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107 Tage Kreta: Aussteigen auf andere Art
107 Tage Kreta: Aussteigen auf andere Art
107 Tage Kreta: Aussteigen auf andere Art
eBook291 Seiten3 Stunden

107 Tage Kreta: Aussteigen auf andere Art

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Über dieses E-Book

Die Liegestühle schon besetzt, das Essen schmeckt nicht und die kostbaren Tage rinnen dahin wie das immer häufiger konsumierte Bier. Der gemeinsame Familienurlaub auf Kreta droht an zu hohen Erwartungen zu scheitern, bietet aber genügend Zeit für wechselseitige Sticheleien zwischen Markus und Monika Gramlinger. Mit der Unentrinnbarkeit einer griechischen Tragödie steuern die beiden auf ihr Unglück zu.

107 Tage Kreta bietet keine pastellfarbene Aussteiger-Romantik, sondern eine Geschichte über Selbstfindung, neu gewonnene Freiheit durch Verlust und männliche Kommunikationsdefizite.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum24. Juni 2022
ISBN9783903370104
107 Tage Kreta: Aussteigen auf andere Art
Autor

René Siegl

René Siegl, Jahrgang 1959, arbeitete als Journalist, Marketing- und PR-Manager. Mehr als 20 Jahre lang war der geborene Oberösterreicher Geschäftsführer der staatlichen österreichischen Betriebsansiedlungsagentur Austrian Business Agency (ABA). Seit Juli 2021 konzentriert er sich auf das Schreiben und eine internationale Beratungstätigkeit. Er lebt mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern in Wien. Ein Teil seiner Leidenschaft geht in die bereits 50 Jahre währende Liebe zur Musik, ein anderer fließt in seine Tätigkeit als Autor. Er bewundert William Kotzwinkle für seine Vielfältigkeit, Steven Erikson für seine Charaktere und Martin Suter für seinen Schreibstil.

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    Buchvorschau

    107 Tage Kreta - René Siegl

    René Siegl

    107 Tage Kreta

    Aussteigen auf andere Art

    1. Irgendwann

    „Einander kennen lernen heißt lernen, wie fremd man einander ist." – Christian Morgenstern

    Tag 2 – Markus

    Schon wieder Dill. Er konnte den Geschmack von Dill nicht ausstehen. Doch hier im Hotel musste ein Küchenchef am Werk sein, der eine geradezu obsessive Zuneigung zu Dill hatte.

    Beim späten Abendessen gestern nach der Ankunft hatte er sich noch nichts gedacht. Gegrillter Schwertfisch, na gut, da kann man es noch verstehen. Für den Dill auf den Hühnerfilets zu Mittag gab es bereits keinen erkennbaren Grund mehr.

    Und nun beim Abendessen die Fisolen, die Karotten und auch noch das Schweinefleisch mit Dill zu würzen, war einfach krankhaft. Das Essen selbst war ja hübsch angerichtet in diesem gesichtslosen Speisesaal, dem nur ein paar Fischernetze an der Wand mit ihren aufgeklebten Muscheln Hinweise auf die Gegend an der Küste Kretas entlockten.

    Wären da nur nicht bei näherem Blick diese stark gefiederten, fadenförmigen Blätter. Einer Eingebung folgend ging Markus Gramlinger hinüber zu den Desserts. Fast hätte er hämisch aufgelacht. Die Baklava waren zwar ohne diese widerlichen grünen Blätter gebacken, aber am Kopf jedes verchromten Tabletts thronte geradezu ein mächtiger Dillzweig. Falls Pflanzen sardonisch grinsen könnten, hätten es diese Zweige jetzt sicherlich gemacht. Anethum graveolens, so hieß das eklige Kraut auf lateinisch. Nicht dass Gramlinger Latein konnte, aber in diesem Fall lautete die Devise „Know your enemy".

    Seine einzige Hoffnung war nun, dass im Inneren des Moussakas keine Dillblätter versteckt waren. Diesem Koch traute Gramlinger mittlerweile alles zu und nur mit Misstrauen schnitt er eine kleine Portion Moussaka ab.

    Der Urlaub begann wirklich nicht, wie sich Markus Gramlinger das in den vergangenen Wochen der Vorfreude ausgemalt hatte. Und seine Fantasie hatte – für ihn völlig untypisch – fast das Werk eines Malers verrichtet: Von den überladenen Buffets, auf denen alles glänzte wie farblos lackiert, über den zauberhaften Blick aus seinem Strandliegestuhl, in dem die farbigen Bikinihöschen einen Kontrapunkt zum Blau des Himmels und zum Türkis des Meeres bildeten, bis zum abschließenden pfirsichfarbenen Sonnenuntergang, der das Innere seines Metaxaglases goldbraun zum Leuchten brachte.

    Stattdessen suchte er in der Realität nun mit zunehmendem Widerwillen dillfreie Speisen, die Liegestühle standen alle am Innenhof-Pool, aber keine am Strand, und die Sonne ging nicht über dem Meer unter, da er übersehen hatte, dass sie ein Hotel an der Nordküste Kretas gebucht hatten. Selbst für seine Fantasien war er letztlich zu dumm.

    Den Flug hierher hatte er noch als Missgeschick getaggt und schnell in den Papierkorb verschoben. Natürlich hätten sie den Online-Check-in früher erledigen können, aber er hatte sich auf seine Frau verlassen und sie sich auf ihn. Dabei hatte er wirklich in den Tagen vor dem Abflug kaum frei verfügbare Zeit gehabt, wie ein Irrer im Büro seine Task-Liste abgearbeitet. Also saßen Monika und Florian, ihr neunjähriger Sohn, mit Fensterplatz in Reihe 16, und er am Gangsitz in Reihe 25.

    Für den freien Raum am Gang war Gramlinger jedoch rasch dankbar, da sein Nachbar mehr als 100 Kilogramm wog und die Armlehne zwischen ihnen hochklappte, um sein Hinterteil und seinen rechten Arm zu ihm herüberfließen zu lassen. Er war nicht klaustrophobisch veranlagt, aber als praktisch zeitgleich mit dem „Ping" für das Erreichen der Reiseflughöhe der Sitz vor ihm auf ihn zu kam und erst kurz vor seiner Brust abbremste, wurde sein Atem automatisch sehr flach.

    Seine Dankbarkeit für den freien Raum am Gang ließ nur kurz nach, als ihm die Stewardess den Getränkewagen in sein Knie stieß. Also versuchte er für den Rest der Flugzeit, seine schlaksigen 186 Zentimeter zusammenzufalten und in dem kleinen verbliebenen Hohlraum, der ungerechtfertigterweise Sitzplatz hieß, unterzubringen. Glücklicherweise war er nur lang, in der Breite hingegen brauchte er weniger Platz als die meisten anderen Männer, und so gelang sein Ganzkörper-Origami einigermaßen. Auf sein Gratis-Getränk zur kleinen Packung Salzbrezel als spätes Mittagessen verzichtete er, denn er hätte nicht gewusst, wie er das kleine Tischchen noch hätte herunterklappen können.

    Doch seine Vorfreude, sein fast körperliches Verlangen nach dem Urlaub war so groß, dass er den Flug schon auf der Gangway wieder abhakte, und sich nichts daraus machte, dass seine Familie gerade noch mit dem ersten Flughafenbus abfuhr, der ihm die Tür vor der Nase zumachte, als er zwei Meter vor dem Einstieg seinen Kabinentrolley hob.

    Er wusste, spätestens am Gepäckband würde seine Frau nach ihm suchen, denn ihr neuer Koffer entsprach der letzten noch legal käuflichen Größe. Genau genommen handelte es sich eher um ein Hybrid-Modell aus einem Koffer und einem Kleiderkasten, nur dass er aus Polycarbonat und nicht aus Holz hergestellt war. Aus diesem Grund gingen sich auf diesem Urlaub 32 Kilogramm Fluggewicht aus, die neben einem saftigen Übergewicht-Aufpreis auch bedingten, dass sie den Koffer nicht allein vom Gepäckband wuchten konnte. Tatsächlich erwartete sie ihn mit Florian schon nach der ersten Schiebetür im Flughafengebäude.

    Das luxuriöse Hotelfoyer mit dem hellgrauen Marmorboden, den freundlichen Sitzgruppen und den kleinen Palmen vor der Tür war für ihn die Bestätigung, dass die bestellten 14 Tage sorglose Erholung warteten. Deshalb nahm er auch stoisch zur Kenntnis, dass das dritte Bett im kleinen Abteil, das die gebuchte „Familiensuite" ergab, nur ein Klappgestell mit Matratze war. Er enthielt sich des Kommentars, dass im Badezimmer keine Ablagemöglichkeiten für die Toilettetaschen vorhanden waren. Diese kleine Kritik konnte er getrost seiner Frau überlassen.

    Der erste Hauch von echter Skepsis schlich sich dann auf Zehenspitzen herein, als er auf dem Balkon den gebuchten „seitlichen Meerblick suchte. Zuerst sah er aus ihrem vierten Stock nur auf die Rückseite des gegenüber liegenden Hotels „Sunny Beach. Lediglich durch Vorbeugen über das Balkongeländer konnte er den blauen Streifen zwischen ihrem und dem Nachbarhotel identifizieren, der wohl die Unendlichkeit des Meeres symbolisieren sollte, und den Gegenwert für 420 Euro Aufpreis bildete.

    Diese erste Schliere über seinem Urlaubsbild erhielt in der Nacht wirksame Verstärkung, als er trotz schlimmer Müdigkeit viermal von heimkehrenden Betrunkenen und einmal von den Bewohnern über ihnen, die offensichtlich lange nächtliche Séancen mit Tischerlrücken praktizierten, geweckt wurde.

    Es half wenig, dass 50 Prozent der Betrunkenen österreichische Landsleute waren, wie er problemlos an deren Dialekt feststellen konnte. Die Akustik im Hotel „Palace Athene" musste an das berühmte Theater von Epidauros heranreichen. Wie beruhigend für die nächsten 13 Nächte.

    Bei Dill im Essen hörte sich allerdings für Markus Gramlinger der Spaß völlig auf. Schlafprobleme konnte er zuhause ebenso haben, die waren vertraut, aber von Dill blieb er dafür in Wels weitgehend verschont.

    Am Weg zum Tisch zapfte er sich ein Glas Rotwein aus einem Zehn-Liter-Plastikfass. Es war ja Urlaub, und er wollte eine bewusste Geste setzen, um sich vom Alltag abzusetzen.

    Dann setzte er sich mit dem Moussaka zu seiner Familie. Florian mit seinen neun Jahren hatte den Teller vollgeladen, als wäre er schon in der Pubertät. Ein Blick zur Seite zeigte, wer hier in der Familie als Vorbild diente, auch wenn seine Frau als frisch angelernte Vegetarierin zusehen musste, wie sie zu ihren Kalorien kam.

    „Hast du dir schon wieder nichts gefunden?", fragte Monika mit einem Blick auf seine Testportion Moussaka, und er wunderte sich, wie sie es schaffen konnte, in sieben simplen Worten Mitleid und Vorwurf so gleichmäßig zu verteilen. Aber sie war eine Meisterin der unterschwelligen Botschaften und er war nunmehr über elf Jahre lang ihr interessierter, aber gänzlich untalentierter Schüler.

    „Sie haben den Dill sogar über den Nachspeisen drapiert", versuchte er als Erklärung nachzuschieben, aber die spontane Antwort waren zwei hochgezogene Augenbrauen. Mitfühlende Zustimmung drückte sich vermutlich anders aus.

    „Ach, du mit deinem Dill, schmeckt doch alles gut", lautete einen Bissen später der Abschluss der Diskussion. Die Gabel mit den Dillfisolen, die sie dann zum Mund führte, schien ihm besonders schwer beladen.

    Er versuchte sich selbst abzulenken und nahm einen Schluck Rotwein. Sein Kollege Riedl hatte ihn noch vor dem Wein in All-inclusive-Hotels gewarnt. Er hatte das abgetan, weil er selbst kaum etwas von Wein verstand. Am Geschmack konnte er noch Rot- und Weißwein unterscheiden, aber mit Begriffen wie Blume oder Bouquet konnte er nichts anfangen. Das gehörte zu einem Floristen, aber nicht in ein Weinglas. Bei diesem Rotwein genügte jedoch selbst sein primitiver Geschmackssinn, um zweifelsfrei festzustellen, dass Riedl nicht übertrieben hatte.

    „Und der Wein passt dir also auch nicht, wenn ich mir dein Gesicht so ansehe. Aber du bist ja der große Weinkenner."

    Dabei hatte er extra den Mund gehalten, um bei Monika nicht noch weitere Bemerkungen zu provozieren. Künftig musste er also auch seine Mimik kontrollieren, wenn er etwas in den Mund steckte oder leerte.

    „Wirst du morgen mit mir spielen?", versuchte sein Sohn einen Themenwechsel herbeizuführen. Für unterschwellige Spannungen zwischen den Eltern hatten Kinder ein Sensorium, das schon bei 0,5 auf der nach oben offenen Monika-Markus-Skala anschlug.

    „Ja, sicher, Flori. Was möchtest du morgen spielen?" antwortete Gramlinger und hoffte, dass der innerliche Seufzer für seinen Sohn unhörbar blieb. Seine Frage war ohnehin nur rhetorisch gewesen, denn die Antwort war so vorhersehbar wie der Meistertitel für Red Bull Salzburg in der kommenden Saison.

    „Fußball", kam es binnen Sekundenbruchteilen zurück. Gramlinger kannte dieses Spiel sehr gut. Sein Sohn und er, mangels anderer Mitspieler etwa fünf Meter auseinander, im Grundsatz zwischen ihnen ein Ball. Der Grundsatz blieb meistens aufrecht, wenn er den Ball kickte. Trat sein Sohn hingegen auf den Ball, übernahm ein kleiner Ödipus den Körper seines Sohnes, und im Ergebnis musste Gramlinger meist den Ball von irgendwo hinten wieder ins Spiel bringen.

    Gramlinger mochte Fußball eigentlich, aber in dieser spezifischen Variante war die Freude an dem Spiel doch sehr unterschiedlich verteilt. Dieses Ungleichgewicht – Florian drosch drauf, er holte den Ball zurück – bildete auch die Erklärung für die enorme Ausdauer, die Florian bei diesem Spiel entwickeln konnte. Und Gramlinger hatte sich schon mit einem Bier an der Poolbar gesehen. Vielleicht auch mit zwei oder drei, um dann im Liegestuhl einzuschlafen.

    „Flori, was ist eigentlich mit dem Miniclub? Sollen wir dich nicht morgen anmelden?" Einen letzten Versuch unternahm er noch.

    „Och nein, ich habe es doch schon erklärt. Der ist von drei bis zehn Jahre, und dann bin ich mit lauter Babys zusammen. Das ist voll langweilig."

    „Hat er dir wirklich schon erklärt. Und du könntest dich ruhig ein wenig um Florian kümmern. Zuhause hast du ohnehin zu wenig Zeit für ihn", kam sofort der mütterliche Beistand.

    Als ob seine 55-Stunden-Wochen einfach das Ergebnis einer bewussten Weigerung gegenüber mehr Familienleben wären und nicht die einzig mögliche Reaktion auf den Ergebnisdruck im Job.

    Er brauchte diesen Urlaub wirklich. 21 Prozent hatte seine Chefin als Zielwert für das Umsatzplus in diesem zweiten Corona-Jahr festgelegt. 4,44 Millionen Euro neue Aufträge für ihn, weil das „eine schöne Zahl" war. Jetzt, Ende August, lag er bei drei Prozent plus. Und dabei hatte er alles versucht. Was konnte er dafür, wenn sie im Unternehmen seit Jahren zu wenig Developer und Coder hatten, um die Aufträge verlässlich und ohne große Bugs abzuarbeiten? Einer seiner Stammkunden war schon richtig verärgert und vergab im ersten Halbjahr Neuaufträge an die Konkurrenz. Manchmal musste Gramlinger selbst einspringen und Teile fertigprogrammieren, um Termine zu halten.

    Das wusste Magdalena, seine Chefin, nur zu gut, aber sie würde natürlich nicht von ihrem Prinzip abgehen, denjenigen in der Vertriebsmannschaft mit dem schwächsten Ergebnis beim Mitarbeitergespräch im Jänner zu feuern. Und er lag auf Platz vier von fünf Kollegen. Maderspacher lag nur zwei Prozentpunkte hinter ihm und falls er hinter ihm blieb, würde sicher die Nummer mit dem Alleinerzieher und drei Kindern kommen. Auch wenn sich Maderspachers Mutter gerne die ganze Zeit um die Kinder kümmerte und sie an den Wochentagen bei ihr schliefen.

    Beim früheren Teamleiter war das einmal hineingegangen, als alle ein deutliches Plus im Jahresergebnis hatten und Maderspacher minus elf Prozent, aber bei der neuen Chefin? Die wollte zwar von allen geduzt werden, war aber beinhart und hatte das Reise-nach-Jerusalem-Prinzip eingeführt, wie sie die jährliche Kündigungsquote von 20 Prozent unter ihren Mitarbeitern nannte. Sogar die einzige Frau, die sie im Vertriebsteam hatten, war im Vorjahr abserviert worden – von wegen weiblicher Solidarität. 0,7 Prozentpunkte lag sie am Ende des Jahres hinter Gramlinger. Damals hatte er tief durchgeatmet und am 30. Dezember trotz Corona-Krise eine Magnumflasche Sekt gekauft, aber ob er nochmals so viel Glück haben würde?

    Jetzt musste er jedenfalls Kräfte tanken, um im vierten Quartal seinen knappen Vorsprung gegenüber Maderspacher zu halten oder besser noch auszubauen. Eine Kündigung wäre fatal für ihn und die Familie. Zu knapp war die Kalkulation mit den monatlichen Raten für die vor drei Jahren gekaufte Eigentumswohnung und den geleasten BMW. Mehr als drei Monate lang würde er vom kleinen Sparbuch nicht zuschießen können, um allein vom Arbeitslosengeld die Raten bedienen zu können, dann wären sie zahlungsunfähig.

    „Könntest du dich freundlicherweise auch am Gespräch beteiligen? Du hörst schon wieder nicht zu."

    Gramlinger zweifelte manchmal, ob sie an seinen Gesprächsbeiträgen interessiert war, aber eines wusste er gewiss: Solche Warnungen sollte er besser ernst nehmen.

    „Ja, mein Schatz. Um was es auch immer ging, du hast sicher Recht." Mit solchen Sätzen, das wusste er mittlerweile trotz aller Defizite in zwischenmenschlicher Kommunikation, konnte er sich auch als rhetorisch permanent Unterlegener ein wenig rächen. Das waren Wirkungstreffer.

    „Ok, Flori, morgen nach dem Frühstück Fußball. Aber nicht länger als bis elf Uhr – dann wird es zu heiß."

    Wenigstens sein Sohn wirkte nun zufrieden.

    Tag 3 – Markus

    Es war kaum zu glauben. 8:40 Uhr und am Pool keine einzige Liege mehr frei. Sechs an seniler Bettflucht leidende Pensionisten und Legionen an ausgebreiteten Badetüchern hatten alles in Besitz genommen. Dabei war Gramlinger auf Monikas Wunsch extra vor dem Frühstück nach unten geeilt, um ihre drei Badetücher auszulegen. Die Deutschen stellten sich vermutlich den Wecker dafür.

    Manche Badetücher waren professionell mit Taschen, Büchern und Zeitschriften abgesichert. „Bunte, „Spiegel, „Neue Post und „Auto Bild. Ja, es war eindeutig, dass nicht die wenigen Franzosen und Russen im Hotel zu nachtschlafender Zeit ausgerückt waren, um ihre vermeintlichen Besitzansprüche zu sichern.

    Aber da rechts waren auf drei Liegen nur Badetücher ohne Zeitschriften drapiert. Er hatte doch irgendwo am Eingang zum Innenhof ein Schild in vier Sprachen entdeckt: „Es ist verboten Liegen zu reservieren und „Badetücher werden vom Personal entfernt oder so ähnlich. Und schon hatte er sich selbst kurzfristig als Volontär beim Hotelpersonal eingestellt. Badetücher mit aufgemalten Sonnenaufgängen waren ohnehin optische Umweltverschmutzung, also war dies ein Dienst an der Gemeinschaft.

    Er raffte sie an sich und überlegte noch kurz, wo er seine Last deponieren sollte, als hinter ihm eine dünne Männerstimme maulte: „Momentchen, mein Freund. Das sind ja wohl unsere."

    Gramlinger drehte sich um und war überrascht: Die dünne Stimme kam aus einem Kopf in seiner Höhe, der von einem deutlich, ja sogar sehr deutlich muskulöseren Körper als seinem getragen wurde. Gramlinger blickte auf eine lebendige Hügellandschaft, wo bei ihm ausschließlich Ebenen zu finden waren. Darüber fand sich ein kleiner Kopf mit einem blondierten Undercut im Gegensatz zu seinem eigenen mausbraunen „Bitte wieder etwas kürzer"- Haarschnitt. Dazu noch zwei glitzernde Ohrstecker, alles taugliche Zutaten, um bei Gramlinger spontane Antipathie auszulösen.

    „Wat soll dat denn werden?", lautete der Nachsatz.

    „Ich erledige aufgrund von Krankheitsfällen die Rolle des Personals und entferne die Badetücher." Gramlinger war überaus stolz auf seine unübliche Schlagfertigkeit.

    „Also wenn Dirk eins nich‘ leiden kann, dann sind das freche Ösis. Ihr Schluchtenscheißer solltet dort bleiben, wo ihr hingehört. Auf den Bergen."

    Gramlinger konnte wiederum Menschen, die von sich in der dritten Person sprachen, nicht leiden, aber hier musste er diese Einstufung gar nicht mehr bemühen. Das war ein „Saupreiß" in Reinkultur. Allerdings einer mit 300 Prozent mehr Muskelmasse als er selbst. Innerhalb einer Sekunde kalkulierte er knapp seine Optionen: eine aufs Maul kriegen oder sich entschuldigen.

    Er entschied sich für etwas, das hoffentlich ein Mittelweg war: „Mit besten Grüßen von der Hotelverwaltung", antwortete er und warf die fremden Badetücher in die Arme seines Gegenübers.

    Er hatte richtig spekuliert. Der Reflex lautete „Fangen und nicht „Zuschlagen. Gramlinger drehte sich um, nahm auf dem Weg die Badetasche mit den eigenen Tüchern wieder auf und ging, ohne zurückzusehen, in Richtung Frühstücksraum.

    „Warum bringst du die Badetücher wieder mit?", empfing ihn seine Frau.

    „Alles besetzt", entgegnete er knapp, um seine Scham zu verbergen. Als er jedoch kurz darauf am Rande seines Blickfeldes bemerkte, dass Dirk den Frühstücksraum betrat, erzählte er seiner Frau doch die ganze Geschichte. Er deutete zu Beginn verstohlen auf seinen Widersacher und übertrieb in weiterer Folge nicht einmal. Das war auch nicht notwendig.

    Statt einer Mitleidsbekundung, schon eine zarte hätte für ihn ausgereicht, stand sie vom Tisch auf und durchquerte den Raum. Sie suchte jedoch nicht Nachschub am Buffet, sondern blieb einige Zeit am Tisch von Dirk stehen, der dort mit zwei weiteren blondierten Männern saß.

    Gramlinger empfing sie beglückt mit einem „Hast du ihm ordentlich die Meinung gesagt?"

    „Ich habe mich natürlich für dein Benehmen entschuldigt. Und er war Gentleman genug, die Entschuldigung anzunehmen."

    Zusammenhalten in guten wie in schlechten Zeiten sah für ihn anders aus.

    „Es ist also schlechtes Benehmen, wenn ich versuche, meiner Familie noch Liegestühle zu besorgen."

    „Du wolltest seine Badetücher entfernen. Stell dich nicht absichtlich dumm. Schlechte Manieren reichen völlig."

    Das konnte ja noch nett werden. Gut, dass er mit Flori Fußball vereinbart hatte. In den zwei Stunden sollte sich die Laune seiner Frau wieder normalisiert haben. Der Hunger auf ein ausgedehntes Frühstück war ihm gerade vergangen und sein Sohn schlang im Normalfall ohnehin nur rasch eine Schale Cornflakes oder Frosties hinunter, was er dann in den Folgemahlzeiten kompensierte.

    „Was meinst du, Flori? Gleich kicken, bevor es heiß wird?" Das war, um in der Fußballersprache zu bleiben, ein Sitzer. Genauso gut hätte er einen Knopf drücken können.

    Er sah zu, wie schnell ein Neunjähriger eine halbe Schale Cereals in sich hineinschaufeln konnte, und verabschiedete sich mit einem knappen „Bis später" von seiner wenig amüsiert blickenden Frau, die noch vor einem kleinen Käseteller, gemischtem Gemüse und zwei Scheiben Vollkornbrot saß.

    Komisch, gestern am Abend hieß es noch, er solle mehr Zeit mit seinem Sohn verbringen. Manchmal wusste sie einfach nicht, was sie wollte. Mühsam verzichtete er darauf, ihr das auch zu sagen.

    Andererseits musste er ihr zugutehalten, dass sie in diesen Momenten absichtlich die Kontrolle über Florian abgab. Beim Fußball öffnete sie ein Fenster für ihre beiden Männer, durch das sie selbst nicht einmal durchsah, bei dem aber alle drei wussten, dass es sich bald wieder schließen würde.

    Zu seiner Überraschung machte ihm das Kicken Spaß. Die Sonne stand noch relativ niedrig, die Wellen glitzerten und sie hatten ein passendes Stück Sandstrand gefunden, das eben genug war, damit der Ball nicht dauernd ins Meer rollte.

    Sein Sohn war so gut gelaunt, dass es erstens abfärbte, und zweitens machte es Florian so generös, dass Gramlinger nur etwa jeden vierten Ball von hinten holen oder aus dem Wasser fischen musste. Natürlich war das Spiel monoton, aber das machte nichts. Sein Sohn war glücklich, und er war maßgeblich daran beteiligt.

    Sie waren im Flow und manchmal warf sich sogar einer wie ein Tormann ungeschickt nach dem Ball in den Sand. Das Ergebnis war aus seiner Höhe nahe am Schmerz, aber Floris Lachen war Ausgleich genug. Fußball

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