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Essigsaurer Zucker: Ein Provinzkrimi. Es ermittelt Hauptkommissar Hans Amplätzer
Essigsaurer Zucker: Ein Provinzkrimi. Es ermittelt Hauptkommissar Hans Amplätzer
Essigsaurer Zucker: Ein Provinzkrimi. Es ermittelt Hauptkommissar Hans Amplätzer
eBook358 Seiten4 Stunden

Essigsaurer Zucker: Ein Provinzkrimi. Es ermittelt Hauptkommissar Hans Amplätzer

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Über dieses E-Book

Süße Träume verfolgen den gestandenen Hauptkommissar Hans Amplätzer tagein, tagaus. Während er seinen zucker-süßen Beschwerden bewährt Deftig-Saures entgegensetzt, fordert ein ungewöhnliches Kapitalverbrechen Beharrlichkeit und all sein Gespür und Können. Die ohnehin, wegen der Flüchtlingskrise besorgten Bürger von Kleinschätzenswert werden durch einen Mord in einer Flüchtlingsunterkunft in Angst und Schrecken versetzt. Die Stimmung ist angespannt und aufgeladen. Eine Vielzahl von Kontaktpersonen und potenziellen Motiven führen in ein Labyrinth von Indizien und Mutmaßungen, aber ohne klare Verbindungen. Es stellt sich die Frage: Wer ist in der Lage, einen solch cleveren und eiskalten Mord zu planen und durchzuführen? Trotz gründlicher Polizeiarbeit tappen Hans Amplätzer und seine junge, unerfahrene Kollegin, Julia Schmidt, lange im Dunkeln. Erst als Julia Schmidt in Schwierigkeiten gerät, ergeben sich für Hans Amplätzer neue Hinweise auf diese hinterhältig teuflische Tat.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum6. Dez. 2022
ISBN9783347701434
Essigsaurer Zucker: Ein Provinzkrimi. Es ermittelt Hauptkommissar Hans Amplätzer
Autor

Tom Reger

Thomas Reger, Jahrgang 1964, hat in München Wirtschaftsingenieurwesen studiert. Danach führte ihn sein Weg zu einem Spezialchemiehersteller im oberbayerischen Raum. Internationale Kontakte zu Kollegen anderer Kulturkreise und Traditionen öffnete in ihm, dem gebürtigen Jungen aus Oberbayern, die Tür zu einem offenen Welt- und Menschenbild. Privat unterstützte er während der Flüchtlingskrise Menschen verschiedenster Nationalitäten an seinem Heimatort. Schreiben wurde in den vergangenen Jahren zu einer seiner Leidenschaften. Das Buch „Essigsaurer Zucker“ ist eine fiktive und faktenreiche Kriminalgeschichte, die unter anderem auf eigene Erfahrungen während der Zeit als Flüchtlingshelfer zurückgreift. Sein zweites Buch "Wandelzeiten": Von Berufswegen den Blick auf die weite Welt gerichtet, verstärkte sich gleichzeitig das Interesse an seiner Heimat und deren Geschichte. Einer Zeitreise gleich und 100 Jahre zurück, greift er im Buch „Wandelzeiten“ ein einschneidendes Ereignis in seiner Heimat auf. Was Ihn dabei interessiert: Lebensumstände damals wie heute entstehen nicht einfach aus sich selbst heraus. Sie sind die Folge von Begebenheiten in Politik, Gesellschaft und den Handlungen einzelner Individuen. Welche gesellschaftlichen Mechanismen von Ursache und Wirkung gab es zu jener Zeit? Wie mag die Bevölkerung gefühlt, gedacht und gehandelt haben? Mit 'Wandelzeiten' macht er sich auf die Suche nach Antworten in der heimatlichen Provinz der 1920er Jahre. Frei nach dem Motto: „So könnte es gewesen sein!“ und für den Leser entlang der geschichtlichen Ereignisse in Szene gesetzt.

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    Buchvorschau

    Essigsaurer Zucker - Tom Reger

    Alles Bluna – der Traum

    Das Schattenspiel des überragenden Baumes zeichnete ein bewegtes Muster auf ihn und die umliegende Fläche. Niemand hätte ihn entdecken können, wäre man nicht durch wissende Hilfe der Nase darauf gestoßen. Und niemand hätte nur erahnen können, dass unter den traumhaft schönen Bäumen und Sträuchern ein menschliches Wesen schlief. Licht und Schatten wechselten sich ab und eiferten dem Rhythmus der sich im Winde wiegenden Äste und Blätter dieser bunten und doch künstlich anmutenden Pflanzenwelt nach. Gelegentliche Sonnenstrahlen schmeichelten wärmend mit sanfter Kraft über die Oberfläche der nackten Haut des Schlafenden, die einem Zebra gleich verziert erschien.

    Der Wind hauchte ein liebliches Lied und die Blätter und Äste überschlugen sich mit einem zarten Wirrwarr aus verschiedensten raschelnden Lauten. Windspiele, wie man sie von Ziergärten kennt, aber viele davon auf einmal, kamen dieser zauberhaften feinen Melodie am ehesten nahe. Aber noch viel harmonischer, angenehmer und irgendwie friedvoll. Völlig gefesselt von dem süßen Klang war ihm, dem Beobachter dieser Szene eines Traumes, total entgangen, dass sich der gerade eben noch unbemerkt und ruhig daliegende Mensch im Zebralicht bereits erhoben hatte. Nun erst entdeckte ihn der Beobachter, als der verborgen Gebliebene auf einen schier unendlichen Strand mit strahlend weißem Sand auf ein hellblau schimmerndes Meer aus Wasser zuhielt, dessen leises Rauschen sich in sanften Wellen kräuselte. Er, der Beobachter, konnte nur noch den definierten braungebrannten Rücken eines Mannes erkennen mit blonden Beachboy Locken, die ihm wallend über die Schulter fielen. In lässigem Chic zierte eine kurze Lederhose seine schmalen Hüften. Wohl war sie ihm einen Ticken zu groß und hing arg baumelnd zwischen seinen Beinen. Der Zebramensch, der nun im grellen Licht der Sonne jede Spur von Streifenmuster verloren hatte, war nicht wirklich in Eile, aber trödelnd behäbig war er auch nicht unterwegs. Launig schwang er die Arme vor und zurück und tauchte nach einem kurzen Sprint und Hechtsprung in das erfrischende Nass des am Ufer anbrandenden Wasserwellenwirbels ein.

    Nach wenigen Sekunden schoss sein Oberkörper mit hochgestreckten Armen aus dem Wasser und der Beobachter spürte sein unheimliches Vergnügen und die unsagbare Lust an dem kühlen Nass. Schwimmend bewegte er sich im Wasser fort und genoss in vollen Zügen, was ihn umgab. Er hatte seinen Mund geformt, als würde er aus einem überdimensionalen Glas trinken wollen, und schlürfte mit vollem Genuss an diesem grenzenlosen Geschmack, der doch eigentlich nach salzigem Meerwasser schmecken müsste, dachte der Beobachter.

    Irrsinnigerweise verspürte der Beobachter im Unterbewusstsein seines nächtlichen Traumes etwas ganz anderes. Seine Geschmacksknospen spielten plötzlich verrückt. Anstatt der scharfen Würze des Meersalzes kamen in ihm Erinnerungen an seine Jugend hoch, als sich ein süßlicher Geschmack unwiderruflich in seiner Mundhöhle ausbreitete. Ein zärtliches Prickeln auf der Zunge und am Gaumen, ließen in ihm eine Mischung aus Sprite, Bluna und Redbull-Süße aufleben.

    Am Morgen - Hans Amplätzer

    Hans schälte sich mühevoll aus der Umklammerung seiner Bettdecke, ohne dabei die Augen nur einen Spalt öffnen zu wollen. Er schlief immer bei geschlossenem Rollo, weil er den Morgen hasste. Das Licht als grelle Ansage des Morgens, dass nun die Nacht zu Ende sei, hatte er schon nicht leiden können, als seine Mutter jeden Schulmorgen die Vorhänge aufgezogen hat. Das Allerschlimmste jedoch, was er fast abgründig bis zum Tode verabscheute, war dieses Schmecken. Das Licht konnte er aussperren, Geräusche konnte er fast unterdrücken – so gut es mit zwei Ohrenstöpseln eben ging – aber der Geschmack im Mund, im Rachen und die Speiseröhre runter war fast immer der gleiche, als hätten kleine Wichtelmännchen mindestens einen Eimer voll flüssigem Süßzeug in seinen Rachen gekippt. Wieder war es dieses Bluna-Sprite-Redbull Gemisch. Deshalb hielt es ihn auch nicht lange im Bett, von wegen noch gemütlich an den Resten der Nacht festhalten und die letzten Streckungen im warmen Bett auskosten. Er streifte sich fast blind die Hausschlappen über die nackten Füße, taumelte halb schlaftrunken die Treppe herunter, ging zum Kühlschrank und holte sich sein Gegenmittel aus dem Kühlfach.

    Jeden Morgen machte Hans Brotzeit, je deftiger umso besser. Heute hatte er Lust auf einen essigsauren Presssack vom Metzger die Straße runter. Der machte ihn, so wie er ihn liebte, so richtig sauer. Dazu ein oder zwei Essiggurken, richtig viel Salz und Pfeffer oben auf und eine Scheibe Schwarzbrot vom Bäcker gegenüber der Metzgerei. Er war ein guter Kunde, denn sein Konsum an Wurst, Fleisch und Brotwaren glich eher dem Bedarf einer zumindest vierköpfigen Familie mit mittelgroßen Kindern, die allesamt keine Vegetarier waren. Er liebte das Essen allgemein und nicht nur wegen der morgendlichen Süße im Mund, die seine Beobachterrolle im Traum verursachte.

    Noch beim Verzehr saß er in seinen altmodischen Boxer-Shorts und einem genauso alten Frottee Bademantel. Den hatte ihn vor vielen Jahren eine liebe Freundin zum Geburtstag geschenkt und beim Auspacken gemeint: „So einen kannst du gut gebrauchen, weil sie es nicht mochte, wenn er nur in Unterhosen am Frühstückstisch saß. Mittlerweile war der Bademantel durch das viele Waschen eingegangen und eigentlich zu klein geworden. Oder hatte Hans über die Jahre hinweg zugelegt? Egal, er liebte das alte Ding, obwohl er anfangs nicht sicher war, ob er es tatsächlich tragen würde. Mit Herz und Leidenschaft aß er Stück für Stück seiner morgendlichen Gaumenfreude. Beherzt schnitt er sich mit dem Jagdmesser seines Vaters einen Kanten vom Bauernbrot, spießte ein großes Viertel vom Presssack auf und verschlang es auf einen Sitz. Nach und nach, mit jedem Happen, wurde der Geschmack in seinem Mund besser. Als er den Teller geleert hatte, war sein Süß-Sauer-Gefühl wieder in die richtige Balance gekommen. Dieser Traum machte ihn nicht nur zum Beobachter, sondern auch zum Leidtragenden mit allen Konsequenzen. Zur Sicherheit schmatze er noch ein paar Mal mit leerem Mund, prüfte sein Geschmacksgefühl und war soweit zufrieden. Der zuckergeile Traum hatte seine Wirkung verloren. Erst jetzt war er bereit für die Dusche und eine frische Rasur, die nötig geworden war, da er sich schon mehrere Tage hatte gehen lassen ohne einen triftigen Grund zu haben. Es gehört irgendwie zu seiner Natur, die ihm nicht ganz wichtigen Dinge auch einfach mal geschehen zu lassen. Allerdings, sein ungewöhnlich hässlicher Bartwuchs, als hätte eine wilde Hyäne mit einem Löwen gerauft, hatte bereits unterschwellige Aufmerksamkeit erregt. Den bohrenden Blick seines Chefs kurz bevor der Spruch mit der Gurkenmaske kam – „Hatten Sie heute schon eine Gurkenmaske, Herr Amplätzer? –, kannte er mittlerweile nur zu gut. Den brachte er jedesmal, wenn er ihm – verklausuliert zwar, aber doch unmissverständlich – zu erkennen gab, dass es wieder Zeit wurde für eine anständige Gesichtspflege.

    Normalerweise war Hans Amplätzer ein ordentlicher Typ, zumindest würde er Selbiges von sich behaupten. Zugegeben, eine Frau hätte ihm vermutlich gut getan. Eine, die ihm hin und wieder beibrachte, was Ordnung und Sauberkeit im häuslichen und vor allem persönlichen Sinne bedeuten konnte – und fürs allgemeine Aussehen sowieso. Im Grunde seines Herzens wusste er schon, was die Norm wäre, aber er war nicht der Konsequenteste und Disziplinierteste seiner Art. Und vermutlich war auch ein zu groß geratener Schuss Ignoranz dabei. Hinzu kam eine innerliche Auflehnung gegen zu viel Reinheit im weitesten Sinne. Überhaupt, diese übertriebene Reinheit war ihm eher suspekt und erregte zuweilen einen Anflug von Misstrauen. Und dabei bezog er Reinheit nicht zwingend nur auf Hygiene, sondern vor allem auf Menschen, die in ihrem Ego kein bisschen Selbstzweifel hatten und sich selbst als moralisch und charakterlich überlegen zeigten. Solche Menschen betrachtete er zunächst einmal besonders genau und misstrauisch, ob denn nicht doch eine menschliche Schwäche, eine verborgene Sucht oder Phobie zu erkennen sei. Als Kriminaler, der Verbrecher und Mörder jagte, kannte er sein Klientel zu gut, um nicht in jedem Menschen einen Funken teuflischer Begier und psychischer Abgründe zu wissen. Manchmal hatte es nur den richtigen Moment, den richtigen Trigger, diese eine, verzweifelte, ausweglose Situation gebraucht und seine „Kundschaft", wie Hans Amplätzer seine überführten Täter hin und wieder nannte, waren zu eigentlich Unfassbarem fähig gewesen. Bewusst oder unbewusst, egal.

    Hans zwiebelte sich in seine Lieblingsjeans mit weitem Hosenschlag, ein Unterhemd und ein Karohemd, darüber und noch eine Schicht bestehend aus einem Leibchen, das er nicht zuknöpfte, anders als die steifen Anzugträger mit ihrem aufgesetzten Chic. Zuletzt folgte seine geliebte Außenhaut, die Lieblingslederjacke aus den Achtzigern, die bislang alle seine Einsätze mitgemachte hatte.

    Schneidig fuhr er mit seinem Oldtimer, einem goldschwarzen Opel Commodore, Baujahr 1970, vor die Dienststelle auf seinen angestammten Parkplatz. Der Wagen war ihm heilig. Ein Stück aus der Vergangenheit, das er tatsächlich ehrte wie einen Goldschatz. So viele positive Erinnerungen verband er mit der alten Kutsche. Damals, als er jung gewesen war, war man es gewohnt seine Liebschaften im Auto zu pflegen. Nix mit Übernachten in Häusern wildfremder Leute, selbst wenn es nur für einen One-Night-Stand war. Gut gelaunt sprang er aus seinem Opel und lief die Treppe hoch in sein Büro. Die Fahrt mit dem alten Gefährt hatte ihm seine gute Laune zurückgebracht.

    Ein „G‘morg’n da, ein „Servus dort, bis er in seinen Verschlag kam. Manchmal nannte er sein quadratisches Zimmer so, weil es tatsächlich holzvertäfelte Wände hatte. Vor der Umwidmung dieses Gebäudes in eine Polizeiinspektion war es eine Pension gewesen mit Gästezimmern im oberen Stockwerk. Es hatte geheißen, es würde eine Zwischenlösung sein, diese ehemalige Pension „Weitblick, bis man etwas Besseres gefunden habe. Der Name der Pension hatte etwas zweideutiges. Denn für die Einheimischen vom Land war der Name Anlass für frotzelnde Einlassungen, wenn die Polizei wieder einmal im Dunkeln tappte. „Polizei kurzsichtig, hieß es dann und vor allem, wenn es um Delikte ging, deren Aufklärung auf sich warten ließ oder überhaupt nicht stattfand. Aber, wie es eben so war, die Frotzeleien in der Bevölkerung hielten an und am Ende blieb bezüglich der Polizeistation alles beim Alten. Denn das durch die obere Behörde versprochene Geld für die nagelneue Polizeiinspektion sei im Moment nicht vorhanden, hieß es regelmäßig aus dem Innenministerium.

    Hans zog gleich von Anfang an in eines der Gästezimmer, ehemals das Zimmer „Vergissmeinnicht. Der Spott der Kollegen war ihm sicher, wenn er wieder einmal etwas hatte liegen lassen. Mit einem Augenzwinkern brachten ihm die Kumpel der Streifenpolizei besagtes „Vergissmeinnicht-Objekt an den Tatort vorbei, was ihm schon einige Tassen Kaffee gekostet hatte.

    Die Polizeistation war an ihre räumliche Kapazitätsgrenze angelangt. Alle Büros waren maximal mit Arbeitsplätzen ausgestattet, dementsprechend eng und laut ging es zu. Aber Hans war ohnedies lieber auf der Straße unterwegs. Derzeit war er allerdings ausschließlich mit alten Fällen betraut, die er sichten und entscheiden musste, welche davon in das Archiv gehen sollten und welche es im ersten Durchgang wert waren, neu aufgerollt zu werden. „Das nervt gewaltig. Dieses administrative Zeug", wetterte Hans vor sich hin und holte sich einen Aktenordner, klemmte ihn sich unter, füllte am Kaffeeautomaten noch schwarzen Kaffee in seinen Thermobecher für die Commodore-Spezialhalterung und wollte sich gerade an den Schreibtisch setzen, als das Telefon um Aufmerksamkeit rang. Er holte sich den Hörer ans Ohr.

    „Amplätzer, servus, was gibt’s? Er hatte die Nummer am Display erkannt. Es war die Zentrale, die über die Vermittlung zu ihm reinkam. Andächtig hörte er zu und raunte ein gelangweiltes „Hm in den Hörer und fragte dann: „Und wo soll das sein?" Mit einer Hand schnappte er sich den Bleistift aus der Stiftehalterung und kritzelte etwas auf das Schmierblatt vor sich.

    „Und die Kollegen von der Streife sind schon los gefahren? Er hörte erneut zu. „Ok, dann stoße ich dazu, passt schon. Es war zwar nicht das, wovon er träumte, aber das war ohnedies eine ganz andere Geschichte mit seinen Träumen. Immerhin war es eine Abwechslung vom Alltagstrott der Archivarbeit der vergangenen Tage. In Kleinschätzenswert, dem Nachbarort des Städtchens Niederobrigen, dem Ort seiner Kinder- und Jugendzeit, sei es zu einer Gewalttat unter Flüchtlingen gekommen.

    Hans wurde in erster Linie als Kriminaler für die komplizierteren Straftaten, darunter auch Kapitalverbrechen, also Mord, eingesetzt. Aber aus Personalmangel und weil zur Zeit krankheitsbedingt einige der Streifler ausfielen, half er aus, wenn Not am Mann, sprich an Polizisten, war. In der Region, wie in der Gesellschaft allgemein, war die Stimmung in der Bevölkerung aufgrund der Flüchtlingskrise ziemlich angespannt. Die Einquartierung von Flüchtlingen aus Syrien und Somalia in Kleinschätzenswert hatte neben vielen Hilfsbekundungen auch Befürchtungen und Vorbehalte befeuert. Ihr Chef meinte, da muss jetzt jeder mithelfen und irgendwie gab Hans ihm in dieser Beziehung recht, was ansonsten eher selten vorkam. Das mit der Flüchtlingskrise empfand Hans sowieso völlig überzogen, denn zunächst war das ganze Land übereuphorisiert mit einem Hallo-und-Halleluja der Willkommenskultur gewesen. Nun, wo nachhaltige Hilfsbereitschaft und Integration notwendig wäre, brachen sich die Bedenken, Sorgen und Vorbehalte bis hin zu Aggression und Feindseligkeit Bahn.

    „Jeder Mann wird gebraucht, Recht und Ordnung die richtige Geltung zu verschaffen", hob sein Chef hervor, denn nicht nur Flüchtlinge würden sich unwissentlich oder wissentlich falsch verhalten, sondern auch übereifrige sogenannte Vaterlandsverteidiger, die sich zur Rettung der Nation am Rande der Legalität bewegten, ja sogar auch rote Linien überschreiten würden. So oder so ähnlich hatte es ihr Chef bei der vergangenen internen Besprechung formuliert.

    Hans schnappte sich seine alte Lederjacke, die er über den Bürostuhl gehängt hatte und verschwand wieder in Richtung Ausgang. Auf dem Weg nach unten traf er auf Julia Schmidt, die ihm als erfolgreiche Absolventin der Polizeifachschule für Kriminalistik mit einem Jahr Berufserfahrung zugeteilt worden war. Ein totales Greenhorn in Hans Amplätzers Augen, aber nichtsdestotrotz rief er ihr in nettem Tonfall zu:

    „Ich melde mich, wenn ich unterwegs Unterstützung brauche. Aber das in der Flüchtlingsunterkunft scheint mir eher Routine zu sein."

    „Ist in Ordnung, Herr Amplätzer, sagte sie brav lächelnd. Sie war noch ziemlich jung, könnte seine Tochter sein und ergänzte: „Ich warte dann auf Ihren Anruf. Amplätzer dachte insgeheim: „Mensch, das junge Ding ist hübsch anzusehen, aber die wird wohl noch ein paar strenge Winter brauchen", vermied dabei jedoch jeden weiteren unsäglichen Gedanken, der ihn nach außen hin verraten hätte können.

    Schon einige Meter an ihr vorbei, drehte er sich noch einmal um, hielt seine linke Hand mit gespreiztem kleinen Finger und Daumen an das linke Ohr, um zu signalisieren, er würde anrufen. Dabei hauchte er gleichzeitig ein „Telefonieren" in die Luft, das aber im Bürogetöse aus entferntem Sprechgewirr, Türgeräuschen und Treppen-Auf-und-Ab-Schritten unterging. Eigentlich wollte er ihr nicht zu große Hoffnung machen, nur seine Gesten waren bereits in der Luft und so quittierte Julia Schmidt es mit einem betont freundlichen Lächeln, das er wohlwollend zur Kenntnis nahm, obwohl er lieber nicht so nett gewesen wäre wie es nun ankam.

    „Ich muss nicht jede meiner Handlungen erklären, und dachte weiter: „Egal, solange ich nicht ihren Babysitter spielen muss. Dazu tauge ich echt nicht.

    Schneidig wie immer ließ er seinen Commodore wie im Dauersprint laufen und wäre er nicht selbst Polizist gewesen, hätte er wohl einige Probleme mit den braven Kollegen der Verkehrspolizei nicht so einfach abwenden können. In den fünfundzwanzig Minuten zum Tatort weckte der neue Fall lang vergessene Erinnerungen an seine Vergangenheit.

    Als 1991 der Jugoslawien-Krieg ausbrach, kamen viele Menschen als Flüchtlinge nach Österreich und Deutschland, um den Grausamkeiten des Krieges zu entgehen. Damals hatte er bei seinen Eltern in der Kreisstadt Niederobrigen gewohnt, unweit von dem Ort, den er heute aufsuchen würde. Er hatte damals die Abiturklasse des hiesigen Gymnasiums besucht, das sich im Unterricht unter anderem dem damals aktuellen Zeitgeschehen widmete: Dem Krieg auf dem Balkan, den Hintergründen und befürchteten Auswirkungen auf die gesamte Region. Hans war diesen Themen gegenüber aufgeschlossen. Sein Opa war im Zweiten Weltkrieg gewesen und hatte dem jungen Hans von seinen Erlebnissen erzählt, mal mehr, mal weniger bedrückend. Es entwickelte sich bei ihm eine gewisse Faszination für diese Zeit, die weniger eine Kriegsbegeisterung war als das pure Interesse an den Mechanismen, die es ermöglicht hatten, dass diese Welttragödie ihren Lauf hatte nehmen können. Heute war Hans davon überzeugt, dass dies mit ein Grund war, warum er Polizist geworden war. Denn später erkannte er in den Theorien und Lehrinhalten der Kriminalistik viele Hinweise auf gesellschaftliches und individuelles Verhalten und dessen Zusammenwirken. Und zufällig lernte Hans damals einen jungen Mann, einen Bosnier ungefähr seines Alters, kennen, der den Krieg hautnah miterlebt hatte. Anton, zumindest nannte ihn Hans damals so, war ehemaliger Student.

    „Verdammt, dachte Hans, „ist das schon lange her!

    Er, der Anton, war ein unheimlich geschickter Fischer gewesen, um genau zu sein, ein geübter Schwarzfischer, wie Hans auch. Schwarzfischen war eine Leidenschaft gewesen, ein Abenteuer, aufregend und gepaart mit der Lust des Jägers, Beute zu machen. Wie Hans, streifte auch Anton durch die Wälder in der Umgebung seines Wohnortes und es war beiden ein Leichtes gewesen, lukrative Fischgründe zu finden. Anton war so flink und behände, dass er mit bloßen Händen Forellen oder andere Fische fangen konnte. Rasch hatten sie sich angefreundet und Anton brachte Hans das Fischen mit den Händen bei. War es für Hans ein Abenteuer mit seinen eigenen Reizen, so war es für Anton der Kampf ums Überleben, der ihm alles abverlangte. Es brauchte viel Geschick, um in seinem ersten Zufluchtsort nicht zu verhungern, denn Nahrungsmittel gab es nicht, die man einfach so im Supermarkt kaufen konnte. Zumeist hatten sich die aus seinen Heimatorten geflüchteten Zivilisten in den Wäldern der Umgebung aufgehalten, um den direkten Kampfhandlungen zu entkommen. Dort lebten sie eine ganze Weile im Schutz der Bäume, Hügel und Berge, die es dort gab. Und trotz der Geschicklichkeit von Anton war er unheimlich dünn gewesen, hager als wäre er aus einem KZ der NS-Zeit ausgebrochen, so erinnerte sich Hans, der damals begierig die Illustrationen im Geschichtsunterricht aufsog, als hätte er einen Geschichtsschwamm in seinem Kopf.

    Viele dieser Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Balkan kamen zu dieser Zeit nach Österreich, Deutschland und an andere Orte fern der Heimat. Und viele sind geblieben, haben sich integriert, haben die Sprache gelernt und Arbeit gefunden. Andere wiederum sind nach dem Krieg in ihre Heimat zurückgekehrt, die um mehrere Jahrzehnte in ihrer zivilisatorischen und gesellschaftlichen Entwicklung zurückgeworfen worden war. Und nun, im Hier und Jetzt, wiederholte sich für unzählige Kriegsflüchtlinge aus Syrien und anderen Krisenländern der Welt die traurige Geschichte von Anton dem Flüchtling. Hans Amplätzer hatte schnell bemerkt, dass sich schreckliche menschliche Tragödien immer wieder ereigneten, als gäbe es keine anderen Lösungen als Flucht und Vertreibungen. Einem imaginären Naturgesetz gleich.

    Flüchtlingshelfer – Josef Helfreich

    Das Handy wimmerte mittlerweile geschlagene zehn Minuten immer wieder vor sich hin. Josef hatte es auf dem Tisch im Esszimmer liegen lassen, wie er es seit Kurzem regelmäßig machte. Andernfalls fand er keine rechte Ruhe in der Nacht, denn manche seiner Chat-Partner waren ziemlich schmerzbefreit, was die Unterscheidung zwischen Tag und Nacht anging und dem damit verbundenen Zweck des Schlafens.

    Diese Erfahrung der ungeregelten Kommunikationswut zu jeder Tages- und Nachtzeit – egal, ob es auch am nächsten Tag hätte erledigt werden können oder nur irgendeine andere spontane Befindlichkeit kommuniziert werden musste – lehrte ihn, sein Handy zumindest nicht in der Nähe des Bettes zu belassen. Zwar war vereinbart, dass nur im Notfall während der Nachtstunden zum Handy gegriffen werden sollte, aber Not kann vieles bedeuten. Beispielsweise, wenn die Prepaid-Karte eines seiner Schützlinge leertelefoniert worden war und Josef dringend um Hilfe gebeten wurde. Obwohl, irgendwie verstand er es ja, denn das Telefon war die einzige Verbindung in ihre Heimat.

    Außerdem hatte die Verbannung aus dem Schlafzimmer eine rein praktische Seite, denn in der Nähe des Esstisches befand sich auch eine Steckdose, um dieses omnipotente Foltermittel der modernen Kommunikationswelt fit für den neuen Tag zu machen.

    Josef kannte noch die alten Zeiten der Telefonie und sah den Unterschied zur Smartphone-Zeit deutlich. Eigentlich hasste er diese permanente Beaufschlagung mit Nachrichten, Meldungen und sonstigem Zeug in Ton, Wort und Bild – also alle denkbaren Formate, mit denen er sich täglich herumzuschlagen hatte, weil sie eben auf seinem Handy ankamen. Und er hasste, dass jeder und alle ihren geistig oft minderbemittelten Erguss an Frechheiten, Verleumdungen oder Hasstiraden gegen Menschen anonym absetzen konnten, ohne dabei wirklich zur Rechenschaft gezogen werden zu können. Aber es gab auch viele Vorteile, vor allem, wenn es um seine Schützlinge ging.

    Als Lehrer im Ruhestand hatte Josef Helfreich zuletzt, als er noch im aktiven Dienst gewesen war, natürlich mit seinen Schülern über die verschiedenen sozialen Foren gechattet. Noch heute hatte er mit vielen Schülern und Lehrerkollegen regen Kontakt und dabei kam viel Sinnvolles heraus. Ohne diese Art der Kommunikation wäre er zuletzt als Lehrer sicherlich komplett out gewesen. Manche Themen wurden praktisch nur noch über derartige Kanäle abgewickelt, sei es die Organisation von Klassenfahrten oder nochmalige Hinweise für die Schüler zur Rückgabe der unterschriebenen Elternbriefe. Auch jetzt als Rentner online zu sein, fand er mitunter nicht so schlecht, aber er wusste eben auch um die Schattenseiten.

    Leicht genervt hievte sich der ehemalige Geschichts- und Musiklehrer aus seinem Bett heraus. Deutlich zu früh für ihn, gerade war es 6.15 Uhr, und das war nun wirklich nicht mehr seine Zeit. Sein Wirkungszeitraum mit höchster geistiger und körperlicher Präsenz war eher ab Mittag bis in die Nacht, völlig im Gegensatz zum frühen Morgen, wo er eine unheimlich lange Anlaufphase brauchte. Seine Frau tat es ihm im Übrigen gleich, nur die war zur Zeit außer Landes, da sie die beiden Enkelkinder in Imperia Ligure, Italien, für ein paar Wochen betreute. Die einzige Tochter Rafaela, verheiratet mit dem Italiener Simione Galdi, war erneut hochschwanger und dankbar für die Unterstützung von Oma Helfreich. Wie lange seine Frau und eben Oma Mathilde wirklich außer Haus sein würde, war offen geblieben. Solange Not am Mann beziehungsweise der Oma sein würde, bekam niemand sonst den Vorzug.

    Für seine Verhältnisse steif und ungelenk wackelte Josef im Schlafanzug und barfuß die Treppe hinunter, hielt sich am Handlauf fest und folgte dem aufdringlichen Gebimmel seines Handys. Er hatte es nicht auf stumm geschalten, eben weil Mathilde in Italien weilte. Sollte etwas Ungewöhnliches sein, man weiß ja nie, wollte er auf jeden Fall erreichbar sein.

    Eigentlich war es kein Bimmeln. Josef hatte sich stattdessen den Song „How many roads must a man walk down? von Bob Dylan als Klingelton aufgespielt. Wenn schon Handy, sollte es sich mit einem Ton Aufmerksamkeit verschaffen können, für den er etwas übrig hatte. Josef war ein 1968er. Pazifist durch und durch, Love and Peace sein Motto. Unaufhörlich plagte und greinte dieses Lied vor sich hin, bis Josef es endlich zu fassen bekam. Er schnalzte noch ein „Halleluja nochmal hinaus, griff sich das Ding, räusperte sich kurz und fragte dann für seine Art ein eher unterkühltes: „Hallo, wer da?" in das Mikro.

    „Allo, allo, ist da Josef? Ick bin Ben Mustafa, bist du der, der Josef?" Ben Mustafa schnaufte schwer und sein Atem war abgehackt.

    „Ja, Ben, was ist denn los in aller Frühe? Warum bist du so aufgeregt?"

    „Was kann ick sagen? Ick denken, Ali ist verrückt. Schreien und laut und will schlagen. Seine Stimme war, als würden seine Stimmbänder zerreißen. „Du musst schnell kommen, Josef, bitte, bitte.

    „Ok, ok, Ben, du bleibst, wo du bist, ich komme, so schnell ich nur kann. Aber beruhige dich wieder und bleib, wo du bist, klar. Ich bin in fünfzehn Minuten bei dir. Beruhige dich, ich komme."

    Überwältigt von dem spontanen und beunruhigenden Auftritt von Ben, fiel Josef fast das Handy aus der Hand, als er den Anruf mit dem roten Button beenden wollte.

    „Glück gehabt", stieß er ad hoc hervor, positiver als er es von sich erwartet hätte, wo ihn doch dieser Anruf ziemlich unter Druck setzte. Seine lieben Schützlinge waren in Gefahr geraten und schleunigst musste er sehen, dass er in die Unterkunft kam, um zu schauen, was passiert war.

    Die Unterkunft war seit mehreren Monaten mit Flüchtlingen aus verschiedenen Ländern wie Syrien, Somalia, Eritrea und Irak belegt. Zwei davon, Ben Mustafa und Ali Almek, hatte er von Beginn an betreut. Josef war von Anfang an dabei gewesen, als der Bürgermeister per Infoblatt mitteilen ließ, dass alsbald Flüchtlinge auch in der Gemeinde unterzubringen seien und dafür ein Info-Abend veranstaltet würde. Von da an kümmerte er sich um die beiden Jungs. Die ersten Tage und Wochen war die Betreuung hauptsächlich darauf beschränkt gewesen, das Notwendigste zu besorgen und ihnen helfend zur Seite zu stehen. Die Ausstattung für die Unterkunft wurde vom Landkreis gestellt, also Betten, Bettzeug, Spinde und so weiter. Den Rest sollten sie sich selbst besorgen.

    Wie schon damals zu diesem besagten Info-Abend für ehrenamtliche Helfer, schwang sich Josef auf sein Lastenrad. Er und Mathilde hatten zwar noch ein Auto in der Garage stehen, aber sie verweigerten aus Prinzip mit der alten Karre zu fahren, weil es der Umwelt und ihnen selbst besser dabei ging. Der Drahtesel war nicht sonderlich elegant und sportlich, aber unheimlich praktisch, denn für die Transporte und Versorgungsfahrten des täglichen Lebens reichte es allemal, zumal er diesen wunderbar großen Korb hinter dem Sitz hatte. Glücklicherweise war es schon hell, sodass er die fünfzehnminütige Fahrt mit dem Rad nicht im Dunkeln

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