines Sohnes in den Dreck? Was hat er dir angetan?«

    »Das ist …«, seufzt er. Er will aus diesem Haus raus. Er hoffte, ein bisschen Zeit allein in Attilas altem Jugendzimmer zu verbringen und in aller Stille um seinen Freund zu trauern, aber jetzt will er nur noch nach Timișoara zurückfahren. »Das hat er mir gesagt. Ich zitiere ihn nur.« Kapitulierend hebt er die Hände. Ja, was für ein feiger Schachzug.

    »Oh Gott. Das kann doch nicht wahr sein. Du denkst dir das aus, um mich zu beleidigen.« Izabella fährt sich durch die Haare. »Nun ja, du scheinst nicht ganz du selbst zu sein, Tibi. Ehrlich gesagt, verstehe ich dich. Wir sind alle ein bisschen müde.«

    »Vielleicht … sollte ich nach Hause. Ich will Sie nicht länger aufhalten als nötig. Sie sollten sich gut ausruhen.« Er weiß sehr wohl, dass heute die Silvesternacht ist. Und obwohl sie gestern ihren Sohn begraben haben und erschöpft sein müssen, scheinen seine Worte seltsamerweise fehl am Platz zu sein. Es ist schon immer in Rumänien Tradition gewesen: Jeder ist an diesem Tag bis zum nächsten Sonnenaufgang wach. Zu früh ins Bett zu gehen gilt als unsozial. Den Sohn zu begraben, ist keine angemessene Entschuldigung.

    »Ja«, bestätigt Izabella. »Ja, ich begleite dich zur Tür.«

    Höflich verabschieden sie sich noch voneinander, aber er weiß, dass er schon lange nicht mehr willkommen ist. Und als sich alle auf die Feierlichkeiten vorbereiten, um ein neues Jahr, ein neues Jahrzehnt, eine neue Ära zu begrüßen, fährt er zurück nach Timișoara, auf der einsamen Überlandstraße, Freies Radio Europa spielt Chris Reas melancholische Stimme.

    Das Türscharnier von Attilas Wohnung ist immer noch halb gebrochen. Tiberiu versucht, es provisorisch zu reparieren, um den Eingang zu schließen, damit es in der Wohnung nicht zu kalt wird.

    »Ach, Bruder«, seufzt er, und Tränen schießen ihm in die Augen, als er das Wohnzimmer betritt, in dem sie ihre letzte Nacht in dieser Stadt verbracht haben. Sein Blick schweift sofort zu den Fenstern, von wo aus er im Dezember die Panzer durch Timișoara rollen sah. Die bestickten Vorhänge. Wie schmerzt ihr Anblick in seinem Herz! Er weiß, dass Attila diese hasste. Er weiß, dass Izabella sie ihm geschenkt hat, als er nach dem Wehrdienst hierhergezogen ist. Und er weiß, dass Attila es nie gewagt hat, sie abzuhängen, egal wie hässlich er sie fand.

    Ja, okay, er braucht etwas Alkohol, um diese beschissene dunkle Stimmung zu überdecken. Er öffnet die Bartür in Attilas Schrankwand. Ein gut ausgestatteter Vorrat an Getränken lässt ihn wieder frei atmen. Er öffnet eine Pálinka-Flasche und würgt einen großen Schluck herunter, ohne ihn in ein Glas zu füllen.

    »Noroc, Atti, du Hurensohn«, prostet er dem schwarzen Fernseher in der Ecke des Zimmers zu.

    Und dann hört er ein schreckliches Kreischen. Sein Hals zieht sich zusammen. Sein Magen brennt. Was ist das? Was ist das für ein Geräusch? Was ist das für ein schreckliches Gefühl?

    Oh lieber Gott, nein! Er weint. Er weint wie ein Mädchen. Er trinkt und heult sich die Augen aus. Er weint um Attila. Er weint um Ánná, Attilas Schwester, seine langjährige Lebensgefährtin. Er gibt sich seinem Selbstmitleid hin. Er würde töten, damit sie wieder am Leben wären. Er möchte, dass sie hier sind, mit ihm auf ein neues Jahr anstoßen, auf den Erfolg der Revolution. Er will sie an seiner Seite haben, wenn sich die Neunzigerjahre nähern. Wie können sie alle tot sein? Wie konnten sie es wagen, wie Fliegen zu sterben? Sie haben ihn betrogen, ihn in dieser grausamen Welt allein zurückgelassen. Es ist unfair von ihnen, ihm das anzutun.

    Oh nein, er sollte mit dieser Altweiber-Melancholie aufhören. Sein Vater hatte recht: Er ist eine Schande von einem Mann. Völlig unfähig, sich zu beherrschen, unfähig, als Căpitan der Volksarmee erfolgreich ein Bataillon zu führen. Und jetzt ist er nur noch ein Betrunkener, erbärmlich und arbeitslos.

    Um der unerträglichen Stille ein Ende zu setzen, schaltet er das Radio ein. Begleitet von den Melodien geht er Attilas Besitztümer durch und findet seine alte Geige. Dieser Mistkerl hat das Ding hier in Timișoara behalten! Nicht bei seinen Eltern in Mihailsdorf. Was für wunderbare Erinnerungen dieses Instrument hervorruft. Von unzähligen Festen: Ánnás fünfzehnter Geburtstag. Hatte sich Tiberiu damals schon, als kleiner Junge, in sie verguckt? Die Revelion-Nacht von 1974/75, als er und Attila beide im Stimmbruch waren. Die Silberhochzeit von Herrn und Frau Novák, zu der das halbe Dorf eingeladen war.

    Tiberiu fragt sich, wann er Attila das letzte Mal spielen gesehen hat. Wann hatte er aufgehört, ein unbeschwerter Mann zu sein, und war zum Aushängeschild der Securitate, der rumänischen Geheimpolizei, geworden? Wann ist all diese Scheiße passiert? Was war der Wendepunkt?

    Als der Alkohol durch seine Adern fließt und in seinem Kopf herumwirbelt, fragt er sich, warum er vor ein paar Stunden unbedingt wollte, dass Frau Novák etwas über Attilas Sexualität erfuhr. Warum war es ihm so wichtig? Warum kann er die Toten nicht in Frieden ruhen lassen?

    Und dafür haben wir gekämpft, Genosse Novák? Allein Silvester zu verbringen, um der einzige Überlebende unserer Clique zu sein, der einzige Überlebende der Revolution?

    Das ist nicht fair.

    Es ist so ungerecht, am Leben zu sein, wenn sie es nicht sind – Attila und Ánná, Freunde und Familie, und all jene, die in Timișoara und Bukarest ermordet wurden.

    Er weiß, dass es respektlos ist, in Attilas Wohnung herumzukramen. Aber er kann nicht anders. Er sucht verzweifelt nach irgendeinem Trost, den Attilas Habseligkeiten ihm geben könnten. Sucht nach einer gespenstischen Präsenz, die möglicherweise noch hier herumgeistert. Er findet eine Packung Kondome, die noch versiegelt sind, und kichert. Ja, natürlich. Als Offizier des Geheimdienstes hatte Attila Zugang zu diesen Gütern. Irgendwann verbot der gestürzte Präsident das Verkaufen von Verhütungsmitteln, und mehr als einmal hatte Tiberius Freundin Ánná ihm mitgeteilt, sie müsse schon wieder heimlich abtreiben. Da hatte er sich immer gefragt, ob das nicht einfacher ginge. Warum hat Attila ihnen nicht einfach Kondome besorgt? Gut, Attila hat offenbar auch nie welche davon benutzt.

    Tiberiu findet eine Sammlung von Rezepten für Medikamente, die alle nicht eingelöst sind. Er findet ein Dokument mit Attilas AIDS-Diagnose.

    Keine Fotos, weder von Attila, seiner Familie noch von seinen Liebhabern. Nichts Persönliches als die Geige und jede Menge Bücher russischer und ungarischer Autoren. Die Flasche Pálinka ist schon halb leer, als leiser Jubel und ein paar knallende Feuerwerkskörper von außen erklingen und ihm mitteilen, dass das Jahr 1990 offiziell begonnen hat.

    Und als zehn Minuten nach Mitternacht jedes Geräusch wieder verstummt, erbricht er sich in Attilas Küchenspüle und schläft auf seiner Couch ein.

    Frohes Neues Jahr, Genosse.

    Ein Klingeln weckt ihn einige Stunden später. Sein Mund schmeckt nach kalter Asche, und er muss sich wieder übergeben.

    Instinktiv geht er ans Telefon, bevor er weiß, wo zum Teufel er überhaupt ist. »Ja? Nicolescu.«

    »Ich wusste, dass ich dich in seiner Wohnung finden würde«, flüstert Novák Izabellas Stimme durch die störungsanfällige Leitung. »Wirst du am Nachmittag noch da sein?«

    Jäh aus dem Schlaf gerissen, springt er zum Fenster und fummelt an dem bestickten Vorhang herum, wie es seine Gewohnheit ist, wenn er telefoniert. Das ist es, das ist Normalität, das ist der Alltag eines Novák. Der Anblick von Schnee, die Vorfreude darauf, im Schoß der Familie zusammenzusitzen, die Wärme und Gemütlichkeit der Vorhänge, die einen von draußen ins Warme locken, lebhaftes Lachen, ein unaufhörlich klingelndes Telefon, keine Zeit, seltsamen Gedanken nachzuhängen, die im Kopf herumkreisen.

    »Ja, ich bin nachmittags noch hier«, sagt er und beobachtet die Strada Miron Costin. Alles schmeckt und riecht so normal. Dreck und Müll von der Silvesterfeier liegt auf der Straße, verschneiter Schlamm sammelt sich auf den Gehsteigen, nur ein paar Autos fahren vorbei. Die Telefonkabel über den Bäumen, die gelben Stromkästen. Aber eine Million kleiner Einschusslöcher bohren sich in den bröckelnden Putz der Hausfassaden. Das heruntergekommene Aussehen der mit Kugeln übersäten Häuser erzählt von der elenden Geschichte dieses Landes.

    »Ich nehme den Drei-Uhr-Zug.«

    »Soll ich Sie mit dem Auto abholen?«

    Eine lange Pause. Sie weiß, dass er kein eigenes Auto besitzt. Sie weiß, dass er Attilas benutzen wird. Gestern vermied sie es, aus dem Fenster auf die Straße zu schauen, auf der er den Audi geparkt hatte.

    »Nein. Es ist nur einen Kilometer vom Bahnhof entfernt. Ein kurzer Spaziergang tut mir gut.«

    Nun, dieser Mann da sieht seltsam aus. Stand er nicht vor ein paar Minuten schon dort? Warum verweilt er neben der Telefonzelle und tut nichts? Tiberiu weiß nicht, warum er besorgt ist. Möglicherweise wartet dieser Mann auf jemanden und reibt nervös die Hände zusammen. Die gesamte Regierung ist zusammengebrochen, so etwas wie die Geheimpolizei, Spione und Agenten gibt es doch nicht mehr.

    »Okay, Frau Novák. Ich werde hier sein«, verspricht er, und sie legt auf. Das Tuten hypnotisiert ihn. Er kann den Blick nicht von dem Mann an der Telefonzelle abwenden.

    Er hört sie, bevor er sie sehen kann. Ihre braunen Locken sind in ein Seidenkopftuch gebunden. Ihre Falten sind ausgeprägter als vor ein paar Wochen. Krümel ihres leuchtend roten Lippenstifts kleben an ihrem Mund. Sie greift nach ihrer winzigen Handtasche. Es ist kaum Platz darin für mehr als ihre Schlüssel und ihr Zugticket. Aber ohne sie hat er sie nie ihr Haus verlassen sehen.

    »Ich dachte, ich muss versuchen, es zu reinigen«, begrüßt er sie, reibt über das zerbrochene Rücksitzfenster von Attilas Audi und bleicht die Blutflecken auf dem Polster mit medizinischem Alkohol aus, hier und da wirft er einen misstrauischen Blick auf den Mann an der Telefonzelle. Er ist immer noch da. »Atti hätte mich umgebracht, wenn ich nicht wenigstens einen Versuch unternommen hätte, sein Auto sauberzukriegen. Das Ding war sein ganzer Stolz.«

    Sie räuspert sich, zieht die Augenbrauen zusammen und presst die Lippen aufeinander. »Was du über Attila gesagt hast: Es ist nicht wahr. Und das ist alles, was ich dazu zu sagen habe. Basta.«

    Ja, das ist die Novák-Einstellung. Eine Rose ist keine Rose ist keine Rose ist keine Rose, wenn ich das sage.

    »Sollen wir nach oben gehen?« Er zeigt auf das Wohnhaus, und sie nickt. Ein letzter Blick auf die Telefonzelle. Sein Herz setzt einen Schlag aus.

    Drinnen, nachdem er ihr aus ihrem Mantel geholfen hat und sie sich beide gesetzt haben, kramt er eine Zigarette aus der Schachtel und bietet auch ihr eine an. Selten hat er sie rauchen gesehen, nur in Momenten höchster Aufregung. Die Zeit, als ihre älteren Söhne aus dem Land flohen, war eine Gelegenheit gewesen. Das hier ist eine andere.

    »Und nun? Was wird aus Rumänien?«, fragt sie.

    »Hm.« Er schnauft tief.

    »Iliescu wird jetzt Präsident, nicht wahr? Taugt der was?«

    Er seufzt. »Wenn mich jemand gefragt hätte, hätte ich gesagt, lasst uns Tőkés zu unserem neuen Präsidenten machen.«

    Ihre Augen weiten sich, sie neigt den Kopf. So wie Attila es immer getan hat.

    »Nur meine Meinung.«

    »Kannst du …« Ihre Stimme ist so leise, dass er sich näher zu ihr bücken muss, um sie zu verstehen. »Kannst du mir helfen, nach Deutschland auszureisen? Weißt du, ich möchte meinen Ältesten, István, besuchen. Und Gábriel. Ist es schon sicher, nach Westen zu gehen?«

    »Ich weiß es nicht. Das Einzige, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass es auf jeden Fall teuer sein wird.«

    »Ich denke darüber nach, das Haus zu verkaufen. Immerhin ist es für Józsi und mich zu groß geworden.«

    »Verständlicherweise«, antwortet er. Aber innerlich will er schreien: Nein, verkaufe das Haus nicht. Es ist Attilas Kindheit. Meine Kindheit auch. So viele Erinnerungen sind in seinen Wänden eingeschlossen.

    »Weißt du noch? Einmal …«, murmelt sie, und ein schüchternes Lächeln umspielt ihren Mund, »als du und Atti in meiner Küche mit der Hälfte der Zutaten experimentiert habt, die ich im Laufe der Jahre mühsam zusammengestellt habe?« Ein tiefes Seufzen entweicht ihrer Kehle. »Ich war nur eine Stunde weg. Einkaufen und mit meinem Nachbarn plaudern. Aber als ich zurückkam, sah das ganze Haus aus wie ein Schlachtfeld, und es stank höllisch. Wie kann man in nur einer Stunde aus Mehl und Eiern so etwas Schreckliches fabrizieren?«

    »Ich weiß«, lacht er, »wir hatten eine seltsame Experimentierphase in der Küche. Wann war das? Wir waren … sechs? Sieben? Acht?«

    »Ihr wart schon dreizehn!«

    »Auf keinen Fall.«

    »Oh ja. Glaube mir. Ich erinnere mich noch gut. Es ist wie ein Trauma in mein Gehirn gebrannt.« Um zu verdeutlichen, dass sie Witze macht, hebt sie die Hand und streichelt Tiberius Wange, wie sie es mit ihren Söhnen getan hat. »Wochen danach habe ich immer noch eure … Kuchen gefunden. Ihr habt versucht, den Teig in meinem Ofen in Plastikboxen zu backen? Wirklich?«

    »Nun.« Er lacht laut. »Attila war schon immer schlecht in Chemie.« Er erkennt den bitteren Sinn dieses Witzes und beißt sich auf die Lippe. Attila war im Land berühmt dafür gewesen, als Geheimdienstoberst mit Chemikalien seine Opfer zu foltern. »Ich habe ihm gesagt, dass seine Idee dumm sei. Aber er wusste es besser, dieser Klugscheißer.«

    »Hm.«

    Sie brauchen fast zehn Minuten, um sich wieder einzukriegen. Sie starren mit glasigen Augen auf den Teppich, Verkehrsgeräusche dringen ans Ohr, in der oberen Wohnung stampft ein Kleinkind mit den Füßen auf, aber ihre Gedanken sind zu weit weg, um etwas zu registrieren. Nur ihre Körper sind anwesend, während ihre Gedanken in Mihailsdorf weilen, zurück in der warmen und gemütlichen Heimat der Nováks.

    »Und damals, als ihr zwei zum ersten Mal Alkohol probiert habt? Hast du gedacht, wir würden euch nicht hören, wenn ihr euch aus Attis Zimmer schleicht und in unserem Schrank nach den Schnapsflaschen stöbert?«

    »Wir dachten, wir wären die schlauesten Menschen der Welt. Und unbesiegbar.«

    »Nun, du hast deine Lektion am nächsten Morgen gelernt.«

    »Oh Gott, ja. Ich frage mich, warum wir an diesem Tag nicht auf Lebenszeit auf Alkohol verzichtet haben.«

    »Da ist noch immer ein Fleck in unserem Wohnzimmerteppich, wo du dich nachts übergeben hast, während du versucht hast, es ins Badezimmer zu schaffen.«

    »Ist nicht wahr!«

    »Ich sag’s dir doch.« Plötzlich bricht ihre Stimme. Ihre Lippen zittern. »Ist er wirklich … tot, Tibi?«

    Tiberiu erinnert sich an den Grund, warum Attila gestorben ist. Nicht seine Krankheit hat ihn getötet, sondern eine schreckliche Überreaktion. Im Augenblick des höchsten Triumphs, als Präsident Ceaușescu gestürzt wurde, erschoss ein abergläubischer Zivilist Attila. Er hatte dessen Flecken auf der fahlen Haut irrtümlich missdeutet. Ein Strigoi. Er ist ein Strigoi. Töte ihn!

    »Ja. Ja, er ist tot.«

    Ihr Schluchzen durchschneidet die Stille wie ein Messer. Tiberiu kann es nicht ertragen, sie anzusehen. Er kann auch nicht aufstehen oder sich bewegen oder etwas sagen. Er sitzt da und fummelt an den Fäden, die sich aus der Tischdecke herauslösen.

    »Er war in seinen letzten Jahren so gestresst«, flüstert sie und weint. »Isten éltese. Mein armer Sohn.«

    Ein weiterer stummer Moment vergeht. Es wird unangenehm. Tiberiu kann das nicht mehr ertragen, er sitzt neben ihr, während Schluchzer ihren Körper erschüttern, er kann sie nicht trösten. Was soll er auch tun?

    »Verzeih mir, Tiberiu.« Sie wischt sich schließlich mit ihrem Blusenärmel die Tränen ab. Die Frau Novák, die er kannte, hätte das niemals getan. »Ich sollte wahrscheinlich gehen.«

    »Soll ich … soll ich Sie nach Gara Nord begleiten?«

    Sie springt auf und sammelt ihren Mantel und ihre Handtasche ein. »Ich werde noch einen Spaziergang machen. Ich muss meine Gedanken sortieren. Alles in Ordnung. Danke«, plappert sie. Und an der Tür dreht sie sich zu ihm um und winkt ihm schüchtern zu. »Auf Wiedersehen, Tiberiu.«

    »Auf Wiedersehen, Frau Novák«, sagt er. Bitte verkaufen Sie das Haus nicht, Izabella.

    Er mied den Anblick des Stadtzentrums, nachdem er aus Bukarest zurückgekehrt war. Nur aus der Ferne erhaschte er einen flüchtigen Blick, wie die Menschen Kerzen am Kirchplatz auf der Piața Operei für die Verstorbenen anzündeten. Am Silvesterabend war der ganze Ort zu einem einzigen großen Traueraltar geworden, der an die Opfer des Aufstands von Timișoara erinnerte.

    Nachdem Frau Novák gegangen ist, verspürt Tiberiu den Drang, den Ort des Massakers erneut zu besuchen. Er findet es seltsam, einen Blumenstrauß zu kaufen und auf Attilas Grab zu legen. Was würde das auch nützen? Aber stattdessen möchte er, nein, er muss eine Kerze für ihn anzünden.

    Er schleicht sich aus der Eingangstür des Apartmentkomplexes und schaut, ob der Mann an der Telefonzelle noch da ist – und Tiberiu ist erleichtert, als er ihn nicht sieht –, dann öffnet er Attilas Auto und fährt auf der Straße über den Fluss Bega. Die Hauptverkehrsader wurde in Bulevardul 16 Decembrie 1989 umbenannt. Er schluckt bei diesem Gedanken, ein dicker Klumpen scharfen Speichels erstickt ihn.

    Ja, sie hatten keine Zeit, eine neue Regierung aufzustellen, aber sie haben es natürlich geschafft, ein neues Straßenschild zu schmieden und es einzubauen.

    In letzter Sekunde beschließt er, das Auto vor dem technischen Gymnasium zu parken und nicht in der Nähe der orthodoxen Kathedrale, wie er es ursprünglich beabsichtigt hatte. Dort haben die Leute auch Kerzen und ein paar Holzkreuze mit den Namen derjenigen aufgestellt, die vor zwei Wochen in der Cetate gestorben sind.

    Tiberiu zündet weder eine Kerze an, wie er es beabsichtigt hatte, noch hinterlässt er einen Brief, einen letzten Gruß an die Toten. Stattdessen hat er etwas mitgebracht, eine Hommage an seinen Freund, und erklimmt die Stufen seines ehemaligen Internats.

    Mit zitternden Händen, sich schützend vor der plötzlichen bitteren Kälte, die nach Weihnachten durch das Land gefegt ist, legt er Attilas Geige dort ab.

    »Leb wohl, Genosse Novák«, flüstert er, bevor er sich abwendet.

    Als er in die Strada Miron Costin zurückkehrt, steht der Mann wieder neben der Telefonzelle. Und dieses Mal geht er direkt auf Tiberiu zu.

    Er begrüßt ihn und räuspert sich dann. »Mein Herr, kennen Sie zufällig General Novák Attila?«

    Tiberiu kann ein Stirnrunzeln nicht unterdrücken. Er war noch nie gut darin, ein stoisches Soldatengesicht aufzusetzen. »Ja. Warum?« Du bist zu dumm, hört er die Stimme seines Vaters in seinem Kopf. Verdammt. Er hätte einfach verneinen sollen.

    »Ähm, wissen Sie, ob … es ein Testament gibt oder so?«

    »Oh. Ich fürchte, er … Darf ich fragen, wer Sie sind?«

    »Ich bin, ähm … ich bin ein guter Freund«, murmelt der Mann.

    »Hm. Ich verstehe.« Tiberiu nickt, die Augen auf das kantige Kinn gerichtet, die ausgehöhlten Wangen, den kleinen roten Fleck unter dem Ohrläppchen. »Ich weiß, was hier los ist«, raunzt er, »ich weiß, wer Sie sind.«

    Wie von einer Wespe gestochen stolpert der Mann zurück. Bevor er auf den Bürgersteig fällt, packt ihn Tiberiu am Arm und hilft

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