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Superior: Im Windschatten der Lüge
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eBook482 Seiten6 Stunden

Superior: Im Windschatten der Lüge

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Über dieses E-Book

Amelia ist tot. Zumindest auf dem Papier …

Gemeinsam mit einer Handvoll Verbündeten arbeitet sie daran, die Superior Human Society zu zerschlagen. Eine wesentliche Waffe in diesem Kampf ist Amelia selbst und ihre neue Gabe. Die lässt sich nur leider nicht so einfach in den Griff bekommen und das Training treibt sie an ihre körperlichen Grenzen. Ihre eigenen Bedürfnisse werden dem gemeinsamen Ziel untergeordnet und auch die Beziehung zu Nathan leidet.

Können sie die Superior Human Society tatsächlich zerstören?
Und wenn ja, zu welchem Preis?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum19. Juli 2018
ISBN9783959912280
Superior: Im Windschatten der Lüge

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    Buchvorschau

    Superior - Anne-Marie Jungwirth

    1

    Amelia

    Es war zehn Uhr morgens und wie jeden Tag um diese Uhrzeit legte Amelia den Akku in ihr Prepaid-Handy ein und schaltete es an. Und wie jeden Tag um diese Uhrzeit musste sie schmunzeln, als der Begrüßungstext auf dem Display erschien.

    Save that smile for me.

    Nathan hatte es ihr bei seinem ersten Besuch in West Haven eingestellt, bevor er abgereist war. Sie wusste noch, wie traurig sie gewesen war, als sie an jenem Montagmorgen aufwachte und er schon fort war. Als sie dann um zehn Uhr ihr Handy eingeschaltet hatte, war sie für diesen kurzen Moment einfach nur glücklich gewesen. Es gab so vieles in ihrem Leben, das gerade richtig Scheiße lief. Aber jeden Tag um zehn, sechzehn und zweiundzwanzig Uhr las sie diese kleine Botschaft von Nathan und es ging ihr ein Stück besser. Vielleicht war das total lächerlich. Save that smile for me war weder wahnsinnig poetisch noch romantisch. Aber es war so … so Nathan.

    Der Begrüßungstext verblasste und ihr Telefon zeigte eine neue Nachricht an. Amelia öffnete das Menü und sah, dass sie von Nathans Prepaid-Handy kam. Sie öffnete sie und las den Inhalt stirnrunzelnd.

    »Sky hat mir geschrieben«, sagte Moira, die neben ihr stand und ebenfalls ihr Telefon auf Nachrichten checkte. »Er möchte heute Abend eine Videokonferenz mit dir – allein.«

    Amelia blickte zu Moira auf. »Ich weiß, Nathan hat mir eben das Gleiche geschrieben. Er und Sky wollen mit mir reden.«

    »Dann ist das wohl eher ein allein mit dir und Nathan«, korrigierte Moira sich.

    »Scheint so.« Amelia tippte auf Antworten und gab OK ein. Dann schaltete sie das Handy wieder aus, entfernte den Akku und legte es auf den Couchtisch. »Ich frage mich, warum Sky dir schreibt, dass er mit mir allein reden will. Wäre es nicht naheliegender, mir das direkt zu schreiben?«

    Moira setzte sich neben sie und baute ebenfalls ihr Handy auseinander. »Vielleicht einfach, weil …«

    »Er mir nicht zutraut, dass ich drei Mal am Tag mein Handy anschalte?«

    »Das würde ich so nicht sagen.« Moira tätschelte ihre Schulter und setzte ein Lächeln auf, mit dem sie von Haus zu Haus ziehen und Bibeln verkaufen könnte. »Ich denke, er hält das für den Weg mit den geringsten Reibungsverlusten.«

    »Schon klar. Weil ich einmal mein Telefon zehn Minuten zu spät eingeschaltet habe, bin ich ein Reibungsverlust

    »Du kennst ihn doch. Er meint das gar nicht so.«

    Amelia verdrehte die Augen. »Ich werde nie verstehen, wie man ein Empath sein und sich gleichzeitig so emotionslos aufführen kann.«

    »Sky«, sagte Moira mit ihrem dah-Tonfall.

    Aber sie hatte recht. Man konnte Sky nun einmal nicht anders als mit Sky erklären. Von Verstehen wollte sie hier noch gar nicht reden. Und was dieses Einzelgespräch zu bedeuten hatte … auch darüber wollte sie sich keine Gedanken machen. Was einfacher gesagt war als getan. Je länger sie darüber nachdachte – Einzelgespräche bedeuteten nie etwas Gutes. Manchmal wünschte sie sich, sie könnte einfach zum Telefon greifen, Nathan anrufen und ihn fragen, was das alles sollte. Leider ging das nicht. Zu gefährlich. Ihn oder Sky auf ihren normalen Smartphones anzurufen, stand quasi unter Todesstrafe. Und damit ihre Prepaid-Handys nicht aufgrund von Ortung mit ihren regulären Smartphones in Verbindung gebracht wurden, mussten die eigentlich ständig aus sein. Und nicht nur einfach aus, auch der Akku musste entfernt werden, damit kein Signal gesendet werden konnte. Und so blieben ihnen nur fix vereinbarte Zeiten und die auch nie länger als zwei Minuten. Die Liste ihrer Sicherheitsmaßnahmen war lang und leider nicht unbegründet. Nach Amelias und Pandoras Verschwinden hatte man Nathan und Catherine wochenlang beschattet. Skys Ermittler konnten ausschließen, dass dies immer noch der Fall war. Doch sie mussten wachsam bleiben, durften keine Spuren hinterlassen. Manchmal – so wie jetzt – trieb sie das alles in den Wahnsinn. Aber wenn sie Pandora sah und wie sie aufblühte … dann war es das alles wert. Ihre Schwester hatte es verdient, dass es ihr gut ging, und für sie würde Amelia noch sehr viel mehr Entbehrungen in Kauf nehmen als diese.


    Amelia ging ins Büro des Hauses, um alles für die Videokonferenz vorzubereiten. Irgendwie hatte jedes Zimmer in diesem Haus seinen eigenen Charme, nur das hier nicht. Es war ein seelenloser Raum. Deckenhohe Regale nahmen den Wänden die Luft zum Atmen. Die Regalböden hingen durch und zeugten noch von der Last, die sie einmal tragen mussten. Nun waren sie leer. Ein paar Blätterstapel hier und da, aber keine Bücher oder Ordner, nach denen die Möbel zu hungern schienen. Vor dem Fenster befand sich ein Schreibtisch, dessen Arbeitsfläche ebenfalls durchgebogen war. Seiner eigentlichen Funktion beraubt, wurde er jetzt als Abstellplatz für ihren Drucker genutzt. Neben dem Schreibtisch befand sich eine Kommode. Auf ihr ein Fernseher, ein schwarzer Plastiklautsprecher, den Moira und sie immer Ufo nannten, jede Menge Kabel und eine Konsole. Amelia steckte das Verteilerkabel in die Steckdose und schaltete die Konsole ein. Während ihr die blinkenden Lichter anzeigten, dass sich die gesicherte Verbindung aufbaute, nahm sie auf einem der beiden Stühle Platz, die direkt vor dem Fernseher standen.

    Hier konnten sie länger reden. Sie verstand nicht viel von diesen Dingen, aber irgendwie wurden die Signale wohl verschlüsselt und die Übertragung umgeleitet oder so. Sky war ein Freund von Regelmäßigkeit und gerne gut informiert. Moira und Amelia sprachen hier deshalb montags, mittwochs und freitags um Punkt achtzehn Uhr mit ihm und meistens auch Nathan. Gespräche, die wie heute außerhalb dieser Termine stattfanden, gab es nur selten. Theoretisch könnte sie hier auch länger mit Nathan reden, aber sie hatten es nur einmal gemacht. Für Amelia war es merkwürdig, Nathans Gesicht und jede Pore darin dreifach vergrößert auf dem Bildschirm zu sehen, ohne seine Wärme zu spüren. Und dabei selbst hier zu sitzen, auf diesem unbequemen Stuhl, und in das künstliche Auge über dem Bildschirm zu blicken, das ihr Gesicht zu Nathan übertrug. Selbst ein Telefonat fühlte sich intimer an, vermittelte ihr das Gefühl, seine Stimme an ihrem Ohr zu hören. Aber dieses Video-Ding … Für manche mochte das eine Form von Nähe sein, sie fand es gruselig und konnte auf diese Art der Kommunikation verzichten.

    Die Verbindung zum Netzwerk hatte sich aufgebaut und Amelia betrat den virtuellen Besprechungsraum. Obwohl sie zu früh war, waren Nathan und Sky bereits dort.

    »Hey, Amelia«, begrüßte Nathan sie sofort.

    Sie wusste nicht warum, aber irgendwie klang er in ihren Ohren überschwänglicher als sonst.

    »Hey.« Amelia winkte der Kameralinse zu. »Ihr seid ja schon da. Beide.«

    »Ich würde mir das ja rot im Kalender ankreuzen, aber …«, begann Sky.

    »Du willst nicht, dass ich abhebe. Schon klar«, unterbrach Nathan schulterzuckend.

    »Erstens: Ich glaube nicht, dass du noch mehr abheben kannst«, widersprach Sky. »Und zweitens: Nein, ich habe einfach keinen roten Stift.«

    Wenn Amelia es nicht besser wissen würde, würde sie sagen, die beiden liebten einander, so wie sie sich gegenseitig neckten. »Also ich weiß gar nicht, was du hast, Sky. Mich nerven Männer, die zu früh kommen, ja viel mehr.«

    Sky blickte nach oben und schien nachzudenken. »Da ist was dran.«

    Nathan schenkte ihr ein anzügliches Lächeln.

    »Also, was gibt’s?« Amelia trommelte mit ihren Fingern auf der Sitzfläche ihres Stuhls.

    »Es geht um deine Gabe«, begann ausnahmsweise Nathan das leidige Thema. »Wir haben schon oft darüber geredet, was wir glauben, was alles in dir steckt.«

    »Richtig«, ergriff Sky das Wort. »Und wir dachten, es wäre nicht nur für uns gut, das Ganze etwas systematischer anzugehen, sondern würde auch dir eine gewisse Orientierung geben.«

    Amelia überkreuzte ihre Arme vor der Brust. »Orientierung?«

    »Ja, genau«, bestätigte Nathan und wirkte schon wieder so euphorisch.

    Wollten sie ihr jetzt etwa ganz systematisch zeigen, wie weit unten sie war? Und wie weit entfernt vom Ziel? Vielleicht mit einer total bescheuerten Tacho-Grafik. Also … wenn das der Plan war, konnte Amelia auf diese Art der Orientierung verzichten. Sie wusste auch so, dass ihre Fortschritte zu wünschen übrig ließen.

    »Wir zeigen es dir«, sagte Nathan und sie hörte, wie er mit seiner Maus herumklickte. »Warte kurz. Ich stelle mal eben auf Screen-­Sharing um.«

    Amelia betrachtete das Bild, das sich langsam an der Stelle des Bildschirms aufbaute, auf der vor einer Sekunde noch Nathans Gesicht strahlte. »Was ist das denn bitte?«

    »Eine Matrix«, antwortete Sky ruhig.

    Echt? »Ich weiß, was eine Matrix ist. Für den Fall, dass es jemand vergessen hat, ich habe in Harvard studiert. So zwei, drei Dinge weiß ich also auch.«

    »Hm.« Skys Gesicht wirkte ungerührt. »Wenn man den Erzählungen deiner Pflegeschwester während der Examination Week glauben darf, hast du auf dem Campus gelebt und keine Party ausgelassen. Das erfüllt zwar einige Kriterien von studiert, aber nicht alle.«

    Amelia streckte ihm die Zunge raus. Total kindisch, aber ihr war gerade danach.

    Nathans Gesicht war nicht zu sehen, sondern nur die Tabelle. Aber Amelia könnte schwören, dass er sich die Hand vor den Mund hielt, um sein Lachen zu dämpfen.

    »Voll witzig.« Amelia verdrehte die Augen und legte ihren Arm über die Rückenlehne.

    »Ein wenig schon«, sagte Nathan entschuldigend. »Aber zurück zum Thema. Das hier ist eine Matrix mit den Ausbaustufen und Merkmalen deiner Gabe.«

    Amelia zählte fünf Zeilen und fünf Spalten. Ihre Gabe … mit Pandora klappte der Austausch von Bildern und Gedanken problemlos. Sie glitten fließend zwischen ihnen hin und her. Amelia musste nicht einmal darüber nachdenken. Es war wie atmen. Aber mit anderen … es war nicht so, dass sie sich extra blöd anstellte. Es funktionierte einfach nicht. »Enttäuschend, dass es nur so wenige Ausbaustufen gibt.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung.

    »Keine Angst«, sagte Sky nüchtern. »Wir haben uns für diese Abbildung auf die rein serielle Nutzung beschränkt.«

    »Serielle Nutzung?«

    »Das ist …«, setzte Sky an.

    »Verdammt«, fluchte Amelia. »Ich weiß, was seriell ist. Aber habt ihr sie noch alle? Ich finde schon den Großteil dieser Matrix total verrückt. Und du willst mir jetzt sagen, dass man die Gabe nicht nur bei einer Person, sondern gleichzeitig bei mehreren einsetzen kann?«

    »Wissen«, schaltete sich Nathan mit sanfter, aber sachlicher Stimme ein, »tun wir genau genommen nichts von alldem. Aber es sind Vermutungen, die wir aufgrund deiner DNA und dem Vergleich mit ähnlichen Sequenzen anderer Gaben-Träger angestellt haben. Was tatsächlich alles möglich ist, kannst nur du uns zeigen. Und nur mit viel Zeit.«

    »Mit ganz viel Zeit würde ich sagen.« Amelia sah erneut zu der Abbildung. »Im Moment bin ich bei …«

    »Wenn wir Pandora einmal außen vor lassen«, unterbrach sie Sky. »Dann bist du bei 1,1 und 1,2.«

    Amelias Blick glitt zur Matrix. Reihe 1: In die Gedankenvorhalle eines anderen eindringen. Spalte 1: mit Körperkontakt. Spalte 2: bei physischer Präsenz nach erstmaliger Verbindung. »Das fasst es ziemlich gut zusammen, würde ich sagen.«

    »Und das ist kein Grund, dich schlecht zu fühlen.« Die Matrix verblasste und Nathans nun nicht mehr so überschwänglich wirkendes Gesicht erschien vor ihr. »Eine solche Gabe zu erlernen, braucht seine Zeit und du tust, was möglich ist. Das wissen wir doch alle.«

    Amelia nickte und biss sich auf die Unterlippe. Wussten das wirklich alle? So kam es ihr nämlich meistens nicht vor.

    »Wir haben dir das nicht gezeigt, um dir Vorwürfe zu machen.« Sky schüttelte den Kopf. »Wirklich nicht. Ganz im Gegenteil. Wir wollten dir die Perspektiven aufzeigen und dir Mut machen. Wie du siehst … das Ganze ist eine Matrix. Wenn du nach unten nicht weiterkommst, probieren wir es nach rechts. Und wenn es dort stockt, dann gehen wir wieder nach unten.«

    »Wow!« Amelia atmete tief ein und aus. Was glaubte Sky eigentlich, was sie hier den ganzen Tag trieb? Netflix sehen und Chips futtern? Sie arbeitete jeden verdammten Tag an ihrer Gabe. Sie kämpfte mit den Basics. Hauptsächlich damit, nicht ständig kotzen zu müssen. Und er faselte hier etwas von ihren Perspektiven. »Du bist ja so motivierend, Sky. Ehrlich! Du solltest nach Afrika fliegen und verhungernden Kindern erzählen, dass sie alles erreichen können. Dass es Perspektiven gibt. Wenn sie doch nur endlich aufhören würden, sich mit elementaren Grundbedürfnissen von ihrer Bestimmung abzulenken.«

    Sky senkte den Kopf. »Das ist jetzt irgendwie falsch rübergekommen. Entschuldigung, aber ohne meine Gabe … weiß ich einfach nicht, wann ich besser den Mund halten sollte.«

    Nathan hob eine Braue. »Macht wirklich einen Riesenunterschied bei dir …«

    »Tut mir ehrlich leid, Amelia.« Sky wirkte aufrichtig betrübt. »Es ist gerade einmal zwei Monate her, dass sich deine Gabe aktiviert hat. Und du machst das großartig. Ich bin nur einfach ungeduldig. Zu ungeduldig. Es tut mir leid.«

    »Schon okay.« Wenigstens sprachen alle nur über ihre Shared Brain-Gabe. Brick hatte ihr während ihrer Gefangenschaft erzählt, dass noch zwei weitere inaktive Gaben in ihr schlummerten. Eine präkognitive und eine Naturkraft. Feuer, wenn sie sich richtig erinnerte. Aber für ihre Sache waren diese Gaben womöglich auch nicht so hilfreich wie ihre bereits aktivierten.

    »Du siehst aber nicht okay aus«, sagte Nathan.

    »Ich bin es aber.« Sie spürte, wie es in ihr brodelte. »Können wir es jetzt einfach gut sein lassen?«

    »Können wir.« Nathan sah sie an und seine Augen wirkten so traurig, dass sie wegschauen musste.

    »Wir sprechen dann morgen wieder, Amelia«, beendete Sky das Gespräch. »Tschüss.«

    »Bis morgen.« Nathan suchte ihren Blick. Sie konnte es spüren.

    »Bis morgen«, sagte sie, während sie aufstand, die Verbindung trennte und das Stromkabel zog. Amelia ließ sich zurück auf den Stuhl sinken und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen.

    2

    Amelia

    Nach dem Gespräch mit Nathan und Sky gestern war sie nicht mehr zu viel zu gebrauchen gewesen. Heute hatte sie sich wieder aufgerafft und schon den ganzen Tag mit Moira ihre Shared Brain-Gabe trainiert. Sich mit ihr verbinden und in ihrem Kopf nach einer ganz bestimmten Information suchen. Wieder und wieder.

    Amelia blickte auf den Kübel mit Erbrochenem, der ein paar Schritte von ihrem Stuhl entfernt stand. Sie war nie der ehrgeizige Typ gewesen und schlecht in etwas zu sein, hatte sie nie runtergezogen. Mit ihrer Gabe war es anders. Sie wollte sie beherrschen und arbeitete wie besessen daran. Die Erfolge – sofern man überhaupt von ihnen sprechen konnte – blieben überschaubar. Vielleicht hatte sie ihr ganzes Leben gut daran getan, nicht zu viel von sich zu wollen. Vielleicht war sie einfach nicht dafür gemacht.

    Amelia hob den Kopf und sah auf das Wasser. Wie immer, wenn es das Wetter zuließ, hatten sie im Garten hinter dem Haus trainiert. Kotzen mit Meerblick gehörte nicht zu ihren Tageshighlights, war ihr aber bedeutend lieber als Kotzen mit Muscheltapete und Klosteingeruch. Doch das Training setzte ihr zu. Sich mit anderen Gehirnen zu vernetzen, fiel ihr nicht in den Schoß und brachte sie täglich – nicht nur körperlich – an ihre Grenzen. Ihr schauderte beim Gedanken an die Bilder aus Moiras Kopf.

    Amelia zuckte zusammen, als sich ein Schatten über den leeren Plastikstuhl neben ihr legte. Sie erkannte Moiras faltige Hände in ihrem Sichtfeld und entspannte sich augenblicklich. Die alte Frau trug ein Tablett mit einer Kanne voll frisch gemixter Margaritas und einem Teller Sandwiches.

    Moira nahm Platz und stellte die Kanne, die Gläser und den Teller auf das weiße Holztischchen zwischen ihren Stühlen. »Du siehst aus, als könntest du einen vertragen.« Ohne Amelias Antwort abzuwarten, schenkte sie ein.

    Damit hatte Moira ins Schwarze getroffen. »Danke«, nuschelte Amelia vor sich hin und griff nach einem der Margaritas. In einem Zug kippte sie den Inhalt hinunter. Sie kam sich dämlich vor. Nicht sie sollte sich schlecht fühlen, sondern Moira. Schließlich waren es die Bilder ihrer Erinnerungen, die Amelia so sehr verstört hatten. »Es tut mir so leid.«

    Moira nahm ebenfalls einen Schluck und blickte auf den Atlantik. »Es ist lange her.«

    Das mochte es sein. Doch Amelia konnte sich nicht vorstellen, dass die Narben der Gräueltaten jemals verschwinden würden. Mit Glück würden sie verblassen. »Wir werden dem ein Ende setzen.« Sie war erstaunt, wie bestimmt und kämpferisch ihre Stimme klang. Sich Sky anzuschließen war zunächst nur ein Impuls gewesen. Komplett überzeugt war sie damals nicht von der Sache. Pandora und all die Gefühle, die ihre Anwesenheit mit sich brachte, hatten Amelia dazu getrieben. Inzwischen wusste sie, dass es das Richtige war. Superior waren Menschen und hatten – wie jeder andere auch – ein Recht zu leben. Aber die SHS musste vernichtet werden. Menschen wie Pandora, Moira und sie selbst durften nicht länger von ihnen gequält und missbraucht werden.

    Amelia griff nach Moiras Hand und drückte sie sanft.

    »Das werden wir, Liebes«, bestätigte Moira und das Funkeln in ihren Augen ließ keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit.

    Diese alte Frau … Amelia hatte sie sofort in ihr Herz geschlossen. Für eine gesichtslose Sache zu kämpfen, war nicht Amelias Ding. Aber für Menschen, die ihr etwas bedeuteten, war sie bereit, Opfer zu bringen.

    »Ich hoffe, das hört sich jetzt nicht an wie ein Vorwurf … Aber hast du nie versucht, dich zu wehren?«

    Moiras Blick wurde bitter. »Am Anfang nicht. Ich war noch jung und überzeugt von ihren Idealen. Es war für mich nachvollziehbar, fast schmeichelhaft, dass sie mein Erbgut nicht verschwenden wollten. Natürlich fand ich den Gedanken an eine Unity, die nicht mit meinem Walter stattfinden sollte, etwas verstörend. Und auch Walter war nicht begeistert. Gleichzeitig erschien es uns so logisch.«

    Amelia erschien nichts daran logisch. Wie konnten diese Menschen nur ernsthaft erwarten, dass eine Frau mit einem anderen Mann schlief, um schwanger zu werden? Und das auch noch umringt von Priesterinnen und im Beisein ihres eigenen Ehemannes.

    Ja, Moiras Gabe war sehr machtvoll. Sie konnte die Erinnerungen von Menschen manipulieren. Für eine skrupellose Organisation wie die SHS war sie eine perfekte Waffe. Aber wie konnten sie nur? Wie konnte irgendjemand das, was sie taten, um diese Gabe zu bewahren, normal finden?

    Moira fixierte Amelia. Sie konnte nicht sagen, was genau in ihrem Blick lag. Er war nicht vorwurfsvoll, gleichzeitig spürte sie aber, dass sie sich verurteilt vorkam.

    »Es tut mir leid«, setzte Amelia an. »Es sollte wirklich nicht wie ein Vorwurf klingen. Ich verstehe es einfach nicht. Und ich würde es so gerne verstehen. Wie sollen wir Menschen von etwas befreien, von dem sie nicht befreit werden wollen?«

    »Ich frage mich selbst auch oft, wie um alles in der Welt ich da nur mitspielen konnte.«

    Amelia schauderte und die feinen Härchen auf ihren Armen stellten sich auf. Wie schrecklich es war, wenn man gegen den eigenen Willen gequält wurde, wusste sie. Wie es sich anfühlte, seine Peiniger mit offenen Armen willkommen zu heißen und erst nach und nach zu erkennen, was mit einem passiert … das mochte sie sich gar nicht vorstellen. Amelia strich Moira sanft über den Oberarm. »Egal warum. Dich trifft keine Schuld. Du bist ein Opfer ihrer Gehirnwäsche.«

    Moira schluckte. »Ich weiß. Und sie sind verdammt gut darin. Die Frage, warum ich nichts dagegen getan habe, verfolgt mich trotzdem.«

    »Aber du hast etwas dagegen getan.«

    »Erst als mein Leben in Scherben lag. Als ich nicht mehr in der Lage war, meinem Walter in die Augen zu sehen und er es nicht mehr über sich gebracht hat, mich zu berühren.«

    »Du bist mutiger als die meisten von ihnen.« Es mochte für Moira ein schwacher Trost sein. Aber es war so. Und Amelia wollte, dass sie es wusste. »Du hast dich am Ende gegen sie gestellt und nicht mehr mitgespielt. Und du hast damit anderen die Augen geöffnet und sie ermutigt, es ebenfalls zu tun. Du bist das Sandkorn, aus dem unsere Sache erst entstanden ist. Für mich bist du eine Heldin.«

    Eine Träne löste sich aus Moiras Augen. Amelia stand auf, beugte sich zu Moira, nahm sie in ihre Arme und wiegte sie, bis die kleinen erstickten Schluchzer, die sie von sich gab, immer leiser wurden und schließlich vom Rauschen des Wassers vor ihren Füßen verschluckt wurden. Moira löste sich ein Stück und schien sich wieder gefangen zu haben. Mit ihrem Handrücken wischte sie sich die Tränen aus ihrem Gesicht. »Und jetzt trinken wir diese Kanne Margaritas aus und hören auf, uns erbärmlich zu fühlen.«

    Diese Worte hätten glatt von Amelia stammen können. Sie hob ihr Glas. »Darauf, dass wir uns von diesen Arschlöchern nicht kleinkriegen lassen.«

    »Nie wieder«, ergänzte Moira.

    »Nie wieder«, stimmte Amelia zu. Ohne weitere Worte zu verlieren und Wunden aufzureißen, verweilten sie am Wasser und leerten ihre Gläser.

    Unweit von ihnen saß Pandora auf einer Decke im Gras und las. Amelia konnte von ihrem Platz aus nicht erkennen was, aber für gewöhnlich waren es sehr schmalzige Liebesgeschichten – Happy End inklusive. Ihre Schwester inhalierte diese Geschichten. Man sah sie nur selten ohne ein Buch in der Hand und meistens las sie mindestens eines am Tag, seit sie vor Erika geflohen waren. Zwei Monate war es nun her und Amelia war glücklich damit, wie sich Pandora seitdem entwickelt hatte. Natürlich war sie nach wie vor verschlossen und auf Fremde musste sie immer noch wie das Mädchen von zuvor wirken.

    Amelia wusste es besser. Ihre Schwester war nicht mehr die Pandora, die sie kennengelernt hatte. Die an einem Tisch saß, Puzzle legte und nicht wahrnahm, was um sie herum geschah. Mithilfe ihrer Gabe war Amelia zu ihrer Schwester durchgedrungen, hatte die unsichtbare Mauer, die sie zwischen sich und der Welt errichtet hatte, niedergerissen. Ganz schutzlos wollte sie sich der Welt immer noch nicht präsentieren, hatte die Mauer durch einen Vorhang ersetzt, den sie bei Bedarf zuziehen und ihre Seele vor ungeschützten Blicken abschirmen konnte. Für Amelia war dieser Vorhang keine Barriere. Pandora schob ihn für sie immer bereitwillig beiseite. Und auch für Sky und Moira, die sie mittlerweile etwas besser kannte, tat sie das meist problemlos. Nathan gegenüber, den sie nur einige Male gesehen hatte, blieb sie jedoch auf Distanz. Amelia beunruhigte das nicht. Schließlich hatte sie sich bei Moira zu Beginn ähnlich verhalten. Seit etwa einem Monat lebten sie nun schon zu dritt in diesem Haus. Es hatte etwa zwei Wochen gedauert, ehe Pandora ein Wort mit ihr gewechselt hatte und eine weitere, bis sie sich in ihrer Gegenwart entspannte. Nathan hingegen hatte sie bisher nur vier Mal gesehen. Einmal in Detroit nach ihrer Flucht und dreimal hier im Haus.

    Viel zu selten.

    Es war eine Qual. Manchmal hatte Amelia das Gefühl, von einer Folter in die nächste geflohen zu sein. Aber es ging nicht anders. Es war notwendig. Und obwohl es Sky gewesen war, der darauf bestanden hatte – sie wussten es beide selbst. Die Gefahr, dass Erika Nathan beschatten ließ und er sie damit direkt zu ihr und Pandora führte, war einfach zu groß. Also mussten sie Abstand halten, falsche Fährten legen. Erst sechs Wochen nach ihrer Flucht, als sie sich sicher waren, dass Nathan nicht mehr beobachtet wurde, hatten sie ein erstes Treffen gewagt.

    Sky hatte West Haven unter strategischen Gesichtspunkten als Unterschlupf für sie gewählt. Es lag zwischen New York und Boston und war somit für alle Beteiligten gut zu erreichen. So die Theorie. In der Praxis waren West Haven und eine zweistündige Autofahrt aber zu weit für einen kurzen Abstecher. Es war gerade erst ein paar Tage her, seit Nathan sie besucht hatte, sie sich nahe gewesen waren. Doch sie vermisste ihn, als läge es Jahre zurück.

    Vielleicht verstand Amelia ja nicht viel von Strategie, aber für sie persönlich war das strategisch scheiße.

    3

    Nathan

    Nathan stieg von seinem Motorrad, das er direkt vor dem Hauseingang geparkt hatte. Langsam erklomm er die Stufen zum Eingang. Ihm war nicht wohl bei dem, was er jetzt tun würde. Auch wenn er Catherine nicht verzeihen konnte, dass sie sich für ihn entschieden hatte und ihn so bereitwillig in ein Leben zwingen wollte, das er selbst nicht gewählt hätte … Sie nun so zu hintergehen, gefiel ihm auch nicht. Aber nachdem das Gespräch mit Amelia gestern eher kontraproduktiv gewesen war, hatte er das dringende Bedürfnis, ihr etwas Gutes zu tun. Sie würde sich darüber freuen  – ganz bestimmt. Und hoffentlich dieses Matrix-Debakel, das er angezettelt hatte, vergessen.

    Davis & Zephyr, stach ihm ihr Klingelschild sofort ins Auge und er drückte auf den Knopf.

    Kurz darauf öffnete sich die Tür und Catherine stand im Rahmen, perfekt zurechtgemacht. Nathan kannte sie zu wenig, um beurteilen zu können, ob das nun seinetwegen war oder nicht. Doch es wirkte auf ihn so. Denn sie trug roten Lippenstift und ein rotes Top. Er verstand nicht viel von diesen Dingen, aber eines wusste er sicher: Eine Frau, die Rot trug, wollte gesehen und beachtet werden. All das, was sie sich erhoffte – er würde ihr nichts davon geben können. Denn alles, was er in ihr sah, war die Frau, die ihn gegen seinen Willen bei der Verkündungszeremonie erwählt hatte.

    Ihr Kleid war an dem Tag genauso rot wie ihre Lippen heute und das Blut, mit dem er gezwungen war, diesen Bund zu besiegeln. Bis zur letzten Minute hatte er versucht sie umzustimmen, ihr ins Gewissen zu reden. Zwecklos. Sie hatte sich entschieden und stellte das Ergebnis des Simulation Scorings über ihr Herz. Sie wählte eine Zahl und nicht Henley. Im Gegensatz zu Sky konnte er es nicht spüren, aber er wusste, dass sie in diesem Augenblick gleich vier Herzen gebrochen hatte. Amelias, Nathans, Henleys und ihr eigenes. Und sosehr er Catherine für ihre Entscheidung hassen wollte, beim Anblick ihres hoffnungsvollen Lächelns tat sie ihm fast leid. Fast.

    »Nathan«, rief sie. Ihre Stimme klang schriller, als er sie in Erinnerung hatte. Sie trat einen Schritt auf ihn zu und schlang ihre Arme um ihn. Diese Geste und die Art, wie sie ausgeführt wurde, troff vor Unbeholfenheit. »Ich freue mich so, dass du angerufen hast und vorbeikommst.« Catherine löste die Umarmung, die Nathan nicht erwidert hatte, und wurde sich offensichtlich ihrer Reaktion bewusst.

    »Ist okay«, sagte Nathan. Es war weniger eine Antwort auf ihre Worte, sondern vielmehr eine Beschwichtigung für die Vorwürfe, die sich vermutlich gerade in ihrem Kopf bildeten. Catherine war kein impulsiver Mensch und er war sich sicher, sie verabscheute es selbst, wenn sie sich so verhielt. »Wirklich.« Er nickte ihr aufmunternd zu und trat ein, ohne ihre Einladung abzuwarten.

    Das Gebäude versprühte den typischen Bostoner Schick – Backstein innen und außen, großflächige Fensterfronten und ein modernes, aber gemütliches Interieur.

    Catherine deutete auf die helle Couch, die an einer fensterlosen Wand stand. »Setz dich doch.«

    Nathan folgte ihrer Bitte und nahm Platz. Er war froh, dass er das Programm, das er nun abspielen musste, bereits in- und auswendig kannte. Er durfte sich keine Unsicherheit leisten, nichts, was Catherine zweifeln ließ, was sie dazu verleitete, ihre Gabe einzusetzen. Schließlich war sie ein menschlicher Lügendetektor. Sie würde spüren, wenn sein Atem oder sein Puls schneller ging, sein Blutdruck stieg oder er beginnen würde zu schwitzen oder zu zittern. All diese verräterischen Zeichen, die der Körper aussendete, wenn man log – sie würde sie wahrnehmen und entsprechend schlussfolgern. Aber da eine Lüge, die man oft genug wiederholt, zur Wahrheit wird, hatte er das, was nun folgte, oft genug rekapituliert.

    »Darf ich dir etwas zu trinken anbieten?«, fragte Catherine.

    »Ein Kaffee wäre wundervoll.« Es war pure Höflichkeit, die aus ihm sprach und die Catherine von ihm erwartete. Nathan hatte nur wenig Lust, dieses Treffen unnötig in die Länge zu ziehen.

    Catherine nickte und verschwand in die Küche. Ein Scheppern war zu hören. Nicht nur eines, ein ganzer Schwall drang zu ihm ins Wohnzimmer und Nathan wunderte sich langsam, was sie trieb. Er stand auf und folgte dem Klang der Geräusche, die ihn in eine für eine Campus-Wohnung sehr überdimensionierte Küche führte. Auf dem schwarz-weiß gefliesten Boden waren unzählige Küchenutensilien ausgebreitet und inmitten dieses Chaos saß Catherine und weinte.

    Verdammt! Nathan war nicht gut in solchen Situationen – nie gewesen. Aber er konnte das jetzt schlecht ignorieren und sich kommentarlos zurück auf die Couch setzen. Vielleicht wäre es sogar das, was die Etikette vorschrieb: eine peinliche Situation geflissentlich zu übersehen. Aber es war sicher nicht das, was Catherine oder jeder normal fühlende Mensch erwarten würde. Nathan ging zur Anrichte und riss ein paar Blätter der Küchenrolle ab. Dann wandte er sich Catherine zu, schob die Töpfe vom Boden beiseite und kniete sich neben sie. Er legte ihr beruhigend eine Hand aufs Knie. »Hey«, sagte er sanft. »Was ist denn los?«

    Catherine schluchzte und Nathan drückte sanft ihre Hand. Sie hob den Blick und Nathan reichte ihr eines der Tücher, mit dem sie sich ihre Tränen wegwischte.

    »Was ist los?«, fragte er erneut.

    Catherine schluckte. »Ich kann keinen Kaffee kochen.«

    Nathan runzelte die Stirn, obwohl er sich ziemlich sicher war, was nun folgen würde. Schließlich konnte ihre mangelnde Fähigkeit, Kaffee zu kochen, nur der Auslöser und nicht der Grund für ihren Zusammenbruch sein. Er nickte, wartete und vertraute darauf, dass sie von sich aus erzählen würde, was ihr auf der Seele lag.

    »Ich selbst trinke doch immer nur Tee«, sagte Catherine und klang wie eine Ertrinkende. »Amelia war die Kaffeetrinkerin. Sie hat immer Kaffee gekocht.«

    Nathan ließ die Hand auf ihrem Knie und nickte erneut. Es war grausam, sie in dem Glauben zu lassen, ihre Pflegeschwester wäre tot. Doch er hatte keine andere Wahl. »Du musst sie sehr vermissen.« Ihr Blick wurde leer und sie wandte ihn schließlich ab. Die Situation gefiel Nathan gar nicht. Er hatte für sein Vorhaben Emotionen in ihr wecken wollen, aber keine so starken. Vorsichtig rückte er ein Stück näher. »Du musst dich nicht dafür schämen. Du hast sie geliebt – natürlich trauerst du.«

    Catherine sah ihn an und die Tränen, die sie vor einigen Augenblicken weggewischt hatte, waren durch neue ersetzt worden. »Ich weiß, es überwältigt mich nur immer wieder in Situationen, in denen ich gar nicht damit rechne.«

    »Wie gemein«, sagte Nathan. »Ich hasse unberechenbare Dinge.«

    Ein zaghaftes Lächeln stahl sich auf Catherines Gesicht.

    Nathan nahm ihr Kinn sanft in seine Hand und zwang sie, ihn anzusehen. »Und wenn ich ehrlich bin, trinke ich viel lieber Tee.«

    Catherines Lächeln wurde breiter und überstrahlte die langsam trocknenden Tränen.

    Auch das wollte Nathan nicht. Er wollte ihr keine Hoffnungen machen, keine Gefühle in ihr wecken, die er nicht erwidern konnte. Er wollte einfach nur die Situation entschärfen.

    In all ihrer Trauer sah sie plötzlich glücklich aus.

    Das war nicht gut. Gar nicht gut.

    Amelia

    Moira stand auf, nahm den Kübel mit der Kotze in die Hand und wollte sich zurückziehen. Amelia war dankbar, die alte Frau um sich zu haben. Nicht nur, weil sie ihr half, an ihrer Gabe zu arbeiten, sondern weil ihre Gesellschaft guttat. Auch Sky unterstützte sie mit regelmäßigen Video-Konferenzen so gut er konnte. Wobei Sky – so gerne sie ihn auch mochte – in dieser Hinsicht manchmal zum Sklaventreiber mutierte. Amelia verstand, wie wichtig es war, dass sie Fortschritte machte und sie mit ihrer Gabe für ihre Sache eine wichtige Rolle spielte, aber es konnte auch sehr erschöpfend sein.

    Gemeinsam hatten sie eine Reihe von Versuchen gestartet und die Ergebnisse akribisch dokumentiert. Einige Zusammenhänge sahen sie mittlerweile als gesichert an. Offenbar wurde Amelia nur schlecht, wenn sich ihr Gegenüber ihrem Zugriff verschloss. Leider war das eher der Normalzustand, da Menschen für gewöhnlich verschlossen waren, was ihre Gedanken und Emotionen anging. Verständlicherweise. Nur wenn sie ihre Gabe bei jemandem einsetzte, der sich für sie öffnete und seine Barrieren fallen ließ, musste sie sich nicht übergeben.

    Das erklärte, warum ihr bei Pandora und auch bei Nathan nicht schlecht wurde. Sie hatten sich ihr bewusst geöffnet. Leider schloss das mehr oder weniger pauschal alle Fremden aus. Ob sich diese Übelkeit mit zunehmender Übung legen würde oder nicht, konnten sie noch nicht sagen. So oder so – sie musste es trainieren. Denn sich durch den Kopf eines Menschen zu navigieren, war nichts, was sich ihr intuitiv erschloss. Sich dort einzuklinken war eine Sache. Skys Lektion, die er ihr damals bei Erika erteilt hatte, bereitete ihr keine Probleme mehr. Aber bewusst zu steuern, was man sah, verursachte ihr – gelinde ausgedrückt – immer noch Kopfzerbrechen. Und wenn sie Sky und Nathan reden hörte und an ihre Matrix

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