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Haus ohne Volk
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eBook320 Seiten4 Stunden

Haus ohne Volk

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Über dieses E-Book

Rumänien 1969: Das Land steht in voller Blüte; Ceaușescu ist nach der Lossagung von der UdSSR so beliebt wie nie zuvor. Mit der BRD handelt er einen lukrativen Deal aus: Rumäniendeutsche lässt er gegen Bargeld und Luxusgüter ausreisen. Oberster Verhandlungspartner: Nelu Nicolescu, ein hohes Tier der Securitate.
Währenddessen baggert der forsche und charismatische Corneliu Matalin die Banater Schwäbin Magdalena an. Ihre Familien sehen diese Verbindung jedoch aufgrund der ethnischen Unterschiede gar nicht gern. Im Herbst tritt er seinen Wehrdienst an und rettet Ceaușescu auf einem Jagdausflug das Leben – und damit verändert sich für ihn alles.
Nelu sieht in ihm einen talentierten Mitarbeiter und wirbt ihn für die Geheimpolizei an. Diese Chance, zu Geld und Ruhm zu kommen, lässt sich Corneliu nicht entgehen. Damit punktet er endlich auch bei Magdalenas Eltern.
Doch immer wieder müssen sich Corneliu und Magdalena neuen Anfeindungen stellen, auch ihre Tochter Livia wird als "Mischling" gehänselt. Als er sich auf einer Mission eine Beinverletzung zuzieht, lässt er seinen Frust an Magda aus – das Ende ihrer Ehe.
Während Ceaușescu mit seinem Größenwahn das Land fast unbemerkt in den Ruin treibt, geschieht etwas, womit keiner gerechnet hatte – und danach wird Rumänien nie wieder so sein wie zuvor …
SpracheDeutsch
HerausgeberPlattini Verlag
Erscheinungsdatum1. März 2021
ISBN9783947706297
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    Buchvorschau

    Haus ohne Volk - Silvia Hildebrandt

    HAUS OHNE VOLK

    SILVIA HILDEBRANDT

    1. Auflage 2021

    ISBN 978-3-947706-28-0 (Taschenbuch)

    ISBN 978-3-947706-29-7 (e-Book)

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de

    © Plattini-Verlag – Alle Rechte vorbehalten.

    https://www.plattini-verlag.de

    Lektorat: Michaela Marwich – Dortmund

    Korrektorat: Jana Oltersdorff - Dietzenbach

    Umschlaggestaltung: Dream Design – Eitzweiler

    Konvertierung: Sabine Abels – www.e-book-erstellung.de

    Silvia Hildebrandt

    Haus ohne Volk

    Zum Buch

    Rumänien 1969: Das Land steht in voller Blüte; Ceaușescu ist nach der Lossagung von der UdSSR so beliebt wie nie zuvor. Mit der BRD handelt er einen lukrativen Deal aus: Rumäniendeutsche lässt er gegen Bargeld und Luxusgüter ausreisen. Oberster Verhandlungspartner: Nelu Nicolescu, ein hohes Tier der Securitate.

    Währenddessen baggert der forsche und charismatische Corneliu Matalin die Banater Schwäbin Magdalena an. Ihre Familien sehen diese Verbindung jedoch aufgrund der ethnischen Unterschiede gar nicht gern. Im Herbst tritt er seinen Wehrdienst an und rettet Ceaușescu auf einem Jagdausflug das Leben – und damit verändert sich für ihn alles.

    Nelu sieht in ihm einen talentierten Mitarbeiter und wirbt ihn für die Geheimpolizei an. Diese Chance, zu Geld und Ruhm zu kommen, lässt sich Corneliu nicht entgehen. Damit punktet er endlich auch bei Magdalenas Eltern.

    Doch immer wieder müssen sich Corneliu und Magdalena neuen Anfeindungen stellen, auch ihre Tochter Livia wird als „Mischling" gehänselt. Als er sich auf einer Mission eine Beinverletzung zuzieht, lässt er seinen Frust an Magda aus – das Ende ihrer Ehe.

    Während Ceaușescu mit seinem Größenwahn das Land fast unbemerkt in den Ruin treibt, geschieht etwas, womit keiner gerechnet hatte – und danach wird Rumänien nie wieder so sein wie zuvor …

    Prolog

    Haus ohne Volk

    Constanța, Sozialistische Republik Rumänien, Sommer 1969

    »Findest du nicht, dass es wieder Zeit ist zu heiraten, mein Freund?«

    Nelu, Mareșal des rumänischen Geheimdienstes, zündete sich eine Zigarette an, seine Augen schweiften über die Strandpromenade, an der die leichtbekleideten Frauen flanierten, ihre schönen Augen hinter riesigen Sonnenbrillen versteckt. Was für eine schreckliche Mode. Und ihre Badeanzüge erst! Stülpten sich vorne, wo sie die Brustwarzen verdeckten, wie ein Trichter. Dann erst sah er zu demjenigen, der ihm gegenübersaß – Nicolae Ceaușescu, seit vier Jahren Generalsekretär der Kommunistischen Partei und politische Hoffnung sowohl im Osten als auch im Westen.

    »Ich weiß nicht, aber ich werde langsam alt. Wer will mich schon noch haben?«

    Ceaușescu schnaubte durch die Nase. »Du hast gut reden. Wenn ich nur in meinen jungen Jahren so gut ausgesehen hätte wie du jetzt … meine Seele würde ich verkaufen für so ein Gesicht.«

    Zwischen den antiken Säulen des Restaurants Ovid spielte ein Geschwisterpaar Fangen, ein roter Plastikwasserball rollte zwei Meter neben ihrem Tisch über den Marmorboden und erinnerte Nelu daran, dass er seinen Sohn anrufen sollte, der zu Hause im Westen des Landes, nahe Timișoara unter der strengen Herrschaft einer Haushälterin für die Schule paukte. Sieben Jahre war Tiberiu schon alt und noch immer so schüchtern wie ein Mauerblümchen vom Land.

    »Schau dir das an.« Ceaușescu reckte die Arme seitlich in die Höhe. »Fühlst du es denn nicht auch? Der alte Zauber des Römischen Reichs: Hier ist er noch lebendig. Selbst der Kitsch strotzt nur so vor romanischem Stolz.«

    Nelu murmelte unter seiner Zigarette, nahm einen tiefen Zug und sah dem sich auflösenden Rauch zu, der in der heißen Mittagssonne verglühte. »Die Frauen zumindest …«, dabei deutete er auf eine Reihe junger Studentinnen, die gerade laut lachend nach einem freien Tisch Ausschau hielten, »… die sind genauso leicht bekleidet wie zu den Zeiten, als Ovid hierher verbannt wurde.«

    »Na siehst du!« Ceaușescu beugte sich zu ihm herüber und klopfte ihm auf die Schulter. Dabei stieß er ein bellendes Lachen aus, das ihn um zehn Jahre älter wirken ließ. »So gefällst du mir. Na, such dir eine aus. Wer ist es von denen?« Aus dem Augenwinkel sah Nelu, wie Ceaușescu seinen Kopf drehte und Nelus Blick folgte. »Die mit der Hochsteckfrisur und der weißen Sonnenbrille? Nein, nein, es muss die Blonde sein. Ich weiß, du stehst auf die Blonden.«

    Nelu schluckte. An wen ihn eine der drei Grazien erinnerte, das wollte er nicht sagen. Das wollte er sich selbst nicht in Erinnerung rufen. Eine alte, längst verflossene Liebe.

    »Aber lassen wir die Nebensächlichkeiten. Das mit dem Römischen Reich. Ich meinte das durchaus ernst, Nelu. Weißt du, was diesem Rumänien fehlt?«

    »Was? Funktionierende Toiletten landesweit?«

    »Ach du!« Noch mal ein Schulterklopfen. Auf Dauer hielt Nelus Herz das nicht aus. Es stolperte bei diesen ruckartigen Bewegungen. Und Ceaușescus fleischige Pranken versetzten ihn immer in diesen eigenartigen Schockzustand.

    »Jetzt, da wir solch ein Ansehen in der Welt erlangt haben, seit wir uns gegen den Einmarsch der Russen in die Tschechei gestellt haben, fehlt uns ein Monument. Ein wahrhaft kaiserliches Bauwerk, das uns als legitime Nachfolger Roms auszeichnet. Einen Palast, wie ihn die Welt noch nie zuvor gesehen hat.«

    Nelu presste seine Lippen aufeinander. Der kleine Bub hatte seine Schwester endlich einmal gefangen, verpasste ihr eine Ohrfeige, woraufhin sie ihm das Eis aus der Hand schlug und er zu weinen begann. Schließlich antwortete Nelu: »Ich wäre eher für die Toiletten.«

    TEIL I

    Haus ohne Volk

    DER OSTEN

    Kapitel 1

    Haus ohne Volk

    Bukarest, Mihailsdorf, Galați; Sozialistische Republik Rumänien, 1969

    An diesem heißen Augusttag betrat Nelu das Intercontinental in voller Uniform. Eine Sonnenbrille verdeckte seine Augen, jedoch waren die Rangabzeichen auf seinen Schulterklappen für jeden sichtbar. Er krampfte seine Hände um den Griff seiner Aktentasche, als um ihn herum das Tuscheln aufbrandete. Nach all den Jahren im Dienst konnte er sich noch immer nicht daran gewöhnen. Geduldig stellte er sich an der Rezeption in die Schlange. Die Frau, die vor ihm dran war, versuchte dem Pagen zu erklären, dass dieser ihren wertvollen Koffer ja nicht fallen lassen sollte. Als sie sich umdrehte und sich nach einer Schrecksekunde gewahr wurde, wen sie vor sich hatte, rutschte ihr besagter Koffer auf den Händen und knallte auf den Boden.

    Lächelnd hob Nelu ihn auf und reichte ihn ihr zurück. Er war schwer wie Blei.

    Bemüht lässig tippte er sich an die Offiziersmütze und brachte etwas Abstand zwischen sich und die Frau, als er auf den Tresen zuschritt.

    »Mein Herr Mareșal«, wurde er sogleich angesprochen und murmelte eine müde Erwiderung.

    »Sie wollten Richard Nixon nicht persönlich begrüßen?«

    Nelu versuchte sich an einem aufrichtigen Lächeln, aber nachdem er das bereits so oft gefragt worden war, gelang es ihm nicht mehr. »Sehen Sie, ein Mann in meiner Position hält sich lieber im Hintergrund.«

    »Na… Natürlich, Genosse Mareșal«, stammelte der Angestellte des teuersten Hotels der ganzen Stadt, des ganzen Landes, das seit Wochen in heller Aufregung war; seit sich der amerikanische Präsident angekündigt hatte.

    »Ich finde es durchaus nicht so atemberaubend, wenn Besuch aus Übersee antanzt.« Nelu öffnete die Hemdtasche seiner Uniformjacke und zog mit zwei Fingern einen gefalteten Zettel heraus. Das Geräusch, das das Papier machte, als er es über den Marmortresen schob, kratzte in seinen Ohren und ihm war, als halte die Hauptstadt, die bis vor einigen Sekunden noch im Jubeltaumel war, kurz die Luft an.

    Der Rezeptionist nahm den Zettel auf, faltete ihn dezent auseinander, nickte Nelu kurz zu und sagte dann: »Zimmer vierhundertfünfunddreißig.«

    Mit einem kurzen Blinzeln als Abschiedsgruß schlenderte Nelu zum doppelflügeligen Treppenaufgang. Den Aufzug nehmen zu müssen, das wollte er sich, so lange es möglich war, sparen. Mit Ende vierzig konnte er sich noch bester Gesundheit und Attraktivität rühmen und ging nicht so auf wie die anderen Generäle und Obersten, deren Schmiergeschenke sie fett machten.

    Im sechsten Stock allerdings kam auch er langsam außer Puste. Als er die Tür des Zimmers gefunden hatte, hielt er einen Augenblick inne, nahm die Mütze ab, um sein Haar glattzustreichen, setzte sie wieder auf und klopfte an.

    »Herein«, bat ihn eine dumpfe Stimme von jenseits der Tür.

    Beim Eintreten fiel sein Blick sofort auf die Ansammlung von Polsterliegen, auf die geschnitzte Wandvertäfelung. Die Hälfte der Einrichtung schien aus Spiegeln und Glas zu bestehen. Darum ringend, sich von diesem Prunk nicht blenden zu lassen, trat er auf den Mann in der Mitte des Raumes zu, der sich erhob, sein Jackett richtete und ihm die Hand gab. »Herr Reichert«, sagte Nelu in einem möglichst neutralen Tonfall, nicht zu laut, nicht zu leise, und dabei wurde er sich gewahr, wie stark er das R rollte, obwohl er die Aussprache des Namens einige Male geübt hatte.

    »Ich grüße Sie, werter Herr … Nicolescu, nicht?«

    »Ja, es freut mich sehr«, erwiderte Nelu und bemühte zähneknirschend all seine Deutschkenntnisse.

    »Was für ein schönes Land Sie hier doch haben. Was für ein Hotel.« Herr Reichert breitete seine Arme aus, und Nelu setzte sich in einen cremefarbenen Sessel, ließ ihn nicht aus den Augen. »Und Sie wollen tatsächlich mit meiner Wenigkeit vorliebnehmen, während doch der amerikanische Präsident …«

    »Ach, das ist keine große Sache, ich halte mich gern aus so einem Trubel heraus«, winkte Nelu das Gespräch schnell ab und wedelte genervt mit seinen Fingern. Um seinen Unwillen nicht mehr so offen zeigen zu müssen, kramte er eine Schachtel Zigarette heraus und bot Herrn Reichert eine an, der jedoch den Kopf schüttelte. »Nein, danke, ich rauche nicht.«

    Eine Weile brauchte Nelu, um zu verstehen, was dieser Mann ihm sagen wollte. Dann zündete er sich seine Zigarette an und blies den Rauch genüsslich in die Luft. Der erste Glimmstengel in einer Packung war immer etwas Besonderes. Bei jeder Verhandlung, bei jedem wichtigen Verhör warf er eine angebrochene weg und begann eine neue. Andernfalls glaubte er, nicht genug vorbereitet zu sein. »Ich bin sehr froh, dass diese Sache im Interesse unserer beider Länder ist, Herr Reichert.«

    »Woher sprechen Sie so gut Deutsch?«, fuhr er dazwischen.

    »Ich habe …« Sollte er es sagen? Oder sollte er irgendeinen banalen Grund erfinden? »Ich habe gedient, im Krieg zusammen mit der Wehrmacht. Ich war mit Paulus’ sechster Armee in Stalingrad«, setzte er nach einer kurzen Pause hinzu und beobachtete im Blick seines Gegenübers, wie sich seine Worte setzten. Die Augen Reicherts huschten irritiert von Nelus Zigarette zu dessen Gesicht, dann wieder zurück und blieben am Fenster hinter ihm hängen. »Ah, ja, Stalingrad. Ihr … ja, sicher.«

    »Nun, das ist alles so ewig lange her, kommen wir zurück ins Hier und Jetzt. Hier habe ich einige Bestellungen der Generäle aus der Inneren Abteilung und eine von Ceaușescu höchstpersönlich. Ein BMW und der Rest der Marke Mercedes. Für etwa tausend, das dürfte reichen, oder?«

    Reichert erwiderte nichts. Noch immer schwebte sein glasiger Blick im Nirgendwo. Dann plötzlich fasste er sich an den Kopf: »Ach ja, richtig! Stalingrad! Ihr Land war ja bis kurz vor Ende mit Hitler verbündet. Das vergisst man so leicht, jetzt, da im Osten alles …«

    Ein zweites Mal an diesem Tag hörte Nelu das schleifende Geräusch von Papier auf glatter Oberfläche. Aber nicht nur irgendein Papier. Je brisanter der Inhalt, umso schneidender und schärfer der Ton, dachte er bei sich. »Es tut mir leid, wenn die deutsche Rechtschreibung nicht dem entspricht, was Sie gewohnt sind, aber ich denke, Sie können verstehen, was wir meinen.«

    Reichert schien seine Sprache nicht wiedergefunden zu haben. Das Papier blieb auf dem Tisch liegen, und Nelu zündete sich eine zweite Zigarette an.

    Dann durchschnitt Reicherts sonore Stimme doch wieder die Stille. Er rückte seine Hornbrille auf der Nase zurecht und flüsterte: »Mein sehr geehrter Herr Nicolescu, glauben Sie manchmal … ich meine, lässt Sie der Gedanke auch hin und wieder nicht los, dass wir hier … Menschen wie Ware verschachern, dass wir mit ihnen handeln, mit ihrem Kopfgeld?«

    Nelu schluckte. Auch diese Antwort hatte er lange vor dem Spiegel einstudiert, jede Regung seiner Augenbrauen, jedes Zucken seiner Wimpern. »Herr Reichert, es hat den Anschein, ja, da gebe ich Ihnen recht. Jedoch, und Sie kennen die deutsche Geschichte bestimmt so gut wie ich, dann wissen Sie, diese Menschen sind im Exil geboren. Sie wurden vor Jahrhunderten aus ihrer angestammten Heimat herausgerissen, und wir erweisen Ihnen jetzt eine Güte. Da die Umstände heutzutage alles andere als leicht sind, nimmt der rumänische Staat diese … Dinge«, und damit deutete er auf den Zettel auf dem Glastisch, »als eine Art Aufwandsentschädigung an. Als Bearbeitungsgebühr.«

    Erneut blieb es still im Zimmer. Vom Fenster her erscholl Motorengebrüll, Hupen, ein Brausen wie von hundert Stimmen. Richard Nixon wurde in den Straßen Bukarests vom rumänischen Volk begrüßt.

    Und Herr Reichert musste schwer schlucken, bevor er sich durch sein schütteres Haar fuhr. »In der Tat, ja. Ihr Deutsch ist ausgezeichnet. Und ich dachte, hier in Rumänien seid ihr hauptsächlich Schafhirten und Soldaten.«

    Nelu hatte sich beinahe sein ganzes Leben lang antrainiert, nicht zu zeigen, was er von manchen unbedachten Aussagen seiner Gesprächspartner hielt, aber bei diesem Deutschen musste er wirklich auf die Zähne beißen. »Wir sind ein sehr vielfältiges Land«, brachte er schließlich müde hervor. Obwohl er die Balkanhitze des Hochsommers sonst sehr gut vertrug, schnürte sie ihm nun mit einem Mal die Luft ab.

    Nelu residierte, wenn er in der Hauptstadt weilte, nicht wie alle anderen Securitate-Offiziere im Intercontinental, wo in luxuriösen Hinterzimmern der Staat im Dunkeln gelenkt wurde. Er brauchte auch hier im Moloch Bukarests einen Flecken grüner Erde, der ihn an sein Heimatdorf im Westen des Landes erinnerte. Auch wenn das hieß, dass er sich täglich mehr als eine Stunde zur Arbeit durch den Verkehr zwängen musste.

    Die Wärme der Nachmittagssonne genießend, froh, dem allgemeinen Trubel entkommen zu können – »Ich bin ein Mann des Geheimdiensts, ich agiere im Verborgenen« war stets die beste Ausrede, um vertuschen zu können, dass man die Anwesenheit allzu vieler anderer Menschen verachtete –, setzte sich Nelu mit einer Flasche Bier auf den kleinen eisernen Balkon über den Dächern der Vorstadt, hängte die Offiziersjacke über den Liegestuhl, öffnete die ersten drei Knöpfe seines Hemdes und krempelte seine Ärmel hoch. So viel konnte sich auch ein Mareșal hin und wieder erlauben.

    Nachdem die erste Flasche Bier geleert war und er seine vierte Zigarette geraucht hatte, fühlte er sich mutig genug, den Anruf zu tätigen. Soweit es das Telefonkabel erlaubte, schob er das kleine Mahagoni-Tischchen Richtung Balkon und wählte die Nummer von daheim. Jedes Tuten, jede Sekunde Warten trieben ihm den Schweiß auf die Stirn; dem Mann, der mit seiner Unterschrift über das Schicksal so vieler in seinem Land entscheiden konnte, der von allen gefürchtet war.

    »Tata?«, meldete sich schließlich, nach einer halben Ewigkeit, die zaghafte Stimme seines Sohnes. Er hatte ihm versprochen, wenn er um diese Zeit anrief, dann dürfte Tiberiu ans Telefon gehen, dann müsste er es nicht dem Soldaten überlassen, der in seiner Villa in Mihailsdorf zusammen mit dem Kindermädchen und der Haushälterin die Stellung hielt.

    »Tibi! Wie geht es dir?«, fragte er und biss sich auf die Lippen, als er selbst hörte, wie atemlos er klang.

    »Gut, Tata.«

    Stille. Wie kam es nur, dass dieser Junge, wenn er sich mit seinen Freunden traf, um die Hausarbeiten zu erledigen, kaum den Mund für fünf Sekunden halten konnte, während er nun, da er mit seinem Vater sprach, kein Wort herausbrachte?

    »Und was habt ihr in der Schule gelernt?« Jeden Tag dieselbe Frage. Jedes Mal schwor sich Nelu, dass er sich für den morgigen Tag ein anderes Thema suchen würde, und jedes Mal gelang es ihm nicht. Er selbst hatte seinen eigenen Vater gehasst, war erschrocken von seinem Glücksgefühl gewesen, als er diesen tot in seinem Bett vorgefunden hatte; Selbstmord, nachdem der einstige faschistische Führer des Landes, Ion Antonescu, von einem Erschießungskommando erledigt worden war und die Russen ins Land einmarschiert waren.

    Und vielleicht würde es helfen, gelassen mit seinem eigenen Sohn zu reden, wenn er nicht immer an Jahrzehnte der wechselvollen Geschichte Rumäniens denken musste.

    »Und im Haus? Alles gut? Was macht der Hund?«

    »Ich habe ihm heute beigebracht, Pfötchen zu geben. Ich glaube, er kann schon links von rechts unterscheiden.«

    »Ah!«, machte Nelu und zwang sich, nicht schon wieder in politische Gefilde und Überlegungen abzudriften. Bevor sich ein Gespräch zwischen den beiden aufbauen konnte, versagte schon wieder sein Mut. Immer, wenn er aus Bukarest nach Hause kam, trudelte er mit einem Berg von Geschenken ein, um bei Tiberiu das wiedergutzumachen, wozu er nicht imstande war, seit seine Frau viel zu früh verstorben war: seinem Sohn ein liebevolles Elternhaus zu bieten.

    »Und ich bin streng mit ihm. Wenn er auf mein Bett will, hebe ich ihn runter«, plapperte Tiberiu drauflos. Na also, geht doch.

    »Löblich, löblich. Frisst er auch gut? Ist er stubenrein?«

    »Alles sauber«, bestätigte Tiberiu und hörte sich wie ein Soldat an, der seinem General Rapport gibt.

    »Dann sieh zu, dass das auch so bleibt.« Es kam ungewöhnlich harsch heraus. Nelu war zu viel, zu lange in militärischen Kreisen unterwegs gewesen. Vielleicht hatte Ceaușescu recht: Er sollte wirklich mal daran denken, eine neue Frau kennenzulernen.

    »Wird gemacht, Tata.« Und in Gedanken stellte sich Nelu vor, wie Tiberiu am Telefon salutierte.

    »Dann bis bald, Tibi.« Unausgesprochene Worte hingen in der Luft, bis wieder Tiberius‘ leise Stimme erklang und die Leitung dann abbrach.

    * * *

    Magdalena knetete ihre Finger in ihrem Schoß. Seit heute Morgen, als sie sich in der Warteschlange im Rathaus angestellt hatte, fieberte sie diesem Moment entgegen, in dem sie Licht am Ende des Tunnels sehen würde, in dem sie vor sich auf dem Korridor endlich das Holz der Bürotür erkennen konnte. Doch jetzt, da nur noch drei Leute vor ihr warteten, sackte ihr das Herz in die Hose. Was, wenn ihre Eltern recht hatten? Wenn sie trotz ihrer guten Ausbildung, trotz ihres Lyzeum-Abschlusses aus Timișoara die Stelle als Sekretärin im Rathaus nicht bekam? Abende um Abende hatten sie sich zu Hause gezankt.

    »Eine Deutsche wird nie in einem rumänischen Rathaus arbeiten. Wie kannst du es wagen, dir nur so einen Frevel auszudenken? Du in deinen jungen Jahren hast doch keine Ahnung«, hatte ihr Vater gepoltert, während ihre Mutter die Hände vors Gesicht geschlagen, beinahe geweint und dann gemeint hatte: »Die Nachbarn werden uns bis an unser Lebensende auslachen. Oder gar Schlimmeres. Bedenke doch, der Mareșal der Securitate höchstpersönlich wohnt nur ein paar Straßen weiter!«

    Aber Magda hatte nichts gegeben auf so ein Alte-Leute-Geschwätz. Die Zeiten, in denen man die deutsche Minderheit des Landes verachtete, waren doch schon längst vorbei, der Krieg schon lange aus, und eine neue Zeit war angebrochen.

    »Entschuldigen Sie, verehrte Frau, entschuldigen Sie! Sie sind bereits dran. Ich bitte Sie …«

    Magda schreckte aus ihren Träumen heraus. Ein älterer, schmächtiger Angestellter mit schütterem Haar zeigte auf die geöffnete Tür. Sie brauchte einige Sekunden, um zu bemerken, dass sich die Warteschlange vor ihr plötzlich in Luft aufgelöst zu haben schien.

    »Ähm, ja … danke …«, murmelte sie und mahnte sich im letzten Moment dazu, Rumänisch zu sprechen. Im Büro des Bürgermeisters hockte der Personalfachangestellte an seinem Fenster, der kleine stickige Raum war erfüllt von Zigarrenrauch. Sie setzte sich auf den freien Stuhl, blickte den Mann mit den schwulstigen Lippen bange an. Der große Tisch konnte seine Masse nicht verdecken, links und rechts quoll das Hemd unter dem Jackett hervor, und die Haut lugte zwischen den Hemdknöpfen heraus. Er schien ihr »Guten Tag« nicht zu beachten, und sie räusperte sich.

    Da erwachte er aus seiner Art Trance, sah sie müde an, durch sie hindurch, als existierte sie nicht, und blätterte gelangweilt in seinen Unterlagen. »Sie sind Ludovica Debreanu …?«, brummte er.

    »Nein, ich … Da muss wohl ein Fehler unterlaufen sein. Mein Name ist Magdalena …« Aber sie kam nicht mehr dazu, ihren Nachnamen zu sagen. Schon bei der Erwähnung des deutschen Vornamens schnitt ihr der verachtungsvolle Blick des Rathausmitarbeiters jegliches Wort ab.

    Ihre Eltern hatten recht gehabt.

    Magdalenas Elternhaus war ein langgestrecktes, eingeschossiges Gebäude. Der Anbau rechts des Gartens war einst für ihre Urgroßeltern angelegt worden, doch jetzt, da diese seit langem tot waren und sie und ihr Bruder das Erwachsenenalter erreicht hatten, war es zu ihrem Reich geworden. Einerseits bedeutete das ungeahnten Luxus, da ihre Eltern sie nicht mehr in allem bevormunden konnten, wenn sie sich in ihren Anbau verkroch. Ihr Vater nahm sich heraus, jede Locke ihrer Frisur zu kritisieren, gerade jetzt, da sie einundzwanzig geworden war und ihr Haar noch immer lang trug. »Die Sechziger sind vorbei, Tata«, sagte sie.

    »Die Sechziger sind erst dann vorbei, wenn ich das sage«, erwiderte er stets.

    Und noch einen Vorteil hatten die beiden voneinander beinahe unabhängigen Gebäude: Hier hatte sie mehr Möglichkeiten, die illegalen BRAVO-Zeitschriften vor den gelegentlichen Hausbesuchen der Securitate und – was eigentlich schlimmer war – vor ihrer Mutter zu verstecken. Ihr Bruder kannte einen Freund, dessen Cousin hatte was gut bei einem entfernten Verwandten in Ungarn, der jemanden in Deutschland kannte, der mit viel Geld Waren aus der Bundesrepublik nach Rumänien schmuggeln konnte, und so verfolgte Magda etwa alle sechs Monate, wie die Beatles sich erneut selbst erfanden.

    Jedes Mal, wenn sie eine neue Ausgabe der Zeitschrift in der Hand hielt, wartete sie den passenden Moment ab, wenn sie allein zu Hause war; Mutter und Vater auf einem Ball, ihr Bruder mit seinen Saufkumpanen unterwegs. Dann zelebrierte sie den Abend, ging sicher, immer etwas Süßes, frisch Gebackenes im Haus zu haben, machte sich extra eine Tasse türkischen Kaffee, roch erstmal am Papier, hörte mit geschlossenen Augen dem Knistern der Seiten zu und zwang sich jedes Mal, von der allerersten Seite bis zum Impressum, langsam zu lesen, obwohl sie die Zeitschrift am liebsten verschlungen hätte.

    Heute wäre eigentlich so ein Tag gewesen. Die Eltern waren aus, zum Kirchweih-Ball. Das Fest ging nun schon einige Tage, heute feierten die Älteren im Dorfzentrum neben der katholischen Kirche. Nur ihr dämlicher Bruder hatte gerade diesen

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