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Superior: Die Trümmer der Erleuchtung
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eBook544 Seiten6 Stunden

Superior: Die Trümmer der Erleuchtung

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Über dieses E-Book

Wenn die Gaben dunkel leuchten, gedeihen Lügen in den Schatten und die Erleuchtung liegt in Trümmern.Sky sitzt im Gefängnis und mit seinem Niedergang starben auch viele einst gehegte Hoffnungen. Doch ein neuer Plan ist geboren und Catherine und Nathan helfen Amelia bei der Umsetzung. Doch dazu muss sie nicht nur die Hürden der Superior Human Society überwinden, sondern auch ihre inneren Grenzen sprengen.Langsam erholt sich Amelia von ihrem Trauma und gewinnt Kontrolle über ihre Gaben. Die Lösung all ihrer Probleme ist zum Greifen nahe. Aber nicht alles ist, wie es scheint .Der fulminante Abschluss der Superior-TrilogieTeil 1: Superior Das dunkle Licht der GabenTeil 2: Superior Im Windschatten der LügeTeil 3: Superior - Die Trümmer der Erleuchtung
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum31. Jan. 2020
ISBN9783959912655
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    Buchvorschau

    Superior - Anne-Marie Jungwirth

    Teil 1

    1

    Amelia

    Amelia starrte ungläubig auf die ockerfarben gemusterte Tapete. Ein Hingucker war sie noch nie gewesen, aber die unzähligen Post-its, die nun dort aufgereiht wie Soldaten hingen, verliehen dem Raum etwas Groteskes.

    »Was«, fragte Amelia schaudernd und zeigte ungläubig auf die Zettel, »zum Teufel ist das?«

    »Das Scrum-Board für unser Projekt.« Catherine sagte es mit dieser Selbstverständlichkeit, mit der nur sie komplett abstruse Dinge als gesetzt darstellen konnte. Ihre Körperhaltung aufrecht, die Stimme fest, und in ihren Augen las Amelia Stolz auf das Geleistete – was auch immer das war.

    Ein neues Projekt zu haben, tat Catherine sichtlich gut, aber Amelia wusste trotzdem nicht, wie sie es finden sollte, dass sie selbst ebendieses Projekt war. »Will ich wissen, was das ist?«

    »Unbedingt.« Catherine klatschte erfreut in die Hände, trat neben Amelia und legte ihr eine Hand auf den Unterarm.

    Amelia liebte ihre Pflegeschwester, aber mit so viel Euphorie am Morgen konnte sie vor dem ersten Kaffee nur schwer umgehen. »Mhm.« Sie schlurfte an ihrer Schwester vorbei in die Küche. Das ganze Haus war so was von Siebzigerjahre, dass man manchmal versucht war, den DeLorean vor der Haustür zu suchen. In diesen vier Wänden gab es nichts Dezentes. Amelia störte das nicht, aber Catherine mit ihrer Vorliebe für gedeckte Farben machte das rasend. Die Küche war der Raum, in dem so viele grelle Farben und Muster miteinander kollidierten, dass es selbst Amelia schwerfiel, ihn morgens zu betreten. Catherine hatte die Küche deshalb »Augenkrebsraum« getauft. Und sie übertrieb nicht.

    Amelia marschierte auf den Vollautomaten zu, der auf der Arbeitsfläche der ansonsten knallorangenen Küche stand. Routiniert griff sie nach einer Tasse aus dem Schrank darüber und bereitete sich einen großen, starken Kaffee zu. Das Geräusch des Mahlwerks und der Duft der frisch aufgebrühten Bohnen weckten ihre Lebensgeister. Den Griff der Tasse fest umklammert, schlurfte sie zurück ins Wohnzimmer. Catherine betrachtete das Zettelwerk an der Wand wie eine stolze Mutter und obwohl Amelia die Art und Weise, wie sie vorging, durchaus befremdlich fand, war Catherine erfolgreich damit. Amelia hatte in den letzten Wochen gewaltige Fortschritte gemacht, beherrschte ihre Gabe in einem Ausmaß, das sie nie für möglich gehalten hätte. Am Ziel war sie – gemessen an der Post-it-Invasion an der Wand – aber noch nicht. Amelia nahm einen großen Schluck Kaffee und blickte zu Catherine. »Also, erleuchte mich.«

    »Um unserem Vorhaben etwas mehr Struktur und Richtung zu geben, habe ich das Ganze gemäß der Scrum-Methodologie aufbereitet.«

    »Hört sich an wie etwas Unanständiges. Was es vermutlich nicht ist, weil du es sonst nicht in den Mund nehmen würdest.«

    Catherine rollte mit den Augen, aber ihre Euphorie schien derart groß, dass sie es nicht schaffte, ernsthaft genervt zu sein. »Scrum ist eine Projektmanagement-Methode. Alles ist darauf ausgerichtet, Momentum, also Geschwindigkeit aufzubauen, um ein Ziel in kürzerer Zeit mit besserer Qualität zu erreichen.«

    »Wow!« Amelia nippte an ihrem Kaffee. Obwohl sie es wollte, konnte sie sich ein paar spitze Bemerkungen nicht verkneifen. »Und wie heißen die Methoden, mit denen man in längerer Zeit schlechtere Qualität erreicht?«

    »Netter Versuch. Aber ich lasse mich von dir nicht aus dem Konzept bringen. Aber nur zu deiner Information: Das wäre die Wasserfall-Methode. Nicht, dass die darauf ausgelegt wäre, kontraproduktiv zu sein. Sie ist es nur einfach, weil wir Menschen arbeiten, wie wir eben arbeiten, und nicht, wie wir dem Plan nach arbeiten sollten. Einer der entscheidenden Vorteile von Scrum ist, dass man permanent das Geleistete kritisch hinterfragt und bewertet: Wie hat man gearbeitet? Was ist gut, was ist schlecht gelaufen? Und dann versucht man, die Stolpersteine aus dem Weg zu räumen und für die nächste Arbeitseinheit alles so zu gestalten, dass man störungsfreier, effizienter und besser an seinem Ziel arbeiten kann. Diese Technik wird hauptsächlich im Bereich der Software-Entwicklung eingesetzt, aber ich wüsste wirklich nicht, warum sie uns nicht auch bei unserem Vorhaben gute Dienste leisten sollte.«

    Amelia ließ sich auf einen der senfgelben Sessel vor die Post-it-Wand gleiten. »Und wer wäre ich, dir da zu widersprechen.«

    »Ein Narr«, antwortete Catherine mit der für sie so typischen Selbstsicherheit.

    Amelia war nie jemand gewesen, der mit hängenden Schultern durch die Gegend lief und sich und ihre Meinung hinterm Berg hielt. Aber dieses Erhabene, Aufrechte, das Catherine an sich hatte … Manchmal fragte sie sich, ob das in den Superior-Genen lag oder einfach nur Erziehung war.

    Catherine setzte sich auf die Armlehne ihres Sessels und lehnte ihren Kopf an Amelias. »Ich bin stolz auf dich, Schwesterherz.«

    Amelia verschluckte sich fast an ihrer Spucke. Ein Lob von Catherine? »Wer bist du? Und was hast du mit meiner Schwester gemacht?«

    »Ach, komm. Du tust ja gerade so, als würde ich nie etwas Nettes sagen.«

    »Ich würde nicht sagen nie, aber ich glaube, ich kann die Male, in denen dir so etwas herausgerutscht ist, an meinen Fingern abzählen.«

    »Sei nicht albern.« Catherine machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich meine es ernst. Du arbeitest wirklich hart an dir und sträubst dich nicht, wenn ich etwas Neues vorschlage. Eigentlich sollte ich diejenige sein, die dich fragt, wer du bist und ob du von Außerirdischen ausgetauscht wurdest.«

    Nicht von Außerirdischen. Andererseits konnte man Brick und seine Methoden nicht wirklich als menschlich bezeichnen. Und Steve, zu dem sie ins Auto gestiegen war und der sie vergewaltigen, quälen und töten wollte … Nein, auch der war alles andere als menschlich. Amelia presste die Lippen aufeinander, blinzelte und versuchte, tief einzuatmen.

    »Oh!«, entfuhr es Catherine und sie presste sich eine Hand vor den Mund. »Es tut mir leid. Das war jetzt taktlos. Ich …«

    Amelia lächelte gequält. »Schon gut.«

    Ihr habt mich gebrochen, aber nicht zerstört.

    Ich werde wieder ganz, wieder heil.

    Aber ihr, ihr bleibt krank.

    Wenn ich euch lasse …

    Amelias Blick wurde wieder scharf und blieb an einem der Post-its vor ihr hängen. Die Feuer-Gabe auf Kommando gezielt einsetzen, stand darauf. Sie erhob sich und löste es, betrachtete es und verzog ihren Mund zu einem schiefen Lächeln. In ihrem Inneren ließ sie die Wut kochen und leitete sie von ihrer Brust in ihre rechte Hand, die den Zettel hielt. Mit geschlossenen Augen und begleitet von leisen Groll­lauten konzentrierte sie sich. Dabei versuchte sie sich die Bahnen vorzustellen, in denen ihre Gabe durch ihren Körper floss, hin zu ihren Handflächen und Fingerspitzen. Amelia spürte, wie aus der Wärme Hitze wurde und der Zettel in ihrer Hand an den Rändern Feuer fing.

    »So war das System eigentlich nicht gedacht«, sagte Catherine zurückhaltender, als es ihr ähnlich sah. »Aber Chapeau! So schnell und präzise habe ich das noch nie bei dir beobachtet.«

    Mit Genugtuung sah Amelia, wie die letzten Fetzen in ihrer Hand verglühten, bis nur noch Asche übrig war. Sie blies die Asche fort, beobachtete, wie die Partikel durch den Raum flogen. Dieser Erfolg – wenn auch ein kleiner – hatte sich gut angefühlt. Verdammt gut.

    Wenn ich euch lasse …

    Nathan

    Nathan hasste Sky dafür, dass er mit Amelia und ihren Gefühlen gespielt hatte. Natürlich auch dafür, dass er ihn mitsamt allen Superior der Vollversammlung hatte in die Luft sprengen wollen. Allerdings war das nur der Gipfel seines Wahnsinns und für Nathan weit weniger persönlich als all das, was er sich vorher geleistet hatte. Und trotzdem stand Sky auf dem Siegertreppchen seiner Hassobjekte nicht ganz oben. Um präzise zu sein, stand er auf der dritten Stufe, genau unter Brick. Nathan hatte ihn immer für das unangefochtene Scheusal gehalten, bis Amelia … Bis sie auf ein noch viel größeres gestoßen war. Es hatte Wochen gedauert, bis sich Amelia ihm geöffnet hatte. Bis er genau verstand, was auf ihrer Flucht aus Skys Sanatorium geschehen war. Nathan schauderte bei dem Gedanken, was sie ihm mithilfe ihrer Shared Brain-Gabe gezeigt hatte. Es war eine grausame Ironie des Schicksals, dass ihre neue Feuer-Gabe Rettung und Fluch gleichermaßen für sie war. Nathan selbst war nur dankbar für sie. Sollte sie ihn doch damit verbrennen, es wäre ihm gleich. Er würde sie nicht verfluchen, sondern ihr immer hoch anrechnen, dass sie Amelia vor dem Schlimmsten, was einer Frau wohl passieren konnte, bewahrt hatte.

    Nathan vergrub seine Hände in der Bauchtasche seines Hoodies. Obwohl er innerlich glühte, fröstelte er. Es war Winter und der kalte Wind pfiff durch jede Ritze der Gartenhütte. Er zog sein Smartphone aus der Tasche, als sich die Tür knarrend öffnete. Schneeflocken umwirbelten Catherine, die in einen dicken Mantel gehüllt über die Schwelle trat.

    »Na endlich!«, sagte Nathan anstelle einer Begrüßung. »Ich wollte dich gerade schon anrufen.«

    »Kann ja niemand ahnen, dass du heute zufällig pünktlich bist«, antwortete Catherine ungerührt und ließ ihre pelzbesetzte Kapuze auf die Schultern gleiten.

    Nathan verkniff sich ein Grummeln und sah nach draußen, um zu prüfen, ob Amelia sie auch nicht gesehen hatte. Keine Spur von ihr. Dafür sehr deutliche von ihm und Catherine im Schnee. Er schüttelte den Kopf und schloss die Tür. Um die Fußabdrücke würde er sich später kümmern.

    »Also?« Catherine hatte ihre Hände in die Hüften gestemmt und sah ihn auffordernd an.

    Nathan grinste genüsslich. »Das wird dir gefallen.«

    »Ich hoffe, du meinst nicht das Interieur der Hütte.«

    »Beleidigt es deine Augen?«

    »Ein wenig.« Sie schmunzelte und Nathan wusste, dass es nicht sie war, die da sprach, sondern die Fassade, die sie sich über Jahre hinweg aufgebaut hatte.

    »Ich habe die Tankstelle ausfindig gemacht«, verkündete Nathan und schon bei dem Gedanken an das, was er – was sie vorhatten, rauschte das Blut in seinen Ohren.

    »Bist du dir sicher?«

    Nathan hob eine Braue. »Ich hoffe, das war keine ernst gemeinte Frage.«

    »Nein, die ernst gemeinte Frage ist: Wann fahren wir?« Ein diebisches Grinsen breitete sich in Catherines Gesicht aus.

    Nathan musste zugeben, dass er sich in Catherine getäuscht hatte. Nicht in allen Punkten, aber doch in vielen. Vielleicht waren es auch die Ereignisse, die sie verändert, eine neue Catherine hervorgebracht hatten. »Am liebsten sofort, aber ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn wir beide fahren und Amelia allein lassen.«

    »Erstens, sie ist kein kleines Kind und wird auch nicht gern wie eines behandelt. Zweitens, du glaubst doch nicht wirklich, dass ich dich allein fahren lasse?«

    »Okay«, antwortete Nathan gedehnt. »Erstens behandele ich Amelia nicht wie ein kleines Kind. Genau wie du kümmere ich mich um sie und bin für sie da. Und zweitens, verdammt, das habe ich befürchtet.«

    »Wenn du es wirklich befürchtet hättest und es nicht wollen würdest, wärest du einfach gefahren und hättest es mir nicht vorher erzählt.«

    »Man könnte fast meinen, du kennst mich.«

    »Lässt sich nicht vermeiden, wenn man unter einem Dach lebt.«

    Nathan knuffte sie in die Seite. Er war froh, dass sich all seine Bedenken gegen diese Wohngemeinschaft in Luft aufgelöst hatten. Nie hätte er gedacht, dass er einmal so entspannt mit Catherine umgehen konnte. Sie waren mittlerweile beinahe so etwas wie … Freunde.

    »Was sagen wir Amelia?«, fragte Catherine. »Sagen wir es ihr?«

    Nathan seufzte. »Ganz ehrlich – ich habe ungern Geheimnisse vor ihr. Aber das. Ich weiß nicht, ob es ihr guttut zu wissen, was wir vorhaben.«

    Catherine nickte. »Ich würde es ihr erst sagen, wenn wir erfolgreich sind.«

    »Es ist mehr ein noch nicht als ein nicht

    »Gut«, stimmte sie zu und ließ die Hände in ihre Manteltaschen gleiten. »Was sagen wir ihr dann?«

    »Ich sage ihr, ich muss zu einer dringenden Krisensitzung ins SMC.«

    »Und ich begleite dich, weil ich für meine Masterarbeit noch etwas in der Universitätsbibliothek recherchieren will.«

    »Klingt gut.« Nathan ballte seine Hand und hielt sie Catherine als Ghettofaust entgegen.

    Wie jedes Mal, wenn er das tat, rollte Catherine mit den Augen. Dann ließ sie ihre rechte Hand aus der Tasche gleiten und erwiderte seinen Gruß, den Nathan mit einer imaginären Explosion enden ließ

    Nathan öffnete die Tür des Schuppens und trat mit Catherine ins Freie. Während sie vorausging, blieb Nathan stehen und betrachtete die Spuren. Frischer Schnee war über sie gefallen und wenn er sich den Niederschlag ansah, würden sie bald bedeckt sein. Die Kälte kroch ihm in den Nacken und in ihm zog es sich zusammen. Er wusste, dass es richtig war, Amelia nicht zu erzählen, was er und Catherine vorhatten. Es würde sie nur unnötig aufwühlen und das vermutlich sogar völlig unnötig. Und obwohl sein Kopf das alles wusste, es absolut logisch und seiner Meinung nach sogar feinfühlig war, spürte er eine Schwere auf seiner Brust. Nathan versuchte sie abzuschütteln, sich zu ermahnen, dass er es für Amelia tat.

    Catherine war bereits im Haus verschwunden. Auch Nathan marschierte nun darauf zu und betrat die Küche durch den Hintereingang. Es duftete nach Kaffee. Amelia stand in Leggins, dicken Socken und einem seiner Shirts in der Küche und nippte an einem Becher.

    »Guten Morgen«, begrüßte er sie und ging auf sie zu. Sanft zog er sie in seine Arme, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und strich ihr eine widerspenstige gelockte Strähne hinters Ohr.

    »Morgen«, murmelte sie an seinen Hals gepresst.

    »Gut geschlafen?«

    »Erstaunlich gut sogar.« Sie löste sich lächelnd von ihm und trank einen Schluck aus ihrem Becher.

    Nathan lächelte – innerlich und äußerlich. Amelia war vielleicht noch nicht wieder ganz, aber es ging ihr mit jedem Tag besser. Man konnte es sehen und spüren. Ein paar Mal hatte er sich gefragt, ob er mit dem Rachefeldzug, den er plante, schlafende Dämonen wecken und alles verschlimmern würde. Um ehrlich zu sein, wusste er es nicht. Vielleicht hätte er sie fragen sollen. Einfach so. Aber seine Angst war zu groß. Und ein Stück weit fürchtete er nicht nur, dass sein Vorhaben Amelia triggern könnte, sondern dass sie es ablehnen würde. Dass sie es ruhen lassen und vergessen wollte. Vielleicht konnte sie das. Vielleicht war es eine gesunde Art und Weise, mit der Sache abzuschließen. Er konnte es nicht. Der Dreckskerl sollte bezahlen. Für das, was er Amelia antun wollte. Für jeden widerlichen Gedanken, den er an seine geplante Tat in sich trug. Für das, was er anderen Frauen womöglich schon angetan hatte oder noch antun würde, wenn ihn niemand stoppte.

    Nathan schätzte Gesetze und Regeln sehr. Sie waren der Leim, der die Gesellschaft zusammenhielt, ohne sie würde nichts funktionieren. Er schätzte sie jedoch nicht genug, um sich das Recht auf Selbstjustiz nehmen zu lassen. Nicht generell. Aber in diesem speziellen Fall.

    2

    Amelia

    Amelia nippte an ihrem Kaffee. Sie hatte geschlafen wie ein Stein und fühlte sich an diesem Morgen tatsächlich wach und fit, was eine angenehme Abwechslung war. Zuletzt hatte sie sich morgens meistens gefühlt, als hätte man ihr erst eine Axt in den Schädel gerammt und dann noch einmal in den Magen. Während sie tagsüber ihre Gedanken ganz gut unter Kontrolle hatte, waren die Nächte immer unberechenbar. Wenn sie ihre Augen schloss, war sie Freiwild für ihre Ängste, die sie in ihren Träumen heimsuchten. Und dabei waren sie höchst abwechslungsreich. Es war nicht das eine Bild oder Motiv, das sie verfolgte. Nein, ganz im Gegenteil. Ihre Träume begannen immer harmlos, fast alltäglich, bis sie sich in eine Katastrophe verwandelten. Manchmal wurde sie von Monstern heimgesucht und manchmal war sie selbst das Monster. Beides schrecklich. Eine Nacht Pause davon war fast wie Urlaub.

    »Kein Wunder.« Nathan lächelte sie schief an. »Bei dem Programm, das Catherine auffährt, bleibt dir ja gar nichts anderes übrig, als abends todmüde ins Bett zu fallen und wie ein Stein zu schlafen.«

    »Catherine weiß eben, was ich brauche.« Es war Amelia rausgerutscht, völlig unbedacht. Natürlich war ihre Pflegeschwester in den letzten Wochen toll gewesen. Aber sie wollte damit in keiner Weise das herabwürdigen, was Nathan für sie getan hatte. Er hatte sie schließlich gerettet. Seine Geduld, seine Wärme, seine Fürsorge … Ohne ihn wäre sie immer noch ein Wrack.

    Nathan sah ihr in die Augen und obwohl er nur stumm nickte, konnte sie sehen, dass sie ihn verletzt hatte. Normalerweise wäre das der Moment, in dem sie eine anzügliche Bemerkung machte, um die Situation zu kitten. Aber irgendwie brachte sie nichts dergleichen über die Lippen. Amelia senkte den Blick und starrte in ihren Kaffee­becher.

    »Hey«, sagte Nathan und umfasste ihr Gesicht mit seinen Händen. »Schau nicht so bedrückt. Ich bin froh, dass sie da ist und dir guttut.«

    »Ich weiß.«

    Er seufzte. »Nicht nur theoretisch, sondern tatsächlich.«

    »Ich weiß.«

    »Dann sieh mich nicht an, als hättest du etwas verbrochen.« Seine Hände ruhten auf ihren Wangen und seine Berührungen und Wärme besänftigten sie.

    Amelia blinzelte eine Träne weg. Sie hasste es, dass sie immer noch so schnell emotional wurde. »Okay.«

    Nathan sah sie prüfend an und sie nickte bestätigend, während er die Hände auf ihre Schultern gleiten ließ. »Außerdem bin ich derjenige, der sich gerade schuldig fühlen sollte. Ich muss nämlich dringend weg.«

    »Wohin denn?«

    »Ins SMC. Erika hat eine Krisensitzung anberaumt.«

    »Erika?« Amelia wusste gar nicht, dass sie zurück im Medical Center war. Aber sie hatten auch nicht viel darüber geredet. »Sie ist also wieder in Boston? Mit Pandora?«

    Nathan hob die Schultern. »Sieht ganz so aus.«

    Es fühlte sich merkwürdig an, dass die beiden zurück waren und ein normales Leben führten. Was auch immer normal für die Beziehung der beiden bedeutete. Es nagte immer noch an Amelia. »Glaubst du, es geht ihr gut?«

    »Pandora?«

    »Ja.«

    »Ich weiß es nicht. Aber Erika wird sie nicht noch einmal verlieren wollen. Also vermutlich ja.«

    Es war beruhigend und irgendwie auch schmerzhaft.

    »Ich werde heute Abend wieder hier sein. Es sei denn, die Krise ist eine Katastrophe, was ich nicht hoffe.« Nathan zog Amelia an sich. »Du machst hier solange keinen Blödsinn, oder?«

    Sie musste lachen. »Blödsinn? Als ob ich Zeit für so was hätte.«

    Die Küchentür schwang auf und Catherine trat ein.

    »Da ist ja auch schon unser Drill Instructor«, neckte Nathan sie.

    Catherine wirkte ungerührt. »Nenn mich ruhig so, aber die Erfolge sprechen für sich. Wenn es Amelia zu viel wird, sagt sie schon was. Sie ist ja nicht auf den Mund gefallen.«

    »Wo sie recht hat«, pflichtete sie Catherine bei und alle lachten. Amelia war so froh, dass das hier klappte. Ihre Schwester, Nathan und sie unter einem Dach – sie hätte es nicht für möglich gehalten. Catherine war diejenige, die den Vorschlag gemacht hatte und Nathan war sofort begeistert gewesen. Schließlich bot er das perfekte Alibi, damit sie sich sehen konnten, ohne dafür große Ablenkungs­manöver zu benötigen. Denn die offizielle Version lautete: Catherine zog sich in dieses Haus zurück, um hier in Ruhe an ihrer Masterarbeit zu schreiben. Dass Nathan sie am Wochenende besuchte, erregte keinen Verdacht. Er war ihr Erwählter und die Tatsache, dass die beiden nun mehr Zeit miteinander verbrachten, beruhigte die meisten wohl mehr als dass es sie beunruhigte. Aber gerade dieses Band zwischen den beiden hatte Amelia zu Beginn zweifeln lassen. Doch Catherine erstaunte sie jeden Tag aufs Neue. Zumindest nach außen hin schien sie ihre Kränkung über Bord geworfen zu haben und widmete all ihre Energie Amelia und ihrem gemeinsamen Ziel, ihre Gaben aufzubauen und sie zum neuen Oberhaupt der SHS zu machen. Selbst wenn sie es nicht laut aussprach – für Amelia klang der Plan immer noch verrückt. Aber Catherine war so überzeugt davon, dass es irgendwie für sie alle reichte. Im Moment zumindest. Manchmal fragte sich Amelia, ob unter dieser funktionierenden Oberfläche, auf der sie sich bewegten, etwas brodelte. Vielleicht waren sie ein See, unter dessen gefrorener Decke ein Schwarm toter Fische trieb, und wenn die Decke schmolz, würde ihr fauliger Gestank ihnen die Luft nehmen. Amelia wusste, dass unter ihrem Panzer die Funken flogen. Auch wenn sie nur wenig und ungern darüber sprach – ein Geheimnis war das nicht. Doch was war mit den anderen?

    Hatte Catherine Nathans Zurückweisung und ihren Verrat wirklich überwunden? Oder klaffte eine Wunde in ihr und sie mussten aufpassen, dass sie nicht aufriss oder eiterte?

    Und was war mit Nathan? Er hatte sich so ruhig und protestlos in all das eingefügt. Was, wenn es in ihm ganz anders aussah und er es auf Rücksicht auf Amelias Situation für sich behielt? Manchmal hatte sie Angst, an ihren Befürchtungen könnte wirklich etwas dran sein. Manchmal zuckte in ihr das Bedürfnis, daran zu bohren. Am Ende ließ sie es aber immer und hoffte, dass das Eis sie trug und der Winter lang werden würde. Sie hatte nicht die Kraft – und wenn sie ehrlich war auch nicht den Mut –, sich damit zu befassen. Womöglich war aber auch nichts dran an ihren Sorgen und unter der Oberfläche ihres Sees war – abgesehen von Amelias trübem Eck – nichts als klares Wasser.

    »Ich muss leider nach Boston«, sagte Nathan an Catherine gewandt. »Ich hoffe, ihr kommt hier klar.«

    Catherine brachte theatralisch die Hand an ihr Herz. »Ohne einen Mann im Haus?«

    Vielleicht redete sich Amelia das alles nur ein. Catherine setzte Sarkasmus für gewöhnlich nur gegenüber Menschen ein, die ihr sehr nahestanden. Genau genommen war er exklusiv für Amelia reserviert gewesen. Dass nun auch Nathan in den Genuss davon kam, war ein gutes Zeichen. Und sie würde auch nicht so mit ihm reden, wenn es noch ungeklärte Gefühle zwischen den beiden geben würde. Dann wäre sie viel sachlicher. Catherine eben.

    »Ich denke, das werden wir schaffen.« Amelia biss sich auf die Unterlippe und unterdrückte ein Lachen.

    Nathan verschränkte seine Arme vor der Brust. »Schön, wenn man gebraucht wird.«

    »Du solltest mich gut genug kennen, um zu wissen, dass diese fishing for compliments-Masche nicht bei mir zieht.«

    »Obwohl du meine Verzweiflung spürst.«

    »Jep.« Amelia musste schmunzeln. »Verzweifelte Männer sind total unsexy.«

    »Unsexy?«, fragte Nathan gespielt theatralisch.

    »Total unsexy«, bestätigte Catherine trocken.

    »Vielleicht habe ich ja gar keinen dringenden Termin im SMC, sondern suche nur einfach einen ruhigen Platz zum Weinen, weil ihr zwei mich mobbt.«

    Amelia lehnte ihren Kopf an Nathans Schulter und lachte in seinen Pullover. »Als ob dich irgendjemand mobben könnte.« Der Gedanke, dass man Nathan mit Worten treffen oder aus der Fassung bringen könnte, erschien Amelia mehr als unwahrscheinlich.

    »Die meisten Menschen sind mir tatsächlich nicht wichtig genug dafür.« Er zog Amelia an sich und strich ihr sanft über die Schultern und Arme bis hin zu ihren Händen, die er umfasste und drückte, ohne dass Amelia zurückzuckte. »Die meisten.«

    Amelia blickte auf ihre Hände, deren Finger miteinander verschränkt waren. Wie sehr sie diesen Mann liebte.

    »Amy«, unterbrach Catherine ihren Moment. »Ich müsste dringend mal in die Universitätsbibliothek und ein paar Themen recherchieren.« Sie kratze sich an der Stirn und sah Amelia schuldbewusst an. »Wäre es okay für dich, wenn ich mitfahre und du allein hierbleibst?«

    »Klar.« Amelia antwortete aus dem Bauch heraus, aber es fühlte sich ausgesprochen gut an. Sie war seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr allein gewesen. Nach Einsamkeit gesehnt hatte sie sich in den letzten Wochen auch nicht, vielleicht tat ihr das mal wieder gut.

    »Sicher?«, fragte Catherine.

    »Sicher. Ich komme klar.«

    Nathan betrachtete sie skeptisch.

    »Wenn ich es doch sage.« Es war ja wirklich süß, dass er sich so um sie sorgte. Aber nur weil sie mal einen Tag allein war, würde sie sich nicht plötzlich ein Bad einlassen, das sie mit Aspirin und Rasierklingen genießen wollte. Ihr ging es gut – den Umständen entsprechend. Und abgesehen von ihrem Seelenheil brauchte man sich hier wirklich um nichts zu sorgen. Ihr Haus war so abgeschieden, dass Amelia ohne Auto noch nicht einmal bis zum nächsten Supermarkt kam. Wenn sie ganz wild drauf wäre, könnte sie mit ein paar Eichhörnchen und Rehen um die Häuser – oder besser gesagt um die Bäume – ziehen.

    »Ich mach mir eben Sorgen.«

    »Das wiederum«, sie stellte sich auf die Zehenspitzen und presste einen Kuss auf seine warmen Lippen, »ist verdammt sexy.«

    »Findest du?«

    Sie nickte und küsste ihn aus Rücksicht auf Catherine nicht so, wie sie es gern getan hätte. Die Lage mochte zwar entspannt sein, aber man musste kein Öl ins Feuer gießen. Wie ihre Pflegeschwester sich verhielt, war groß und Amelia würde nicht darauf herumtrampeln, indem sie sich klein verhielt.

    Catherine

    Catherine kam sich schäbig vor, weil sie Amelia vorsätzlich belog. Aber Nathan hatte recht. Sie hatten zwar eine Spur, wussten aber nicht, ob die heiß war oder nicht. Wenn sie kalt war und sie an der Tankstelle nicht weiterkamen, würden sie Amelia völlig umsonst aufwühlen. Und das war das Letzte, das sie gebrauchen konnte. Amelia war gerade dabei, sich wieder aufzurappeln. Ihr zu sagen, was sie vorhatten, wäre wie ein Tritt, der sie zurück zu Boden befördern würde.

    Sie saßen seit knapp zwei Stunden im Auto. Nathan hatte herausgefunden, dass die Tankstelle, an der Amelia in das Auto von diesem Steve gestiegen war, in Chicopee lag und ihr GPS zeigte an, dass sie in fünf Minuten ihr Ziel erreichen würden.

    Viel hatten sie während der Fahrt nicht geredet. Doch das Schweigen zwischen ihnen war nicht so unangenehm, wie es noch vor einigen Wochen gewesen wäre. Wenn es nicht um ihre Schwester ging, hatten sie nichts zu bereden. Manchmal wunderte sie sich, dass er und Amelia sich so viel zu sagen hatten. Ganz nüchtern betrachtet – und Catherine bemühte sich wirklich, objektiv zu sein – hatten die beiden kaum etwas gemeinsam. Sie und Nathan hingegen … hatten vielleicht auch nichts gemeinsam. Sie waren Superior mit einer machtvollen Gabe, einem hohen Scoring und einem noch höheren Simulation Scoring. Aber sonst? Sie verstanden sich mittlerweile ganz gut, aber wenn sie ehrlich war, ging er ihr oft auf die Nerven. Insbesondere sein unerschütterliches Selbstbewusstsein machte sie manchmal rasend. Doch obwohl er seine Überlegenheit ständig heraushängen ließ, war sein Verhalten Amelia gegenüber anders. Nicht, dass er sich für sie kleiner machte, als er war. Bei allem, was er tat und sagte, vermittelte er Amelia nur nie das Gefühl, sie wäre ihm unterlegen. Das musste Catherine ihm hoch anrechnen.

    »Wir sind gleich da«, unterbrach Nathan die Stille.

    Catherine nickte und sah zwischen dem GPS und der Straße hin und her. Sie konnte die Tankstelle auf der gegenüberliegenden Straßen­seite bereits sehen. »Glaubst du, sie haben die Bänder noch?«

    Nathan zuckte mit den Schultern. »Wir werden sehen. Die Bänder könnten täglich, wöchentlich, monatlich oder quartalsweise überschrieben werden.«

    »Dann hoffen wir mal auf Letzteres.« Sie brauchten nur sein Kennzeichen und dann … Genau wusste Catherine nicht, was sie mit ihm machen würden. Aber sie war sich sicher, dass ihre Gabe, die Körperfunktionen anderer zu beeinflussen, zum Einsatz käme. Sie fühlte sich gut dabei. Wenn man so wollte, stand das sogar im Einklang mit den Regeln zur Gabennutzung. Dieses Schwein wollte sich erstens an einer Superia vergreifen und könnte zweitens, weil er Beweise für ihre Existenz an seinem Leib trug, zu einer Gefahr für sie werden. Im Prinzip war dies eine Mission, die sie und Nathan einfach erfüllen mussten. Würde die SHS wissen, dass Amelia noch lebte und was passiert war, hätte man sicherlich schon einen Trupp nach diesem Abschaum ausgeschickt.

    Nathan bog rechts ab und rollte auf die Auffahrt der Tankstelle. Er fuhr ganz nach vorne und hielt auf einem der markierten Parkplätze. Der Motor verstummte und Nathan sah sie an. »Dann wollen wir mal.«

    Sie stiegen aus und betraten den Shop. Der Kassierer hatte die Ellbogen auf die Theke gestützt und sah auf sein Handy statt zu ihnen. »Guten Tag«, begrüßte Catherine ihn mit der süßesten Stimme, die sie zu bieten hatte.

    »Guten Tag«, erwiderte er und verstaute sein Smartphone in der Hosentasche. »Wie kann ich euch helfen?«

    Catherine trat an den Tresen und lehnte sich über ihn. Besonders gut war sie nie im Flirten gewesen, aber wenn diese Waffe versagte, hatte sie ja noch andere. »Ich habe da eine etwas ungewöhnliche Bitte.«

    Der Tankwart lächelte sie erwartungsvoll an. »Ich bin ganz Ohr.«

    »Wir brauchen Ihre Überwachungsvideos vom zweiten September«, sagte Nathan und trat neben sie.

    »Überwachungsvideo? Vom zweiten September?«, wiederholte er und kratzte sich am Kopf.

    Catherine hoffte wirklich, dass Nathan jetzt nichts Beleidigendes rausrutschte. »Ja, genau.« Glück gehabt.

    Der Mann ging einen Schritt zurück, verschränkte seine Arme vor der Brust und musterte sie beide skeptisch. »Wieso? Seid ihr Cops?«

    »Nein, das Ganze ist etwas delikat.« Catherine räusperte sich. »Ich weiß gar nicht so recht, wo ich anfangen soll.«

    »Hast du eine Freundin?«, machte Nathan an ihrer Stelle den Anfang. »Oder eine Schwester?«

    Der Kassierer sah sie an, als wären sie übergeschnappt und verdenken konnte Catherine es ihm nicht. »Beides«, antwortete er trotzdem.

    »Gut.« Nathan seufzte. »Was würdest du tun, wenn ihr jemand etwas antut?«

    Der Mann musterte Nathan, als würde er abwägen, ob das eine Fangfrage war.

    »Meiner Freundin und«, Nathan zeigte auf Catherine, »ihrer Schwester wären nämlich beinahe etwas Schreckliches passiert. Durch einen Typen, den sie hier, an dieser Tankstelle, am zweiten September kennengelernt haben. Und er läuft noch immer frei herum.«

    Verunsichert sah der Kerl sie an. »Ich kann euch leider nicht helfen.«

    »Weil wir keine Cops sind?«, fragte Catherine.

    »Ja, vielleicht«, gab er zurück. »Aber das ist nicht der Punkt. Es ist zu lange her.«

    »Sind die Bänder schon überschrieben?«

    Er nickte. »Ja, die Aufnahmen werden nur sieben Tage lang auf unserem Server gespeichert.«

    »Verdammt!« Nathan raufte sich die Haare.

    Der Tankwart wirkte unerwarteterweise so zerknirscht, wie sich Catherine gerade fühlte. »Tut mir ehrlich leid.«

    Nathan wandte sich ab und verließ fluchend die Tankstelle.

    »Danke trotzdem.« Catherine schenkte dem Mann ein Lächeln und folgte Nathan nach draußen.

    Er lehnte an seinen Wagen und wirkte traurig. »Ich hab’s befürchtet. Das ist schließlich der klassische Zyklus für ein rollierendes Back-up dieser Dateigrößen.« Er trat mit seinem Fuß nach hinten gegen einen der Reifen. »Wir sind zu spät. Wir hätten verdammt noch mal früher hier sein müssen.«

    »Wir konnten nicht früher hier sein«, beschwichtigte sie ihn.

    »Aber wir hätten …«

    »Eigentlich hätte Amelia ihn anzeigen sollen. Eigentlich hätte er jetzt schon in einer Zelle sitzen und nach seiner Mami weinen sollen.« Aber so einfach war die Lage nicht. Amelia war tot und keine ihrer gefälschten Identitäten war so gut, um damit Anzeige erstatten zu können. Und selbst wenn eine es wäre … Amelia hätte vermutlich trotzdem gezögert. Wie hätte sie der Polizei – oder irgendwem – die eingebrannten Handabdrücke am Hals des Mannes erklären sollen? Die Tatsache, dass die Lage war, wie sie war, machte Catherine rasend und nur zu gern hätte sie deshalb zusammen mit Nathan für Gerechtig­keit gesorgt. »Wir sind noch nicht am Ende.«

    »Sind wir nicht«, stimmte Nathan ihr zu.

    »Wir werden ihn finden – irgendwie.«

    »Verlass dich drauf.«

    Beide stiegen ins Auto und fuhren nach Hause. Die Rückfahrt war noch schweigsamer als die Hinfahrt. Doch Catherine konnte förmlich sehen, wie Nathans Hirn arbeitete. Wie es nach einer Lösung suchte, Wege errechnete und wieder verwarf. Wenn irgendjemand den Kerl trotz fehlender Spur finden konnte, dann Nathan. Und sie würde ihm helfen. Wofür auch immer er sie dabei brauchte. Ohne mit der Wimper zu zucken.

    3

    Amelia

    Amelia saß im Schneidersitz auf dem Boden und starrte auf die mit Post-its tapezierte Wand vor ihr. Ihr Scrum-Board, wie Catherine es nannte. Sie fand immer noch, dass sich Scrum anhörte wie ein Schimpfwort, aber sie hatte sich darauf eingelassen und in kurzer Zeit Erfolge verbucht, die sie vorher nicht für möglich gehalten hätte.

    Auf den Zetteln standen Aufgaben. Oder besser gesagt Teil­aufgaben. Gemeinsam hatten sie jedes zu meisternde Ziel in winzig kleine Schritte unterteilt. So klein, dass sie praktisch nicht mehr teilbar waren. Es war, als wären an der Wand vor ihr die Atome, aus denen sich die einzelnen Elemente ihrer Gaben zusammensetzten. Zumindest für den Teil, auf den sie sich gerade konzentrierten. An ihrer Shared Brain-Gabe konnte sie allein nicht arbeiten. Also theoretisch schon. Schließlich könnte sie versuchen, sie über eine Distanz hinweg einzusetzen. Mit Pandora hatte das schon zweimal funktioniert. Aktiv hatte Amelia diese Verbindung jedoch nie aufgebaut. Die Bilder waren einfach zu ihr gekommen.

    Abgesehen davon, dass Amelia nicht an den Erfolg glaubte, war diese Eigenschaft auch nicht Teil ihres Sprints. Als Sprint bezeichnete Catherine das Zeitintervall, in dem sie intensiv vorzeigbare Ergebnisse zu einem bestimmten Themenbereich erzielen wollten und deshalb all ihre Anstrengungen nur darauf ausrichteten. Für beide ihrer Gaben hatten sie sich einen sehr spezifischen Aspekt für ihren Sprint, der am Sonntag endete, herausgepickt. Für ihre Shared Brain-Gabe war es, sich in für sie verschlossene Gehirne einzuschleichen, ohne dass ihr übel wurde. Die einzelnen Aufgaben hierfür klebten auf blauen Zetteln an der Wand. Für ihre Feuergabe hatten sie sich auf die Umlenkung von Wut geeinigt. Passenderweise waren die Post-its hierfür rot. Amelia war froh, dass die meisten Aktivitäten darauf abzielten, genau zu identifizieren, wann und wie sich die Gabe aktivierte, und dann einen Weg zu finden, ihre Energie umzuleiten und somit unschädlich zu machen.

    Amelia nahm den ersten roten Zettel von der Wand.

    Sei wütend und identifiziere, wie sich die Gabe bemerkbar macht, bevor sie sich tatsächlich aktiviert.

    Gab es ein solches Anzeichen? Wie das leise Klicken in ihrem Kopf, mit dem sich die Shared Brain-Gabe bemerkbar machte? Laut Catherine gab es so etwas für jede Gabe, auch wenn nicht jeder Notiz davon nahm. Um nicht versehentlich irgendwas oder irgendwen zu grillen, musste Amelia dem jedoch genau auf den Grund gehen.

    »Dann legen wir mal los«, sagte sie zu dem Post-it in ihrer Hand.

    Sie schloss die Augen und überlegte. Wut. Eigentlich sollte man meinen, dass es für sie ein Kinderspiel wäre, dieses Gefühl heraufzubeschwören. Es gab schließlich verdammt noch einmal genug Gründe für sie, wütend zu werden. So viele Menschen, die sie belogen und hintergangen hatten. Sie erst als wertlos abgestempelt und dann gequält und gejagt hatten.

    Sie musste sich auf eine Sache konzentrieren. Bei näherer Betrachtung lösten nicht alle diese Ereignisse Wut aus. Manche auch Trauer, Angst und Selbsthass. Was war was? War sie wütend auf Pandora oder war sie traurig, dass ihre Zwillingsschwester sie verlassen hatte? War sie wütend auf Brick oder hasste sie ihn einfach nur abgrundtief? Gab es da überhaupt einen Unterschied? Laut Catherine schon. Dass Gefühle kompliziert waren, wusste sie. Aber wie sehr …

    Sie war wütend, dass man ihr Leben zerstört hatte, dass sie sich ständig verstecken musste und alles plötzlich so schwer, ernst und gewichtig war. Völlig egal, welches Gesicht sie mit diesem Gefühl verband, ob das von Brick oder von Erika. Sie spürte die Wut, die ihre Flammen nährte, und … Zu spät! Ihre Hände glühten bereits und der Klebezettel hatte sich an einigen Stellen dunkel gefärbt. Wenn es tatsächlich ein Anzeichen gab, hatte sie es übersehen.

    Gleich noch mal, hörte sie Catherines Stimme in ihrem Kopf. Irgendwie schaffte ihre Schwester es, sie anzutreiben, selbst wenn sie gar nicht anwesend war.

    Mach schön langsam. Konzentriere dich nur auf eine Sache und schenke ihr deine ganze Aufmerksamkeit.

    »Ist ja schon gut, Fantasie-Catherine.« Amelia seufzte und stand auf. Mit dem ramponierten Zettel in der Hand schlurfte sie in die Küche. Ihr Magen knurrte und sie brauchte dringend etwas zum Mittagessen. Sie öffnete den Vorratsschrank und ließ ihren Blick über die Regale gleiten. Zufrieden nahm sie eine Tüte Chips und einen Reese’s Pieces-Riegel heraus. Hauptgang und Nachtisch. Amelia liebte einfach zuzubereitende Mahlzeiten und die beiden Snacks hatten alles – na ja, fast alles –, was der Körper brauchte. Kohlenhydrate, Energie und in

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