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Trümmerland
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eBook420 Seiten5 Stunden

Trümmerland

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Über dieses E-Book

1941. Das nationalsozialistische Rumänien zu Beginn des Ostfeldzugs. Der Jungoffizier Ion »Nelu« Nicolescu bereitet sich auf den Kampf gegen die Russen vor. Bevor er an die Front versetzt wird, schwört er, seine Jugendliebe Andrada nach seiner erfolgreichen Mission zu heiraten. Aber Nelus Einheit wird unter das Kommando des deutschen Oberfeldwebels Schmidt gestellt, der seine rumänischen Untergebenen schikaniert. Aus Monaten werden Jahre und Nelu wird in der Schlacht um Stalingrad gefangen genommen. Während er in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager gefoltert wird, verliebt sich Andrada in den Bauern Cristian. Als Rumänien im Sommer 1944 die Fronten wechselt und nach und nach zu einem sozialistischen Staat umgebaut wird, werden aus alten Verbündeten Feinde, aus ehemaligen Feinden notwendige Partner. Für welche Seite entscheidet sich Nelu? Kann Andrada mit Cristian glücklich sein, während ihr Herz immer noch an einem gebrochenen Kriegsgefangenen hängt?
SpracheDeutsch
HerausgeberPlattini Verlag
Erscheinungsdatum1. Okt. 2020
ISBN9783947706259
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    Buchvorschau

    Trümmerland - Silvia Hildebrandt

    TRÜMMERLAND

    SILVIA HILDEBRANDT

    1. Auflage 2020

    ISBN 978-3-947706-24-2 (Taschenbuch)

    ISBN 978-3-947706-25-9 (e-Book)

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de

    © Plattini-Verlag – Alle Rechte vorbehalten.

    https://www.plattini-verlag.de

    Lektorat: Michaela Marwich – Dortmund

    Korrektorat: Jana Oltersdorff - Dietzenbach

    Umschlaggestaltung: Dream Design – Eitzweiler

    Konvertierung: Sabine Abels - Hamburg

    Karte: Wikimedia Commons

    SILVIA HILDEBRANDT

    TRÜMMERLAND

    Zum Buch

    1941. Das nationalsozialistische Rumänien zu Beginn des Ostfeldzugs. Der Jungoffizier Ion »Nelu« Nicolescu bereitet sich auf den Kampf gegen die Russen vor. Bevor er an die Front versetzt wird, schwört er, seine Jugendliebe Andrada nach seiner erfolgreichen Mission zu heiraten.

    Aber Nelus Einheit wird unter das Kommando des deutschen Oberfeldwebels Schmidt gestellt, der seine rumänischen Untergebenen schikaniert. Aus Monaten werden Jahre und Nelu wird in der Schlacht um Stalingrad gefangen genommen. Während er in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager gefoltert wird, verliebt sich Andrada in den Bauern Cristian.

    Als Rumänien im Sommer 1944 die Fronten wechselt und nach und nach zu einem sozialistischen Staat umgebaut wird, werden aus alten Verbündeten Feinde, aus ehemaligen Feinden notwendige Partner. Für welche Seite entscheidet sich Nelu? Kann Andrada mit Cristian glücklich sein, während ihr Herz immer noch an einem gebrochenen Kriegsgefangenen hängt?

    Rumänien 1940

    Stadt der Freiheit

    TEIL I

    Stadt der Freiheit

    RUINEN

    1941 – 1946

    Kapitel 1

    Stadt der Freiheit

    Mai 1941, Mihailsdorf, Kreis Timiș, Königreich Rumänien

    Warum will Nelu unbedingt, dass ich mir die Augen verbinde?«

    Andrada konnte es nicht lassen, an dem Stück Stoff herumzuzupfen, das ihr ihre Schwester um den Kopf legte. Für einen kurzen Moment blieb ihr die Luft weg, als sich das Leinen gegen ihre Nasenlöcher presste. Sie zerrte am kratzigen Fetzen und mit noch verschwommenem Blick schielte sie auf ihre Schuhe.

    »Weiß ich nicht. Er sagte mir nur, dass ich es tun solle. Jetzt komm. Ich sehe ihn schon auf der Straße. Gleich ist er da.« Damit zerrte Nina ihre Schwester durch das geöffnete Hoftor. Ihre Hände gruben sich hart in Andradas Schultern, und sie kreischte ein »He, lass das!«, da wurde ihr die Binde auch schon wieder abgenommen.

    Andrada brauchte erst einmal eine Sekunde, bis sie verstand, was sie da vor sich sah. Das Erste, dessen sie gewahr wurde, war das verschmitzte, jungenhafte Lächeln, das sie so gut kannte. Daraufhin huschten ihre Augen zu dem neuen Haarschnitt, der sich unter der Soldatenmütze abzeichnete. Und dann erkannte sie das gesamte Bild. Die Uniform, die blank polierten Stiefel, den Adler auf der Brust.

    Nelus Augen wurden größer und größer, er schien etwas von ihr zu erwarten, doch ihr fehlten jegliche Worte. Endlose Sekunden verstrichen. Dann ertönte Nelus Stimme mit der weichen und herrschaftlichen Bestimmtheit, die ihm so eigen war: »Na? Hab ich dir zu viel versprochen? Du sagst ja gar nichts.«

    »Ich …«, stammelte sie und trat versöhnlich einen Schritt auf ihn zu. Als wären sie ein Weltwunder, fuhren ihre Hände über die Schulterklappen, den Kragen, die Anstecknadel mit dem Hakenkreuz. »Es ist …«

    »Fesch, nicht wahr?«, schmunzelte Nelu und packte sie am Ellenbogen.

    »Ja … wirklich«, erwiderte sie unsicher. Irgendetwas regte sich in ihrem Gehirn. Ein nicht ausgereifter Gedanke. Ein gefährlicher, ein schmerzhafter Gedanke. Sie wollte nicht wahrhaben, was ihr Unterbewusstsein ihr zu sagen hatte.

    »Komm«, bat, nein, befahl er ihr mit einem Lächeln und zog sie am Arm mit sich fort. Einen letzten Blick auf Nina werfend, trippelte sie hinter Nelus forschen Schritten her. Er bewegte sich in seiner Soldatenuniform so ganz anders als noch gestern, als sie sich in dem Wirtshaus in die Augen geblickt hatten, über drei Tische hinweg, die beiden reichsten Familien des Dorfes. Ihre Liebschaft war ein offenes Geheimnis, das die Einwohner verfolgten, als wären sie das Kronprinzenpaar.

    »Nelu? Was machst du?«, fragte sie, als sie das Ortsschild ›Mihailsdorf‹ passierten und an der Straße aus Timișoara vorbei in die Wiesen und Felder einbogen.

    »In einer Woche bin ich auf dem Weg nach Bessarabien. Doch bis dahin gehöre ich ganz dir.« Dieses Lächeln, wie nur er es konnte. Und diese Stimme, die ihr mit ihrem Timbre Gänsehaut bereitete, egal was er auch sagte. Er besaß nicht denselben gedehnten Akzent der anderen Rumänen im Banat, seine Worte klangen kristallklar. Er verschluckte keine einzige Silbe, so wie es die Arbeiterschicht gerne tat. Er kürzte keine Wörter ab, wie es in der rumänischen Sprache üblich war. »Astăzi« wurde bei ihm nie zu »Azi«, »este« nie zu »e«.

    Bei einem Baum in der Nähe des Flusses machte er abrupt halt, und sie, überrascht von der plötzlichen Bewegung, fiel beinahe vom Fahrrad. Er schien dies geplant zu haben, denn sogleich schlossen sich seine Hände um ihre, und er zog sie an sich. Die Soldatenmütze fiel ihm vom Kopf, als er sich mit ihr auf den Boden plumpsen ließ, sie rollte einen halben Meter zur Linde und blieb dort achtlos liegen. So ein Verhalten geziemte sich für einen Soldaten der rumänischen königlichen Armee wohl nicht.

    »Du bist so schön, weißt du das?«, flüsterte er und blickte mit diesen undurchdringlichen Augen in ihre.

    »Wie hast du das gemacht? Das sieht aus wie ein Rasen«, lachte sie verlegen, streichelte über sein kurzgeschorenes Haar, um vom Thema abzulenken.

    »So macht man das, wenn man in den Krieg aufbricht.« Auch er strich sich nun über den Kopf, setzte sich auf, und sie lehnte sich gegen ihn an seine Schulter. »Ungeziefer hat da keine Chance im Feldeinsatz.«

    »Ich dachte, alles sei organisiert. Wie Arbeit. Man steht morgens auf, geht in die Schützengräben, kämpft ein paar Stunden, und dann wäscht man sich und kann sich wieder in sein Feldbett in der Kaserne schlafen legen. Wieso sprichst du jetzt von so etwas Hässlichem wie Ungeziefer?«

    »Hm, nicht ganz, Mädel.« Das war das Einzige, was sie nicht an ihm mochte. Dass er sie so nannte. Mädel. Und er benutzte auch noch das deutsche Wort dafür. Da wurde er ganz zu einem von denen, verlor seinen rumänischen Stolz, den sie doch so an ihm liebte.

    »Ach, egal. Ich möchte gar nicht wissen, was ihr da so macht. Das geht mich alles nichts an, und ich verstehe ja doch nichts von dem Männerkram. Sag, wann bist du wieder zurück?«

    »Ich werde nicht lange weg sein. Vor Weihnachten bin ich wieder da.« Ein Kuss. Seine Lippen waren so weich, so wunderschön. »Was soll ich dir von Russland mitbringen?«

    »Diese Eier, kennst du die? Die Zarenfamilie hat sie mal gesammelt. Voll mit Juwelen und Edelsteinen. Wenn man die besitzt, ist man eine Prinzessin.«

    Er strich ihr über das Haar, wickelte eine Strähne um seine Finger. Mit diesem Blick sah er selbst wie ein Prinz des Ostens aus. Ihre Freundinnen sprachen so oft von seinen hohen Wangenknochen, seinen aristokratischen Augenbrauen, und das brachte sie immer zum Lachen. »Wangenknochen? Augenbrauen? Du meine Güte!«, prustete sie dann immer los, woraufhin sich ihre Freundinnen neidisch mokierten: »Du weißt ja gar nicht, was du an Ion Nicolescu hast.«

    »Eier mit Juwelen und Edelsteinen?«, grinste er sie an. »Wirklich? Dafür soll ich die Tausende von Kilometern zurücklegen?« Als er seine Lippen neckisch verzog, bildeten sich diese Grübchen auf seinen Wangen. Ja, da könnte sie eine Idee davon bekommen, warum alle Frauen im Dorf neidisch auf sie waren. Dann salutierte er. »Natürlich. Für meine Prinzessin tue ich alles. Die bekommst du zu Weihnachten. Selbst, wenn ich dafür noch nach Moskau marschieren müsste. Obwohl es eher ein Geschenk für Ostern ist, nicht?« Das machte er immer. Sie ohne Vorwarnung küssen. Einfach so. Ein so nobler Unteroffizier wie er. »Und dann werden wir nächstes Jahr heiraten, ja? Andrada«, sprach er sie dann an, ernster, ein Glimmen in seinen Augen, »ich liebe dich. Das weißt du doch hoffentlich? Ich freue mich so auf meinen Einsatz in Russland. Freue mich, unseren Führern, Mareșal Antonescu und Herrn Hitler, zu dienen. Freue mich, es den Russen zu zeigen. Aber alle Ehren, die ich bekommen werde, alle Orden und Auszeichnungen, die widme ich nur dir, Andrada.«

    Das machte sie ganz verlegen. Sie spürte, wie ihre Wangen aufflammten. Du meine Güte, Nelu konnte wirklich ein Charmeur sein. Wenn er wollte. »Aber was mache ich all die Monate ohne dich?«

    »All die Monate ohne mich? All die Monate?« In seinem Lächeln lagen Liebe und Spott und diese so eigenartige Wut, die bei ihm manchmal durchkam. Ja, die Rumänen waren ein temperamentvolles Volk. Launisch wie das Wetter in ihrem Land, ihre Geschichte so wechselvoll wie die Gewässer der Donau. »Ich sagte doch, ich bin lange vor Weihnachten zurück. Alle sagen, im Oktober werden wir den Russen eingenommen haben. Und es ist ja bereits Mai. Du glaubst doch nicht etwa, dass wir länger brauchen?«

    Ein getrockneter Grashalm pikste sie am Ohr, die Sommerhitze der Flachebene der banatischen Puszta trieb ihr den Schweiß auf die Stirn, verklebte sie mit Nelu.

    »Nein, das glaube ich nicht. Aber einen Tag von dir getrennt zu sein, ist schon ein Tag zu viel.«

    »Vai, Mädel«, grinste er dann, in seinem deutsch-rumänischen Kauderwelsch, »aber du gönnst mir doch meinen Ruhm, nicht? Mein ganzes Leben schon träume ich von diesem Tag. Mich zu beweisen, etwas Großes zu leisten.«

    »Ich weiß. Ich bin auch sehr stolz auf dich«, seufzte sie. »Ich möchte lieber heute als morgen schon Frau Nicolescu Andrada heißen.«

    »Hm«, lächelte er, strich ihr das Haar hinter die Ohren. »Das wirst du auch bald. Nicolescu Andrada. Frau Nicolescu. Und nicht Nicolescova, wie es der Russe will. Dafür werde ich sorgen. Dass du eine stolze Rumänin bleibst, meine Frau. Niemand wird uns das Rumänische nehmen. Weder Moskau noch Berlin.«

    »Und? Ihr habt doch …, nicht wahr? Erzähl mir nichts. Ich weiß ganz genau …«

    Andrada schnitt Nina das Wort mit einem Winken ihrer Hand ab. Das hatte sie von Nelu gelernt: Dummes Geschwätz im Keim ersticken. Niemand konnte das so gut wie er. Er brauchte kein Wort, um die Leute zum Schweigen zu bringen. Und in so einem Dorf wie dem ihren redeten die Leute sehr viel, wenn zwei junge Menschen sich ineinander verliebten.

    Als sie jedoch in ihrem Zimmer allein war, befielen sie eine dumpfe Leere und Traurigkeit. Weswegen? Irgendwie schmerzten sie Ninas Worte. Nicht, weil sie so aufreizend und aufdringlich waren, nein. Sondern weil sie der Wahrheit entsprachen. Wie gern würde sie … ach nein, jetzt dachte sie schon wie diese furchtbaren Frauen vom Rande des Dorfes, wie diese Zigeunerinnen, die für jeden Mann die Beine breit machten. Nein, sie war nicht so eine. Sie gehörte dem alten Adel von Mihailsdorf an, eine Baronstochter mit einem riesigen Gehöft und etwa zehn Untergebenen. Aber die Vorstellung, heute mit Nelu …

    Schon wieder brannten ihre Wangen.

    Nächstes Jahr, vertröstete sie sich. Nächstes Jahr ist der Russe zurückgedrängt, der Krieg aus. Nächstes Jahr würden sie heiraten und dann hoffentlich schon bald ihr erstes Kind erwarten. Mit einem tiefen Seufzen blätterte sie den Wandkalender, der neben ihrem Schminkspiegel hing, durch. Juni, Juli, August, September, Oktober, November, Dezember und dann Januar. Ein neues Jahr. So schnell ging das. Kein Grund, ungeduldig zu sein.

    »Drada? Kommst du essen, Drada?«, rief ihre Mutter sie aus der Küche heraus.

    Seitdem sie und Nelu ein Paar geworden waren, hasste sie ihren Spitznamen, der dadurch entstanden war, dass sie sich als Kleinkind selbst so benannt hatte. Nie hatte Nelu sie so genannt, es auch nie in Erwägung gezogen. Für ihn war sie immer »Andrada«, keine Silbe weniger. Jeder einzelne Buchstabe glitt ihm sorgfältig über die Lippen, wie alle Worte der rumänischen Sprache. Dafür war er über die Grenzen ihres Dorfes bekannt, ja, manchmal wurde er dafür sogar verspottet.

    »Ich komme«, rief sie herunter und klappte ihr Tagebuch zu. Nicht viel hatte sie darin geschrieben. Nur immer wieder ein und denselben Namen, in verschiedenen Varianten. Nelu. Ionel. Ion. Ioane. Nicolescu Ion Valerian.

    Es gab Gemüsesuppe mit Hackfleischbällchen, egal ob im Sommer oder im Winter, immer gab es Suppe. Ciorbă de perișoare. Der Baron, ihr Vater, war einer der wenigen, die noch Fleisch zugeteilt bekamen im Krieg. Sie wusste, sie müsste dankbar dafür sein, aber langsam hing ihr die warme Brühe zum Hals heraus.

    Sie beteten schon lange nicht mehr, stumm löffelten sie ihre Suppe aus. Vater war im Heimeinsatz, unterstützte in der großen Stadt Timișoara den Nachrichtendienst der Armee.

    »Und? Wie war dein Tag, Drada?«, fragte ihre Mutter sie.

    »Gut«, antwortete Andrada mit vollem Mund.

    »Sie hat Nelu getroffen«, platzte dann Nina heraus.

    »Du Biest!«, zischte sie.

    »Ich sag ja nur.«

    »Mädchen. Bitte. Nicht streiten.« Ihre Mutter hob beide Hände und beschwichtigte sie damit. Wieder schweigendes Suppenlöffeln. Andradas Wangen waren inzwischen in Flammen aufgegangen. »Es ist wahr«, bestätigte sie schließlich. Es wusste ja doch jeder hier im Dorf, dass sie miteinander verbandelt waren. Und es war ja nicht so, als sähe man es nicht gern. Die Baronstochter und der noble Erbe einer Offiziersfamilie. Was gab es Besseres? »Nelu sendet dir seine Grüße, Mama«, fügte sie dann diplomatisch hinzu.

    »Sag ihm, es hat mich gefreut.« Auch die Wangen ihrer Mutter glühten. Niemand konnte dem Charme des jungen Nicolescu entfliehen. »Wie geht es ihm? So kurz vor seinem Kriegseinsatz?« Es hatte sich bereits herumgesprochen. Nelu selbst war auf dem Marktplatz aufgetaucht, stolz in seiner Paradeuniform, hatte alle über seinen Einsatzbefehl informiert. Mit zweiundzwanzig Jahren war es auch höchste Zeit.

    »Gut. Es geht ihm ausgezeichnet. Er brennt darauf, sich zu beweisen. Wette, er kommt als Colonel zurück. Oder zumindest als Maior.«

    »Mit zweiundzwanzig?« Ihre Mutter hob die Augenbraue. »Eher unwahrscheinlich.«

    Andrada wusste nicht viel über die Ränge im Militär. Was war mehr wert? Colonel oder Maior? Wen kümmerte es schon, wenn Nelu so schön lächelte, so adrett in seiner Uniform aussah, ihr die Sterne vom Himmel versprach?

    »Aber ich werde für ihn beten, dass er heil zurückkehrt«, fügte ihre Mutter noch hinzu.

    »Er möchte mich nächstes Jahr heiraten«, brachte sie dann heraus.

    »Wirklich? Hat er das gesagt?«, blökte Nina.

    »Er sagte, ich werde bald Frau Nicolescu. Und nicht Nicolescova, wie es der Russe gern will. Dafür sorge er. Das waren seine Worte.« Andrada reckte ihre Nase in die Luft.

    »Was hat er nur gegen die Russen? Als ob der werte Herr Hitler der Messias wäre.«

    »Nina!« Empört erhob ihre Mutter die Stimme.

    »Ich sag ja nur. Diese Theorie von den Sowjets … ich muss schon sagen, das hat was.«

    »Nina«, tadelte sie Mutter. »Du bist genauso wie Cristi.«

    Cristi – Georgescu Cristian – war ihr Cousin zweiten Grades. Und er machte keinen Hehl aus seiner Sympathie für den Sozialismus. Und Nina machte keinen Hehl aus ihrer Schwärmerei für Cristian.

    »Was findest du nur an diesem Kerl?«, fragte Andrada später, als sie und Nina den Abwasch erledigten, während ihre Mutter im Hof Holz für den nächsten Tag hackte.

    »Cristi?« Nina sah auf, blickte verträumt zu den Kacheln der Küche, als wäre es das Schönste der Welt.

    »Ja, der.«

    »Nun, er ist sehr zuvorkommend, arbeitet hart, widmet sich einer Sache voll und ganz. Manchmal spielt er mir auf seiner Gitarre etwas vor. Wer kann da schon widerstehen? Er ist einer dieser seltenen Männer, die ihre Freundin auf Händen tragen würden. Und er hat Humor. Was man von deinem Nelu nicht gerade behaupten kann.«

    »Nelu macht keine albernen Sachen, das ist unter seiner Würde«, verteidigte Andrada ihren Freund. Aber es kam mürrischer heraus als beabsichtigt. Einige Male waren sie zu viert im Jagdhaus etwas trinken gewesen. Sie mit Nelu und Nina mit Cristian. Während Nelu stumm da saß, seine Hand in Andradas Schenkel krallte, machte Cristi den Abend mit seinen lebendigen Erzählungen zu einem unvergesslichen Erlebnis. Sie hatte Tränen gelacht.

    »Würde …«, murmelte Nina. »Tatsächlich ist Nelu sehr würdevoll, aristokratisch. Und er sieht verdammt gut aus. Aber ich habe ihn lieber auf ein paar Meter Entfernung. Möchte nicht wissen, wie es ist … wenn man ihm zu nahe kommt«, kicherte sie.

    Erst nach ein paar Augenblicken verstand Andrada, was Nina andeuten wollte, und spritzte sie mit dem Schaumwasser voll.

    »Du Biest! Weißt du was, ich kann es kaum erwarten, dass wir uns zu nahe kommen. Wenn er erzählt, dass er unbedingt einen Sohn haben möchte, und zwar bald, dann …«

    »… dann läuft es dir kalt den Rücken herunter. Ja, kann ich verstehen.«

    »Nein, dann krieg ich so ein wohliges Gefühl im Bauch. Und alles ist so leicht und so süß. Als würde ich schweben.«

    »Du bist tatsächlich in ihn verliebt. Na ja, wenigstens heißt Mama deine Beziehung zu ihm gut. Du würdest nicht unter deinem Stand heiraten, hm?«

    »Sagt sie das wegen Cristi?«

    Nina blies sich eine Locke, die ihr ins Gesicht fiel, von der Stirn. »Er gehört nun mal dem berühmt-berüchtigten ärmeren und abtrünnigen Zweig der Familie an.«

    »Aber in der Vergangenheit ist es schon öfter vorgekommen, dass jemand aus unserer Familie jemanden der Georgescus geheiratet hat. Mamas Schwester ist mit einem verheiratet.«

    »Deswegen ist sie ja auch die komische Schwester

    Andrada seufzte schwer. »Ach, mach dir nichts draus. Es ist ja ohnehin so lächerlich. Als wären wir Mitglieder der Königsfamilie. Dabei ist das hier nur ein kleines Dorf.«

    »Cristi sagt, wenn sich der Sozialismus durchsetzt, dann gibt es das nicht mehr. Stände und Klassenunterschiede. Dann sind wir alle gleich. Keine Herrscher und Beherrschten, nur Genossen.«

    »Pst!« Andrada wedelte wild mit den Armen herum. »Bist du verrückt geworden? Warum sagst du so etwas Gefährliches? Das darf man doch nicht!«

    »Was?«, spöttelte Nina. »Verpfeifst du mich jetzt an Nelu?«

    »Was, wenn ich das mache?«

    Zuerst lächelte Nina noch schüchtern, dann gefror ihr Lächeln zu einem starren Ausdruck der Angst. Die Luft in der Küche wurde heißer und stickiger. Die Anspannung war so dicht, dass man sie hätte mit einem Messer schneiden können. Doch dann prustete Andrada los. »Du hast ernsthaft geglaubt, ich mach das? Meine Schwester verpfeifen. Oh, Nina!« Sie umarmte sie, drückte sie an sich, schüttelte lachend den Kopf.

    Nina jedoch blieb regungslos stehen, sah ihre Schwester nicht an.

    Sie ging früh zu Bett an diesem Tag, ohne noch Gute Nacht zu sagen.

    »Es tut mir leid, dass ich dich habe warten lassen. Ich musste in der Militärpräfektur etwas erledigen.«

    »Ach, das macht doch nichts. Jetzt bist du ja da«, winkte sie Nelu ab.

    Andrada war erboster, als sie zugeben wollte. Drei Stunden hatte er sie warten lassen, und das machte er sonst nie. Glühend vor Wut und auch vor Eifersucht war sie in ihrem Zimmer auf- und abmarschiert, hatte jede Minute aus dem Fenster auf die Straße gestarrt, war nach zwei Stunden auf den Gehweg gewechselt und hatte die Strada Carpatii hinab gestarrt, wie die alten babele, die sich auf ihren Stühlen, das Kinn auf ihren Spazierstock gestützt, positionierten und die Einwohner des Dorfes beobachteten. Aber wie er da vor ihr stand, sie aus treuherzigen Augen ansah, über sein Fahrrad gebückt wie ein kleiner Welpe, der wusste, dass er etwas angestellt hatte, da verflog ihre Empörung. Er trug wieder seine Uniform. Sicher musste er darin in Timișoara Rapport geben und sich zeigen. Jeder Faden in jedem einzelnen Knopfloch saß, die Mütze gerade auf seinem Kopf, als könnte kein Windstoß sie hinab fegen. Wie ein Prinz. Und so nannte man Nicolescu Ion Valerian auch. Der Kronprinz von Mihailsdorf. Der begehrteste Junggeselle im Banat. Und er gehörte ihr, Andrada. »Du bist doch nicht etwa nach Timișoara geradelt?«

    »Nein, Mädel. Dafür wird man vom Militärwagen abgeholt«, antwortete er, und das Lächeln verschwand von seinen Lippen. Jetzt war er wieder der tadelnde Vater. Hatte sie etwas Dummes gesagt? Sie wollte ihn doch nur erheitern, einen Witz machen. Dann wieder der schillernde Ton zwischen Lachen und Befehlen, zwischen Schwarm und Freund, so vielschichtig wie die Farbe seiner Augen: »Komm. Setz dich hinten auf.«

    Sie klemmte ihr rot geblümtes Kleid zwischen die Knie, als sie sich auf den Gepäckträger setzte. Mit ihren Händen seinen Bauch zu umschließen, fühlte sich ein wenig wie Sünde an. Er jedoch drückte ihre Hände fester an sich, und dann fuhr er mit einem Ruck los. Sie hatte sein Parfüm in ihrer Nase. Kölnisch Wasser. Das gab es nur in der Stadt.

    Gerade, als es unangenehm wurde, auf dem Träger zu sitzen, erreichten sie ein Jagdrestaurant außerhalb des Dorfes. Nelu nahm sie bei der Hand, zärtlich, aber fordernd, jedem zeigend, dass sie ihm gehörte. Er manövrierte sie zu einem Tisch, den er offensichtlich reserviert hatte. Es waren kaum Leute zugegen, dennoch hatte er es nicht drauf ankommen lassen.

    Sich setzend wie ein General in voller Würde, nahm er seine Mütze ab und winkte einen Kellner herbei. Nelu fragte sie nicht, was sie wollte. Bestellte für sich ein Bier und für sie ein Glas Wasser. Nun, sie hätte gerne etwas anderes getrunken als Wasser, aber sie liebte seine männliche, bestimmende Art. Doch dann, als der Kellner ihre Bestellungen brachte, leuchteten ihre Augen auf. »Mineralwasser!«

    »Ja, was denkst denn du? Dass ich für dich nur simples Brunnenwasser bestelle? Das kriegst du auch daheim.«

    Die Perlen blubberten in ihrem Mund, kribbelten im Hals. Wenn sie die Augen schloss und den harzigen Geruch des Waldes einatmete, konnte sie so tun, als würde sie Schaumwein trinken.

    »Das ist der einzige Laden, wo man ausdrücklich nur Rumänen und Deutsche bedient«, murmelte er, die Zigarette in seinem Mundwinkel wippte auf und ab. »Eine Schande. Dieses Ungarnpack muss auch überall antanzen.«

    Sie hatte nicht viel mit den Ungarn zu tun, also zuckte sie nur mit den Achseln. Die bozgorii, wie man sie auch abschätzig nannte, wohnten in der Nähe des Parks Elisabeta, und es gab keinen anderen Weg als durch ihr Viertel, wenn man etwas im Grünen flanieren wollte. Dann musste man durch den Kinderlärm ihrer Großfamilien hindurch. Egal was sie auch sagten, ihre Sprache hörte sich immer wie Kriegsgeschrei an. Andrada waren die Ungarn nicht geheuer.

    »Aber ich sag dir, schon bald wird hier aufgeräumt«, fuhr er fort. »Wenn der Krieg erst einmal vorbei ist, beseitigen wir die Trümmer und ordnen das Land neu. Dann gibt es nur noch uns Rumänen. Und, na ja, die Deutschen. Aber keine Ungarn, keine Zigeuner und sicherlich keine Juden mehr. Meine Söhne sollen in einem freien und sauberen Rumänien aufwachsen.«

    Dazu konnte sie nicht viel sagen. Die verschiedenen Nationalitäten ließen sich weitestgehend in Ruhe, also hatte sie nicht viel mit denen am Hut.

    Er rückte mit seinem Stuhl näher an sie heran und drückte seine Hand gegen ihren Bauch. Es tat ein wenig weh. »Im Januar heiraten wir. Und dann kommt hoffentlich bald unser erster Sohn zur Welt, nicht wahr? Lass uns keine Zeit verschwenden.«

    Sie lachte lauthals auf. »Oh, und hast du auch schon einen Namen für unseren ersten Sohn, du?«

    »Tiberiu«, erwiderte er, und sie brauchte einige Zeit, um zu merken, dass er es ernst meinte.

    »Wie bitte?«, stammelte sie, ihr Mund war plötzlich trocken. Seine Hand drückte sich fester in ihren Körper, schnürte ihr die Luft ab. Es war nicht unangenehm.

    »Tiberiu«, wiederholte er. »Ich habe diesen Namen schon länger ausgesucht. Ein Name von Kaisern und Königen. Jeder soll wissen, dass er einen Nicolescu vor sich hat. Wir sind nicht irgendwer.«

    Verlegen sah sie zu Boden. »Meinetwegen.«

    »Noroc«, prostete er ihr zu und erhob sein Bierglas.

    Mit glühenden Wangen trank sie ihr Wasser in einem Zug halb aus.

    Sie musste sich an die Worte ihrer Mutter erinnern: »Du bist wunderschön. Du kommst aus einem noblen Elternhaus. Du bist klug und gebildet, bist in Timișoara zur Schule gegangen. Höre nicht auf das Gerede der anderen Mädchen. Auch wenn du mit achtzehn noch nicht verheiratet bist, das macht nichts, solange du nur Nicolescus Frau wirst. Niemand Geringerer als er ist deiner würdig.«

    Seit sie denken konnte, hatte sich ihre Mutter an die Fersen der Nicolescu-Familie geheftet, sie in der Kirche gegrüßt, ihr breitestes Lächeln gezeigt, wenn sie sich zufällig in der Stadt trafen. Hatte ihren Arm besonders lange zum Hitlergruß erhoben, sobald sie Nelu und seine Eltern irgendwo getroffen hatte. Sie wusste ja nicht, dass sie nicht die Kupplerin zu spielen brauchte. Längst waren sich Andrada und Nelu nähergekommen. Zuerst in Timișoara, nach der Schule, als sie über die Piața Operei schlenderten, und dann hatten sie sich auch an den Wochenenden in ihrem Dorf miteinander verabredet. Als spielende Kinder, dann als verliebte Jugendliche. Als sie den ersten Flaum auf Nelus Oberlippe erblickt hatte, konnte sie nächtelang nicht mehr schlafen, musste nur an ihn denken, und etwas wühlte sie in ihrem Inneren auf, verursachte eine angenehme Übelkeit.

    Den ersten Kuss gab es vor einem Jahr, zum Herbstball. Er hatte sie vor allen beiseite gezogen, war durchs Mondlicht mit ihr spaziert. Und dann drückte er ihr einen Kuss auf die Lippen, fast geschäftsmäßig. Doch sie hatte das Gefühl gehabt, als müsse sie vor Freude zerspringen. »Ich werde dich heiraten, Andrada«, verkündete er, seine Hand hatte sich in das Fleisch ihres Armes gegraben. »Du wirst meine Frau. Aber ich kann dich nicht jetzt schon heiraten, nicht bevor ich mich bewiesen habe als junger Offizier.«

    »Wir gehen jetzt, Andrada.« Seine Stimme riss sie aus ihren Tagträumen.

    »Ja, sicher«, stammelte sie und erhob sich.

    Den gleichen Weg zurück, an den Feldern der Bauern entlang, der Eisenbahnlinie folgend, fuhr Nelu Richtung Friedhof. Er hätte auch einen anderen, einen weniger unheimlichen Weg nehmen können, aber jedes Mal fuhr er an den Gräbern vorbei, bog dann an der ungarischen und rumänischen Kirche auf die Hauptstraße und hielt vor ihrem Anwesen in der Strada Adolf Hitler, die früher Königstraße hieß.

    »Du verabschiedest dich doch noch von mir? Morgen ist mein letzter Tag, dann bin ich auf dem Weg nach Russland«, sagte er, die Hände lässig in den Hosentaschen seiner Uniform.

    »Sicher«, bestätigte sie, versteckte ihr erhitztes Gesicht hinter ihren Händen. Morgen war es also so weit. Ein Abschied auf Zeit. Sie vermisste ihn jetzt schon, seine Abwesenheit grub ein tiefes Loch in ihr Innerstes, auch wenn er noch vor ihr stand.

    »Sei vor dem Rathaus um null achthundert.«

    »Null achthundert?«

    »Acht Uhr in der Früh.« Er hob eine Augenbraue, blickte sie an, als ob sie ein Kind wäre.

    »Null achthundert. Verstanden. Ich werde da sein, Nelu.«

    Er salutierte. Dann schwang er sich jedoch noch nicht gleich aufs Rad, sondern sah sie eindringlich an. Was ging in seinem Kopf vor? Das fragte sie sich andauernd. Und dieses Unnahbare machte auch die Faszination des Nicolescu Ion aus. Er hatte den Zauber einer lebend gewordenen Statue, ein Mensch, nicht von dieser Welt. Selbst wenn er witzelte und lächelte, wirkte er wie ein Mitglied der Königsfamilie, wie jemand, der nicht einfach so mal grinst. Der nicht geht, sondern schreitet. Nicht redet, sondern rezitiert.

    »Andrada.« Das war sein Abschiedsgruß.

    »Nelu«, hauchte sie und winkte ihm zu, bis er hinter dem Rathaus verschwand.

    * * *

    Cristian wurde von der brennenden Sonne aufgeweckt. Seine Knochen schmerzten, als er sich reckte und aufstehen wollte. Die Schirmmütze rutschte von seinem Kopf, und da knallte ihm das Leuchten der Sonne mit voller Wucht ins Gesicht.

    Wie konnte man nur so dumm sein! Er war in der Schaufel seines Traktors eingeschlafen wie in einem Bett, der Oberkörper entblößt, ohne den schützenden Schatten eines Baumes hatte er sich hingelegt – nur für fünf Minuten! – und war dann weggepennt. Wie lange mochte er geschlafen haben? Nun, lange genug. Denn als er seine Hände auf seine Brust legte, schmerzte seine gerötete Haut. Die Hitze hatte ihn erwischt, und als er aufstand, drehte sich alles um ihn herum.

    Torkelnd wankte er zum Brunnen, kippte einen Eimer Wasser über seinen Kopf und musste sich gegen den Brunnenrand lehnen, um sich nicht zu übergeben.

    Dann brach er in schallendes Gelächter aus. Krümmte sich, schüttelte den Kopf, die Tränen stiegen ihm in die Augen. Er winkte seinen Kameraden – Genossen, wie sie sich heimlich nannten – zu, als er sie am Wegesrand von ihrer Mittagspause kommen sah, die Mistgabeln und Schaufeln über die Rücken tragend.

    »Heh, Cristi, was ist so witzig? Wir wollen auch mitlachen«, rief ihm Octavian, sein Freund, zu.

    »Was so witzig ist? Guck mich doch mal an«, gluckste er.

    »Ah, sehe schon. Mal wieder eingeschlafen. Na, was willste denn machen?« Octavian kramte eine Flasche Schnaps aus seinem Rucksack, schenkte ihm und Cristian je ein kleines Glas ein. Cristian nahm die Erfrischung dankbar an. Die glasklare Flüssigkeit brannte in seiner Kehle, ließ seine Haut noch mehr aufflammen und linderte den Schmerz gleichzeitig. Țuică. Schmerz und Glück. Das rumänische Nationalgetränk, brutal und tröstend zugleich. Ein schmaler Grat zwischen feuchtfröhlicher Heiterkeit und aggressiver Melancholie.

    »Hab gehört, morgen brechen die Soldaten nach Bessarabien auf«, sagte Octavian und ließ den Brunneneimer wieder ins Wasser knallen.

    »Hm, und?« Cristian hasste das Thema. Die Schwester seiner Freundin Nina war in einen der Wehrmachtssoldaten verliebt, in diesen Nicolescu, den arroganten Schnösel. Und trotz der Familienbande war die Wehrmacht der ideologische Feind, wenn auch der heimliche.

    »Hast ganz schön geschwindelt mit deinem Bein, als die zur Musterung da waren, ne?« Octavian knuffte ihn in die Seite.

    »Ach wo, die Schweine verdienen es nicht anders, als dass man sie betrügt. Nie werde ich für die Braunen kämpfen, ich bin ein Roter durch und durch«, flüsterte er, wohlbedacht, dass die andere Gruppe Bauern nicht mitbekam, was er sagte. Er konnte sich beinahe sicher sein, dass auch sie die sozialistische Bewegung unterstützten, jedoch – was war schon sicher? Tag für Tag musste er seine Hoffnung irgendwie aufrechterhalten, dass die Wehrmacht in Russland scheiterte, dass sich Stalin doch noch als Sieger in diesem Krieg hervortat und die Staaten nach und nach sein Regierungsmodell als Vorbild nahmen. Die Revolution würde auch noch auf Rumänien übergreifen, dessen war er sich sicher, auch wenn die lackierten Nazi-Affen noch so stolz durchs Dorf marschierten und ihre geleckten Stiefel herzeigten.

    »Ich musste dir fast das Knie brechen, damit sie dich nicht einziehen«, lachte Octavian. »Wie blöd kann man denn sein?«

    »Blöd? Das nenne ich nicht blöd. Das ist klug. Für die Weltrevolution ist mir kein Risiko zu hoch.«

    »Und tust du für die Weltrevolution auch noch etwas anderes, als dich grün und blau schlagen zu lassen?« Octavian kramte aus seiner Tasche eine Streichholzschachtel und eine Packung Zigaretten heraus, bot eine

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