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Opus Sanguis
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eBook362 Seiten4 Stunden

Opus Sanguis

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Über dieses E-Book

Dies sind die Abenteuer des jungen Studenten Will, der auf der Suche nach seiner verlorenen Geliebten, im Los Angeles der Zukunft, in die geheime Welt der Vampire und anderer Mythen gerät. Erst spät entdeckt er eine Gefahr, die von dieser Schattenwelt ausgeht und die die Existenz der gesamten Menschheit bedroht und er erkennt, daß er eine Schlüsselrolle darin spielt.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum1. Nov. 2019
ISBN9783750248618
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    Buchvorschau

    Opus Sanguis - Carsten Pawoehner

    Prolog

    Blutschuld

    Als Will erwachte, wusste er nicht, wo er war. Nur ein anhaltender Schrei in der Nacht. Wie eine Rückkopplung in seinem Gehirn. Er war in seinem Bett. Sein nackter Oberkörper lag frei; die Bettdecke hatte er während des Schlafs beiseite geworfen; es war Hochsommer und die Klimaanlage defekt. Elektronikmusik im Esoterik-Stil klang aus seinem Kopfhörer. Sein Sleep-Inducer stand auf Standby. Schaltete sich automatisch ein, wenn er aufwachte, sich seine Gehirnwellen von Delta nach Alpha bewegten.

    Etwas stimmte nicht in diesem Zimmer. Im Mondlicht, das durch das Fenster fiel, sah er zwei Schemen. Zwei? Nur Lily und er konnten in der Wohnung sein. Ruckartige Bewegungen der zwei Gestalten. Sie kämpften! Bizarrer Kontrast zum Synthie-Gedudel. Ängstlich und verwirrt griff er zum Schalter der Nachttischlampe, riss die Kopfhörer des Inducers vom Kopf und setzte seine Brille auf.

    Als sein Blick auf die zwei Gestalten traf, verkrampfte sich sein Magen. Die andere Gestalt neben seiner Geliebten nahm er nur als formlose, undefinierbare Masse wahr. Noch während er den Willen fasste, Lily zu Hilfe zu eilen, hatte der Schatten seine Geliebte überwältigt, sie mit dem Rücken zu ihm gedreht und fest im Griff. Hinter ihr zwei rotglühende Augen, die Will erbarmungslos anstarrten.

    Etwas Kaltes fuhr über seinen Körper und er spürte eine noch nie gekannte Angst. Er wollte aufstehen, Lily retten, doch er konnte nicht. Mit letzter Kraft der Verzweiflung versuchte er, auf den Schatten einzureden, doch er brachte außer einem Krächzen keinen Ton heraus. Irgendeine fremde Macht lag auf seinem Willen. Was war das?

    Wie gelähmt lag Will auf seinem Bett und musste mit ansehen, wie Lily dem namenlosen Schatten willenlos ausgeliefert war. Auch Lily bekam kein Wort aus ihrem hübschen Mund. Langsam senkte sich der Kopf des Schattens an ihren Hals. Zwei lange Schneidezähne blitzten im Zwielicht des Mondes und versenkten sich in ihrem weißen Hals. Will hörte saugende und schlürfende Geräusche. Konnte nicht begreifen, was hier vor sich ging. Er hatte das Gefühl, als würde etwas langsam aber stetig aus seinem Körper gerissen. Stattdessen machte sich Panik breit. Lilys Verhalten änderte sich. Zuerst nur unscheinbar, dann immer intensiver gingen ihre krampfhaften Abwehrversuche in wollüstige Bewegungen über. Analog dazu ein Gefühl, als würde sie ihm entgleiten. Plötzlich hob das Wesen seinen Kopf und flüsterte etwas in Lilys Ohr. Sie nickte. Und lächelte! Die Gestalt schnitt sich mit einer seiner Krallen in sein linkes Handgelenk. Blut quoll daraus hervor und er setzte es an ihren Mund. Lily saugte. Gierig! Will sah ein letztes Aufflackern in ihren Augen. Dann verkrampfte sich ihr Körper und nur wenig später blickten ihre Augen starr zur Decke. Schließlich hing ihr Körper schlaff in den Armen des namenlosen Entsetzens. Tränen der Verzweiflung und der Schuld lagen in Wills Augen. Langsam aber trat noch ein drittes Gefühl hinzu: Wut! Wut auf das schattenhafte Wesen, das nun vor ihm stand.

    Als hätte es Wills Gedanken gelesen, ließ es die leblose Gestalt in seinen Armen los, die nun auf den Teppich fiel. Es ging langsam auf ihn zu, legte seine eiskalte Hand auf Wills Stirn und hauchte nur zwei Worte: »Schlaf jetzt!«

    Will erwachte in der Dunkelheit, die ausgefüllt war von den Sternen am Himmel. Jeder Stern unendlich weit weg. Er trieb durch die unendlichen Weiten. Trotzdem kam er keinem Stern näher.

    Dann wurde die Dunkelheit des Alls allmählich rot, tiefrot. Der Raum krümmte sich. Er hatte den Eindruck, als würde er auf einen bestimmten Punkt zurasen und sah die Ursache für die Krümmung: Ein schwarzes Loch. Freudige Erwartung auf das Aufeinandertreffen. Je näher er dem Loch kam, desto weniger fühlte er. Dann umgab ihn Dunkelheit, willkommene Dunkelheit. Kein Schmerz mehr.

    Rückblickend konnte er sich an die folgenden Wochen nur verschwommen und bruchstückhaft erinnern. Schemenhafte und hastige Aufnahmen entspannter Gesichter in den einschlägigsten Clubs der Stadt: Nachdem Lily nicht gefunden wurde und er bei der Polizei eine Vermisstenanzeige aufgegeben und ihnen den wahren Vorfall vorenthalten hatte – die Cops hätten ihn sowieso für verrückt erklärt –, plante er zunächst, in den Nachtclubs und Diskotheken von L.A. nach Anhaltspunkten ihrer Existenz zu suchen. Angehörige von Lily brauchte er nicht zu informieren, denn soweit er wusste, war da niemand. Er hatte sie in einer Spielhalle im Stadtkern von L.A. kennengelernt. Lebhafte Erinnerungen schossen jetzt auf ihn ein, wie die an ihre erste Begegnung an einem Automat, an dem

    sie hektisch spielte, ihr Gesicht ätherisch angestrahlt.

    Sie war neunzehn, hatte keine Arbeit und ließ sich vom Leben treiben. Er nahm sie bei sich auf.

    Bei seinem Arbeitgeber, einer Bio-Technologie-Firma namens ›DNA-Network‹ mit Spezialisierung auf technische Bio-Implantate, nahm er jetzt unbezahlten Urlaub; eine nicht gerade kleine Summe Geld, die er in den letzten Jahren zusammengespart hatte, ermöglichte es ihm, kurzfristig ohne Einkommen zu leben. Während der Dauer seines Urlaubs wurde ihm eine Wohnung in der Arkologie zugewiesen, einem riesigen Areal so groß wie eine Stadt, ein autarkes Konstrukt mit eigenen Fabrik-,Versorgungs- und Wohnanlagen.

    In einem Labor, das die Kompatibilität von Bioimplantaten im menschlichen Organismus erforschte, bediente er den DNA-Synthesizer zur Bestimmung und Ableitung von Aminosäure- und Basensequenzen. Vor dem Verschwinden von Lily hatte er geplant, sein Bachelorstudium in ›Genetik mit Anwendung im technischen Bereich‹ abzuschließen, das ›DNA-Network‹ finanzierte, und dann, wie es der Arbeitsvertrag vorsah, mindestens fünf Jahre mit fester Anstellung bei dieser Firma zu arbeiten.

    Darauf  hatte er sich gefreut. Das war sein Leben. Auch wenn nicht alles so reibungslos gelaufen war, er hatte sich in einen wahren Rausch gearbeitet, Dutzende von Aminosäuresequenzen auswendig gelernt, nur um so schnell wie sein DNA-Synthesizer zu sein. Es war wie ein Fiebertraum, denn zu seinem regulären Studium kam noch sein Hobby: Videospiele. Immer mehr hatte er sich in den virtuellen Welten seiner Spielekonsole verloren und kaum noch Zeit für seine Geliebte, worunter in zunehmendem Maße ihre Beziehung litt. Obwohl er Lily liebte, entfernte er sich von ihr. Er wollte die gesamte Natur erforschen und buchstäblich auswendig lernen, damit er sie und damit auch Lily so unverfälscht wie möglich über die Sinne aufnehmen konnte. Implantate, die das gleiche bewirken, wollte er nicht; er war moralisch davon überzeugt, diesen Effekt auf einem natürlichen, evolutionären

    Weg zu erreichen.

    Blutdurst

    Doch nun war Lily verschwunden. Vielleicht halfen ihm sein Wissen, seine Erfahrungen und seine Sinne weiter. Vielleicht auch nicht. Als er fast jegliche Hoffnung aufgegeben hatte, entdeckte er in einer Spätsommernacht ihre erste Spur im ›Dissident‹, einem Club, der seine besten Zeiten schon hinter sich hatte, oder vielmehr in einer dunklen Hintergasse des Clubs, neben einer alten Mauer, auf der Fluoreszenz-Strahler angebracht waren. Nachtfalter schwirrten vom Licht angezogen um die Strahler, ganz so, als würden sie im Takt der dumpfen Beats, die aus dem Eingang des Clubs ertönten, tanzen.

    Er hatte nur einen flüchtigen Blick auf Lily erhaschen können, hatte gesehen, wie sie die letzten Stufen schnell hinunterstieg, fast schwerelos, und im Clubeingang verschwand. Sie sah anders aus, trug ein sexy enganliegendes dunkles Kleid und ihre langen, fast schwarzen Haare waren – anders als sonst – zusammengesteckt. Aber der Grundeindruck war derselbe; ein inneres Gefühl sagte ihm, dass sie es war.

    Der Türsteher ließ ihn mit missbilligendem Blick direkt durch. Ein paar Stunden früher hätte Will inmitten der wartenden Clubbesucher wahrscheinlich weniger Glück gehabt. Ohne seinen Laborkittel sah er aus wie ein Freak und nicht wie ein Kerl, den Türsteher mochten. Keines seiner Kleidungsstücke passte zum anderen. Heute trug er ein blaues T-Shirt mit schriller gelber Aufschrift ›Get Wet‹ zu einer grünen Cord-Hose. Ihm war es egal.

    Er nahm die Stufen, manchmal zwei auf einmal, mit ungeduldigen und langen Schritten. Betäubt und hypnotisiert von den Beats, die immer lauter wurden, betrat er endlich das Innere des Clubs und fand sich in einem langen Flur wieder: Auf der rechten und linken Seite war je ein Durchgang, über dem in grünen Neonlettern ›Cyber-Rooms‹ stand. Da Lily nicht auf Cyber-Filme stand, ging er weiter geradeaus, der lauten Musik entgegen, auf einen dritten Durchgang zu, der zum Bar- und Tanz-Bereich führte.

    Vom Eingang aus observierte er die große Tanzfläche auf der rechten Seite mit etwa drei Dutzend Menschen, die schweißtreibende Tanzriten im Takt der Beats vollführten. Seine ruhelosen Augen wanderten weiter nach links, zur Bar. Sein Herz setzte für einen Schlag aus, als er sie sah, wie sie gerade auf einem Barhocker Platz nahm, lässig einen Arm auf den Tresen lehnte und ihre schlanken Beine übereinanderschlug. Sie drehte sich um und schaute Will direkt in die Augen. Er winkte und rief dabei ihren Namen. Doch anstatt seine Begrüßung zu erwidern, widmete sie sich dem Barkeeper und bestellte etwas. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals. Wie erstarrt blieb er neben dem Durchgang stehen und betrachtete sie nun genauer mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu. Obwohl die Modifikationen ihres Aussehens nur dezent waren – eine andere Frisur, sexy Outfit, mehr Make-up – und sie im Wesentlichen noch als Lily zu erkennen war, hatte sich etwas Unscheinbares aber doch Essentielles an ihr verändert. Etwas, das er nicht konkretisieren konnte.

    Er verfluchte seine Schüchternheit und Furcht. Sie kannten sich, hatten zusammen gelebt … und doch war er überzeugt, etwas zu verlieren, sollte er den Mut aufbringen, sie anzusprechen: Wenn sich in einem Gespräch mit ihr bestätigen würde, dass sie es wäre, würde es bedeuten, dass Lily sich zumindest so verändert hatte, dass sie Will nicht mehr liebte, was er ohnehin vermutete. Er – als etwas weltfremder Mensch – hat sie immer als Abstraktum, als unnahbare Muse wahrgenommen. Und wenn sie es nicht war? So oder so würden seine Hoffnungen begraben sein. Doch was nutzte ihm der Status quo? War Hoffnung tatsächlich besser als Gewissheit? Also gab er sich einen Ruck und beschloss, der Lady erst einmal einen Drink zu bestellen. So konnte er sich ihr vorsichtig nähern und ihre Aufmerksamkeit auf ihn lenken. Denn irgendetwas musste er schließlich tun.

    »Einen Headbreaker und der nächste Drink der Lady geht auf mich«, wies er den Barkeeper an und setzte sich einige Meter von ihr entfernt auf einen freien Hocker. Mit verstohlenem Blick schaute er in den halb durch Flaschen verdeckten Spiegel hinter dem Tresen, sodass er einen Blick auf sie erhaschen konnte. Aber an der Stelle, wo sie sein sollte, war nichts zu sehen. Nervös fuhr er mit einer Hand durch seine langen braunen, nach hinten gekämmten Haare und betrachtete sich im Spiegel. Seit Lilys Verschwinden war er nicht mehr beim Friseur gewesen. Früher trug er einen linken Scheitel.

    Verärgert darüber, dass die Flaschen den Blick zu ihr verdeckten, wandte er sich ihr zu, um ihre Reaktion auf seine Bestellung zu beobachten.

    Als der Barkeeper sie ansprach und auf Will zeigte, schüttelte sie mit ausdrucksloser Miene ihren Kopf. Enttäuscht wandte Will sich wieder von ihr ab und widmete sich seinem Drink, um über neue Taktiken der Annäherung zu grübeln. Nach einer Weile kam es ihm in den Sinn, dass sie in Gefahr sein könnte und ihn deswegen nicht beachtete. Ihr Verschwinden war alles andere als unspektakulär gewesen, vielleicht wollte sie ihn nicht in etwas hineinziehen. Vielleicht brauchte sie seine Hilfe!? Sofort überkamen ihn Schuldgefühle, weil ihm seine bisherigen Gedankengänge zu egoistisch vorkamen. Entschlossen, sie jetzt endlich anzusprechen und zur Rede zu stellen, wandte er sich ihr mit offenem redebereiten Mund zu. Doch sie war nicht mehr da. Verwirrt schaute er sich um und sah, wie sie gerade elegant in die tanzende Menge eintauchte und sich geschickt durch sie hindurchschlängelte wie ein verspielter Delphin in den Fluten des Meeres. Er rannte hinter ihr her, geradewegs auf die Tanzfläche und weiter … suchte nach ihr, kämpfte sich durch die Menge und ignorierte die wütenden Blicke der Tänzer. Schließlich fand er sie, blieb stehen und beobachtete sie regungslos. Er fühlte sich wie ein Gestrandeter auf einer einsamen Insel. Einsam und fehl am Platz. Sie hingegen bewegte sich anmutig, verschmolz mit der wogenden Menge, nahm die Rituale der Tanzfläche offensichtlich ohne Probleme an. Schon nach wenigen Minuten hatte sie einen Verehrer, der sich  sichtlich abrackerte, ihr zu gefallen, während sie gelangweilt schien. Plötzlich klopfte jemand Will auf die Schulter. Als er sich umdrehte, sprach ihn eine junge Tänzerin an, sagte etwas, das er aber aufgrund der lauten Musik nicht verstand. Er nickte nur hastig und wollte sich wieder seiner Angebeteten zuwenden. Doch Lily war weg. Verzweifelt reckte er den Kopf, fand sie aber nicht. Am gegenüberliegenden Ende der Tanzfläche sah er die beleuchteten Ausschilderungen der WCs. Vielleicht ist sie ja dorthin, überlegte er und stolperte dann auf den Sanitärbereich zu. Wieder bahnte er sich seinen Weg durch die Menge. Vorbei an einer Gruppe Schamanen mit anachronistischer Kleidung, rituellen Rasseln und Tablas, die eine etwas eigensinnige Session mit dem DJ des Clubs vollzogen. Hier, am Rand der Industriezone, ließen sie sich blicken, weil sie nur hier in den etwas schlechter laufenden Clubs eingelassen wurden. Dann vorbei an einem hässlichen Glatzkopf mit spitzen Ohren und Rokoko-Kostüm inklusive Rüschen im Brustbereich, der ihn seltsam angrinste. Schon wieder einer dieser Auswüchse der plastischen Chirurgie, dachte Will angewidert. Und noch etwas anderes Seltsames fiel Will an ihm auf: Er konnte das Alter des Glatzkopfs nicht schätzen, er wirkte merkwürdig zeitlos.

    »Dort hinten wirst du sie nicht finden«, krächzte der Kerl und fummelte an den Rüschen seines Kostüms.

    Ratlos sah Will ihn an.

    »Sie ist tabu für dich. Wenn du sie dennoch kontaktierst oder jemand anderen ins Spiel bringst, riskierst du dein Leben.«

    Wütend wollte Will ihm an die Kehle und zur Rede stellen, doch der Glatzkopf war schneller, packte ihn am Handgelenk und zwang ihn mit einer lässigen Bewegung in die Knie.

    »Wir wollen doch wie zwei zivilisierte Menschen reden, oder?«

    Zögernd nickte Will mit schmerzverzerrtem Gesicht, und nachdem der Glatzkopf sein Handgelenk losgelassen hatte, stand er wieder auf. Unsicher und mit weichen Knien blickte er dem Kerl in seine roten Augen. »Was habt ihr mit Lily gemacht? Und wo ist sie?«

    »Nun, auf deine Fragen kann ich nicht direkt antworten. Nur so viel, dass deine Flamme sicher und gesund ist, wenn auch in gewisser Hinsicht erloschen.«

    Als er Wills sorgenvolles Gesicht sah, fügte er hastig hinzu: »Aber keine Sorge, sie ist zufrieden und wohlauf.«

    »Kann ich sie sehen?« Trotz seiner Abneigung dem fremden Mann gegenüber wollte Will, nachdem er seine Chancen abgewogen hatte, zum Geschäft kommen.

    »Ah, kein Mann der großen Worte. Ein machiavellistischer Opportunist. Also gut, hier ist das Angebot: Im Tausch gegen deine Lily musst du uns helfen, einen Vampir aus den Laboren der Forschungsabteilung deines Arbeitgebers zu befreien. Ich weiß, dass das alles für dich ziemlich merkwürdig klingt. Aber um die Glaubwürdigkeit meiner Worte zu untermauern, werde ich dir gleich einen Beweis liefern, indem ich dir eine Kostprobe meines Blutes anbiete …«

    Will hatte keine Ahnung, wovon der Kerl sprach. Sein Äußeres sprach nicht gerade dafür, dass man ihm trauen konnte.

    »Warte, geh nicht weg! Du wirst es sonst bereuen. Du willst doch deine Lily wiedersehen, oder?«

    Will zögerte; was hatte er schon zu verlieren, wenn er bleiben würde.

    »Gut! Braver Junge. Folge mir nach draußen, da sind wir ungestört. Ich werde dir dort deinen Beweis geben, der all deine Zweifel beseitigen wird.«

    Will folgte dem Mann durch den Hauptausgang. Draußen angekommen, gingen sie nach links, folgten der laternenumsäumten Straße einige Häuserblocks, überquerten sie dann und betraten auf der anderen Straßenseite einen kleinen Park. Keine Menschenseele. Nur ein weißes Kaninchen, das vor ihnen ins Gebüsch flüchtete. Wills Begleiter folgte dem Kaninchen durchs Gestrüpp und wenig später befanden sie sich auf einer verlassenen und vom Mondlicht beschienenen Lichtung.

    »Okay. Hier dürften wir vor den gierigen Blicken der Menschen sicher sein. Bei aller Macht, die wir als Vampire besitzen – du wirst deine Fähigkeiten als Guhl noch kennenlernen –, sind wir dennoch sehr anfällig, was den Bruch der Geheimhaltung unserer Gesellschaft angeht. Mit anderen Worten: Du darfst unsere Identität als Vampire und deine als Guhl nicht offenbaren. Und wenn wir schon von Identität sprechen: Ich heiße Drágos, Graf Drágos. Aber nenn mich ruhig einfach Drágos. Diesen Adelstitel habe ich schon vor meiner Erschaffung als Vampir getragen und menschliche Titel sind unter Vampiren ungültig. Aber was sage ich. Kommen wir nun zu deinem benötigten Beweis. Bist du bereit?«

    Will wusste zuerst nicht einzuordnen, was dieser Mann sagte. Doch jetzt, einige Zeit später, nach einiger Überlegung, sofern dies möglich war, hielt er ihn für verrückt oder geisteskrank. Vielleicht gehört er zu einer Sekte oder zumindest Gruppierung, die Vampire imitiert, überlegte er. Aber sie wussten über Lily Bescheid und waren bereit, mit ihm zu verhandeln. Er entschied, ihr Spiel zunächst mitzuspielen und antwortete mit einem zögernden Kopfnicken.

    Der Kerl in seinem Rokoko-Kostüm, der sich Drágos nannte, setzte seinen krallenbewehrten Zeigefinger ans Handgelenk und schlitzte es auf. Dickes Blut quoll aus der Wunde hervor. Es floss. Und floss. Und floss. Sekunden vergingen.

    »Nun trink doch schon! Dieses Blut ist äußerst wertvoll.« Dann bemerkte er Wills angeekeltes Gesicht und grinste. »Nur Mut! Denk an deine Lily und trink endlich.«

    Will begriff nichts von dem, was gerade geschah, und doch setzte er seine Lippen an das fremde Handgelenk und saugte. Es schmeckte rostig. Erinnerungen an die eigene Kindheit. Wie er eine Wunde an seinem Arm aussaugte, um sie zu desinfizieren. Dann … ein süßer Nachgeschmack von Honig und plötzliches Kribbeln am Gaumen.

    »Okay, das reicht Junge; sonst hast du eine Überdosis«, bemerkte der Fremde und wollte seinen Arm wieder wegziehen, doch vom Diktat seiner Gier gezwungen, saugte Will weiter.

    »Ich habe gesagt, das reicht!«, befahl er ihm mit einer gebieterischen Stimme, die es Will unmöglich machte, sich zu widersetzen. Mit verdutztem Gesicht und blutverschmiertem Mund stand Will nun in der Dunkelheit und wartete auf die erhoffte Wirkung.

    »Es passiert nichts!«, warf er dem mysteriösen Fremden vorwurfsvoll an den Kopf und packte ihn mit beiden Händen an den aufwendig gewirkten Rüschen.

    »Warte …!«

    Die Veränderung kam … lautlos, aber dafür umso gewaltiger. In einigen Metern Entfernung machte Will den einzigen auf der Lichtung stehenden Baum aus, eine uralte Eiche, und fühlte ganz plötzlich eine noch nie erfahrene Verbundenheit zu diesem Baum und jedem anderen Lebewesen. Doch es war nicht nur Verbundenheit, sondern auch Bewunderung. Bewunderung für die Erhabenheit und majestätische Stärke des Baumes. Dann sah er, wie sich ein flimmernder Film, eine leuchtende Patina auf seiner gesamten Oberfläche bildete. Machtlos aber auch fasziniert musste er mit ansehen, wie dieses ›Feuer‹ immer weiter anwuchs, grell und schonungslos über die Rinde herfiel und sich gierig empor zur Krone schlängelte. Panisch hielt Will nach Drágos Ausschau, den er aber nicht fand. Stattdessen bemerkte er, dass auch das Gras unter ihm und sogar er selbst in diesem geisterhaften bläulichen ›Feuer‹ gefangen waren. Instinktiv schlug er auf seiner Kleidung danach und stellte mit Entsetzen und Erleichterung zugleich fest, dass es keine Hitze ausstrahlte und dieses Etwas nicht aus Flammen bestand. Dann, wenngleich sehr langsam, verstand Will: Das war kein Feuer, sondern vielmehr eine Aura, die jedes Lebewesen umgab und von ihm ausging.

    Er lief zum Baum, streckte seine Hand aus und berührte vorsichtig die Rinde. Tränen liefen über sein Gesicht, als er spürte, wie eine urtümliche und ungeheure Energie durch seinen Körper floss.

    Dann kippte die Stimmung: Nach und nach verblassten alle Auren, bis sie ganz verschwunden waren. War dies alles nur ein schöner Traum? Die Geräusche der Tiere um ihn herum nahmen um ein beträchtliches und bedrohliches Maß zu. Er hatte das Gefühl, als würden ihm die Zikaden, deren Zirpen er sonst immer als angenehm empfunden hatte, laut kreischend die Hosenbeine hochklettern und verschlingen. Sein Geruchssinn verstärkte sich, und zwar in solch einem Maße, dass er einen subtilen Verwesungsgeruch wahrnahm. Alles um ihn herum fieberte im letzten Überschwang des Sommers dem Herbst entgegen und er roch plötzlich, wie alles verwelkte.

    Die anfängliche Euphorie und der Energieschub schlugen nun um in Frustration und Ungeduld. Er wollte so gern bei Lily sein, wollte die Natur bis ins letzte Detail auskosten. Dann ein Gefühl der Ohnmacht, der Kapitulation vor der organischen Vergänglichkeit. Seine Knie wurden weich und er drehte sich irritiert um seine eigene Achse. Sein Magen drohte zu explodieren; ein Kribbeln ging von dort, von seinem Solarplexus aus, strömte durch seinen ganzen Körper. Überwältigt kniete er sich ins Gras, das vom Morgentau feucht war. Er ließ ab vom Schicksal, ergab sich ihm und fiel hintenüber ins nasse Gras. Die Sterne am Himmel, heller als sonst, nahmen sein Blickfeld ein.

    Einige Zeit später bedeckte ein hässlicher Kopf den Nachthimmel. Es war Drágos, der neben Will hockte.

    »Jaaa, fühlst du diese Kraft, die durch deinen Körper fließt? Mehr als dir lieb ist, nicht wahr? Diese ursprüngliche Energie, die zugleich die Zivilisation aufbauen oder aber zerstören kann. Die unauslöschliche Energie des Lebens.« Mit schmerzverzerrtem Gesicht und auf beide Ellbogen gestützt, starrte Will den grinsenden Kerl im Rokoko-Kostüm an.

    »Tja, du wolltest ja nicht auf mich hören. Diese Überdosis hast du dir selbst zuzuschreiben. Aber dieser Zustand erweitert in gewisser Hinsicht deinen Horizont. Lass dir das eine hilfreiche Lehre sein.« Drágos lachte und schüttelte den Kopf, bevor er weitersprach: »Übrigens wird die Wirkung meines Blutes in deinem Körper wegen der Überdosis statt zwei bis drei Tage wohl etwas länger andauern. Du wirst also genügend Zeit haben, deine erweiterten Sinne kennenzulernen. Sinne, die wir als Vampire freilich alle besitzen. Du wirst in aller Ruhe darüber entscheiden können, ob du uns hilfst. Erst dann wirst du deine Lily wiedersehen.«

    Will setzte sich auf. »Sie hat sich verändert. Was ist sie: ein Guhl oder ein Vampir?«

    »Ich glaube, du kennst die Antwort schon.«

    Das Schicksal klopfte an die Pforte seiner Magengrube.

    Nachdem er es hineingelassen hatte, verwandelte es sich erst in Erkenntnis, dann in Wut. »Ihr Hurensöhne, ihr habt sie nur zu einem von euch gemacht, damit ich euch helfe?!«

    »Nein, das stimmt nicht ganz. Auch wenn ihre Verwandlung zum Vampir die Umstände so erscheinen lassen und für uns in gewisser Hinsicht begünstigen, war dies – meines Wissens – doch keineswegs so geplant. Ihr Tod war … nun, wie soll ich sagen … ein bedauerlicher Unfall.«

    »Tod? Ein Unfall? Bedauerlich? Ich habe sie geliebt!«

    Will war außer sich. »Bring mich zu deinem Boss. Sofort! Ich mache nur mit ihm den Deal.«

    »Du willst also zu Baron Lazar? Ich hoffe, du willst keine Dummheiten anstellen. Er ist launig und sehr mächtig. Denn im Gegensatz zu mir stammt sein Adelstitel aus einem uralten Vampirgeschlecht.« Drágos schaute mit zweifelndem Blick in Wills entschlossenes Gesicht. Er zögerte, doch schließlich sagte er: »Also gut, ich werde versuchen, ein Treffen mit dir und ihm zu arrangieren. Wir sehen uns dann morgen um dieselbe Zeit wieder im ›Dissident‹.Ich werde dich finden, Guhl, da wir jetzt einige Zeit verbunden sind. Für ein paar Tage spüre ich jetzt deine Gegenwart. Hat was mit meinem auf dich übertragenden Blut zu tun. Bis morgen Nacht. Ich glaube, du kommst jetzt allein zurecht. Bleib noch eine Weile hier sitzen und mache dich dann mit deinen neuen Sinnen vertraut. Ich habe noch wichtige Geschäfte zu erledigen und die Nacht dauert bekanntlich nicht ewig.«

    Damit verbeugte er sich galant und verschwand in den Schatten des Parks.

    Will blieb noch im feuchten Gras liegen, bis der Morgen graute. Ein Flugzeug, weit oben am Himmel. Die aus Carbon-Legierung bestehende Hülle brach die ersten Sonnenstrahlen und warf sie zur Erde. Er sehnte sich danach, in diesem Flugzeug zu sitzen und frei von jeglicher Schuld und Erdenlast der aufgehenden Sonne entgegenzufliegen. Als wäre es ein Zeichen zum Aufbruch, stand er vorsichtig auf und verließ die Lichtung auf demselben Weg, wie er gekommen war. Leichter Dunst lag über den Rasenflächen zwischen den Bäumen. Er roch den Tau und das Gras. Ein vollautomatischer Garten-Bot hatte wohl mitten in der Nacht das Gras gemäht.

    Am Ausgang angekommen, nahm er Kurs auf die Station der Magnetschwebebahn, ein altes Relikt aus der Zeit vor dem wirtschaftlichen Verfall, als die Arbeiter dieses Industriegebiets damit transportiert wurden und es noch keine Arkologien gab. Jetzt verband die Bahn die Sprawls und äußeren Wohngebiete mit dem Stadtzentrum von L.A. Nach dem ökonomischen Staatskollaps hatte sich Kalifornien, wie auch einige andere Staaten der USA, selbstständig gemacht und sich dank ihres technischen Potenzials und der angesiedelten Konzerne zu wirtschaftlich blühenden Metropolen entwickelt. Trotzdem konnten sie nicht mehr an die frühere Stärke anknüpfen. Die Armut war gerade in dieser Gegend spürbar. Genau wie der Verfall.

    Nach ein paar hundert Metern zu Fuß erreichte er die Stufen zur Station und stieg hinauf zum Viadukt. Oben angekommen, blickte er auf die erwachende Stadt in den Strahlen der aufgehenden Sonne. Rosenfingerige Wolken griffen nach der Skyline aus Wolkenkratzern und Arkologien, die sich in etwa zwölf Kilometern Entfernung wie versteinerte Skelette riesiger Urzeittiere bis zur Küste des Ozeans erstreckten. Und zwischen ihnen, nur als Punkte zu erkennen, flogen auch jetzt schon zu so früher Stunde dutzende fliegender Wagen. Ein dunkelblauer Polizeiwagen hob jetzt gerade vom gegenüberliegenden Bahnsteig mit einem Rauschen in die Luft und verließ das Gebiet in gemächlicher Beschleunigung Richtung Downtown. Immer noch langsam überflog er das im Vordergrund liegende und aus vorwiegend verlassenen Fabriken bestehende Industriegebiet mit seinen billigen Wohnblocks und Arkologien. Dort, zwischen der Skyline und dem Industriegebiet, konnte er die Arkologie von ›DNA-Network‹ sehen, wo er studierte und wohnte. Ein trister, etwa fünfhundert Meter hoher Komplex, der ganz der noch aufstrebenden Struktur des Konzerns entsprach. Er nahm sich vor, dort in seiner Wohnung etwas zu essen und dann wenigstens für ein paar Stunden zu schlafen.

    Die Bahn würde in vier Minuten kommen, wie die digitale Anzeige verriet. Solange machte er es sich auf einer Bank bequem und beobachtete einen kleinen Jungen, der mit einem Ball spielte. Daneben seine

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