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Der Kreator: Künstlicher Frieden
Der Kreator: Künstlicher Frieden
Der Kreator: Künstlicher Frieden
eBook707 Seiten10 Stunden

Der Kreator: Künstlicher Frieden

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Über dieses E-Book

Die Welt der Zukunft ist nicht dieselbe - die Menschheit ist nicht dieselbe. Der Wissenschaftler Keylam Baine lebt in einer Gesellschaft, die Vernunft und Emotionen trennt. Es ist ein Leben, das ihn zwischen diesen Polen zu zerreißen droht. Als er von rätselhaften Visionen geplagt wird, stellt sich eine Frage: Ist es sein Verstand, der ihm Streiche spielt oder versucht etwas Kontakt aufzunehmen, das nicht von dieser Welt ist?
Als wäre das nicht schon schwer genug zu meistern, verliebt er sich in eine Frau, die seine rationalen Gewissheiten ins Wanken bringt. Liebe und Erkenntnis zwingen ihn zu einer Gratwanderung, auf der Geheimnisse und Lügen mit kaum akzeptablen Wahrheiten kämpfen und ihn zwingen, Position zu beziehen. Falsch zu wählen kann er sich dabei nicht leisten.
Der Kreator zeigt eine Welt, wie sie vielleicht bald schon existieren könnte. Mit Menschen, die anders sind und wieder werden wollen, was sie einst waren.
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum21. Juni 2022
ISBN9783740705060
Der Kreator: Künstlicher Frieden
Autor

Y. M. Aküzüm

Y. M. Aküzüm, Jahrgang 1976, geboren und aufgewachsen in Winterthur, Schweiz, entdeckte das literarische Schreiben Ende 2018. Ihr Erstlingswerk, eine utopische Trilogie, obwohl in nicht allzu ferner Zukunft spielend, ist vollgepackt mit aktuellen Themen, die zum Nachdenken anregen. Problematiken und Sinnesfragen werden angesprochen, teilweise absichtlich nur sanft gestreift, und regen zum Diskutieren an. Mit ihrer Soft-Science-Fiction möchte die Autorin insbesondere auch die Leserschaft ansprechen, welche dem Genre Science-Fiction oft kritisch gegenübersteht.

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    Buchvorschau

    Der Kreator - Y. M. Aküzüm

    1

    Keylam Baine wünschte sich einen Moment der Stille. Wollte nur für einen Augenblick die äußere Ruhe in sich spüren. War das zu viel verlangt? Unentwegt spann sein Hirn Gedankengarn, bis zum Saturn und weiter. Weiter in die Unendlichkeit.

    Er blieb stehen. Versuchte zugleich, seinen inneren Antrieb kurz zu stoppen. Doch zu vieles bewegte ihn, drängte ihn vorwärts. Erschöpft neigte er den Kopf und sah Sandkörner über seine Schuhe rieseln. Winzigkleine Fragmente, die vor langer Zeit einmal eine Einheit gebildet hatten, Teil von etwas Großem gewesen waren. Sein Blick glitt in die Ferne zu den hohen Bergen. Irgendwann würden auch sie als Sand den Boden bedecken. Ob sich dann noch jemand ähnliche Gedanken machte? Er konnte es sich nicht vorstellen. Einige glaubten, sie würden ewig existieren, doch in der Geschichte der Erde waren sie nichts als ein kurzer Windhauch, der sie von irgendwoher hergeweht hatte und auch wieder mitnehmen würde. Menschen kamen sich so wichtig vor, doch das waren sie nicht. Nicht für die Erde. Die konnte sehr gut ohne sie leben. Im Gegensatz zu ihnen. Besser wahrscheinlich. In beängstigend kurzer Zeit hatten sie es geschafft, sich fast selbst zu vernichten.

    Zerstörung. Endete nicht alles irgendwann in Zerfall? War dies nicht das Gesetz der Entropie? Doch nichts geht verloren – nicht in einem geschlossenen System. Das besagt der erste Satz der Thermodynamik. Doch konnte es ewig so weitergehen? Aufbau, Untergang, Aufbau. Wie lange noch bis zur endgültigen Vernichtung? Dem ultimativen Ende. Die große Krise, wie schleichend langsam sie auch kam, würde letztlich ihren Niedergang besiegeln.

    Er verweilte nicht lange bei diesen zermürbenden Gedanken, sondern ließ sie wie Blätter im Wind weiterziehen. Der Feuerball am wolkenlosen Himmel brannte gnadenlos auf ihn herab. Er sehnte sich nach Schatten. Eine einzelne Wolke, genau vor der Sonne platziert, hätte gereicht. Und trotz der Unannehmlichkeiten, die er sich freiwillig aufgehalst hatte, war er zufrieden. Es war das Richtige und viele vor ihm hatten es getan und nie bereut. Schweiß rann ihm über die Stirn, und kaum hatte er ihn weggewischt, konnte er wieder von vorne beginnen. Seine Kehle war ausgetrocknet und er blieb kurz stehen, um zu trinken. Das Wasser war warm und schmeckte fahl, aber es löschte den Durst. Er trank gierig und etwas von der Flüssigkeit verfehlte sein Ziel, lief ihm übers Kinn und tropfte auf sein verschwitztes Hemd. Was hätte er jetzt für eine Dusche getan …

    Doch er hatte es so gewollt. Sein einziger Fehler hatte darin bestanden, eine dermaßen lange Route für einen Tag zu planen. Seine Füße schmerzten, als hätte er Kies in den Schuhen. Es war der dritte Tag seiner Expedition, und er hatte auch heute nichts anderes als trockene Erde, kleine Steine, größere Steine, Gesteinsbrocken und dornige Büsche gesehen. Und zwischendurch ein paar Eidechsen auf Nahrungssuche. Die Herausforderung, allein und ohne technische Hilfsmittel auszukommen, hatte ihn gereizt. Er, der mit einem analytischen Verstand zur Welt gekommen und von Innovation und Forschung angetrieben war, es kaum einen Tag ohne seinen Rechner aushielt, hatte sich genau das gewünscht. Nicht die körperliche Anstrengung oder das ständige Alleinsein, denn das beherrschte er. Das einzig Elektronische, das er bei sich hatte, trug er in sich: ein unter die Haut implantierter Mikrochip. Jedem Studenten des Ratshofs, der sich auf diese Expedition begab, war vorgeschrieben, sich einen solchen implantieren zu lassen, seit einmal ein junger Mann von seiner Reise nicht mehr zurückgekehrt war. Damals waren nicht mal Fußtruppen, die die Ebenen abgesucht und jeden Stein umgedreht hatten, in der Lage gewesen, den Verschwundenen wieder zu finden. Hätte er ein implantiertes Ortungsgerät in sich getragen, wäre sein Verschwinden kein Rätsel geblieben. Außerdem übermittelte der Chip auch die Vitalwerte seines Trägers.

    Die Technologie, die in diesen Peilgeräten steckte, grenzte an Magie. Sie funktionierten weder über Funk, noch mittels Satelliten, denn diese waren seit langem nichts mehr als Weltraumschrott. In den winzigen Geräten verbarg sich stattdessen etwas namens Q-Link-Technologie, was sie für jegliche Kommunikation verwendeten. Q-Links hatten vor langer Zeit das Telefon und Internet ersetzt. Einst nicht mehr als eine theoretische Möglichkeit war es mittlerweile in den Alltag eines jeden Einzelnen gelangt. Und er fragte sich, warum. Er begriff, was im Großen und Ganzen dahintersteckte: Zwei räumlich voneinander getrennte Teilchen vermochten Informationen ohne Zeitverzögerung auszutauschen. Er hatte sich in seiner Freizeit intensiv damit auseinandergesetzt. Hatte, beginnend beim Resultat, jeden Schritt nachvollziehen können, bis zu einem Punkt, wo etwas fehlte. Eine Verbindung, die das Ganze möglich machte. Es kam ihm vor, als wäre eine vorgefertigte Lösung, ohne den Entstehungsweg aus dem Nichts aufgetaucht. Als er weiterforschte, bekam er keine zufriedenstellende Antwort. Doch er würde nicht locker lassen, hatte sich vorgenommen, dieser Sache weiter nachzugehen. Irgendwann.

    Die Erfahrungsreise in die Ebenen diente den Studenten des Ratshofes aus den höheren Semestern als Auszeit vor dem Abschlussjahr, um Selbstvertrauen zu tanken und ihre Unabhängigkeit zu stärken. Die Distanz half ihnen, ihre Mitte zu finden, sich auf den Abschluss und die zukünftige Arbeit vorzubereiten.

    In Ausnahmefällen wurde auch Schülern, die sich noch im Grundstudium befanden, die Reise genehmigt. So auch bei ihm. Keylam Baine war soeben zwanzig geworden und hatte wie alle anderen mit achtzehn die Spezialisierungsphase der Ausbildung begonnen. Seit zwei Jahren studierte er Ingenieurtechnologien, und da er selbst unter den Hochbegabten intellektuell hervorstach, belegte er quasi nebenbei Vertiefungskurse in Astronomie, Chemie und Physik.

    Manchen kam auf dieser Expedition eine Eingebung, welche sie dann für die Abschlussarbeit nutzten. Ihm blieben fünf Jahre bis dahin, doch eine Idee frühzeitig zu haben, konnte nicht falsch sein. Und sollte sie ausbleiben, so blieb immer noch der Genuss der Wanderung, auf die er sich lange gefreut hatte. Er liebte es, in der Natur zu sein, schätzte Einsamkeit, die Weite des Landes und vor allem seine Stille. Schon als Kind hatte er davon geträumt, unter dem Sternenhimmel zu schlafen. Er war nicht ungern in Gesellschaft, aber das Alleinsein verlieh ihm eine spezielle Kraft. Nur dann konnte er seinen Gedanken konsequent folgen und sie zu Ende bringen.

    Mit zusammengekniffenen Augen blickte er Richtung Westen. Die Sonne stand tief, doch das Tageslicht würde reichen, bis er an seinem nächsten Ziel angelangt war. Und er konnte ihn auch von hier aus schon sehen, den großen, alten Baum, den die Studenten »Baum des Schicksals« nannten. Er krönte eine kleine Erhöhung und wirkte so einsam und verlassen, wie Keylam sich an seinem ersten Schultag am Ratshof gefühlt hatte. Unter seiner blattlosen Krone hatte er vor zu nächtigen.

    Der Baum sei uralt, hieß es und er habe schon manchem auf seiner Sinnsuche geholfen. Die Lebenskraft hatte ihn verlassen, seine Äste waren kahl und kaum jemand erinnerte sich daran, dass er jemals Laub getragen hatte. Man behauptete, dass diejenigen, die in seiner Nähe schliefen, besonders intensiv träumten.

    Keylam glaubte nicht daran, sagte sich, dass es sowas wie Kraftorte nicht gab. Allein die Hoffnung oder das Fehlen von Wissen trug dazu bei, den Verstand damit zu benebeln und irrezuführen, war er überzeugt. Seine Entscheidung, beim Baum zu nächtigen, lag daran, dass er dort in der sonst flachen Umgebung einen guten Überblick hatte.

    Erschöpft und erschlagen erreichte er eine halbe Stunde später sein Nachtlager. Die Sonne stand knapp über dem Horizont und hatte sich in eine rotgoldene Kugel verwandelt, die schnell zu verschwinden drohte. Er betrachtete den Baum, der ihm fremd und doch vertraut vorkam. Seine dunkle Rinde war voller Risse, der Stamm kräftig, leicht gekrümmt und die ersten Astgabelungen so hoch oben, dass er unbezwingbar erschien.

    Trotz der Kälte, die in der Nacht aufkommen würde, entschied er, unter dem freien Sternenhimmel zu schlafen. Sein kleines Zelt war bisher nie zum Einsatz gekommen. Mit dem wenigen Gehölz und trockenen Gras, das er in der näheren Umgebung fand, entfachte er ein Feuer, dessen Glut ihn beim Einschlafen wärmen würde. Seine Muskeln waren angespannt und schmerzten. Sein Körper sehnte sich nach Ruhe, aber der Geist machte keine Anstalten, dem nachzugeben. Da waren noch viel zu viele Gedanken und Ideen, die in seinem Kopf um Aufmerksamkeit buhlten. Und außerdem Gefühle, bei denen er nicht so recht wusste, ob er sie akzeptieren konnte und wo sie hingehörten.

    Er machte es sich bequem und aß eine Kleinigkeit. Hungrig war er selten nach so viel Bewegung. Schon bald saß er gedankenverloren da und reflektierte den Tag. Als er einen Anflug von Müdigkeit empfand, legte er sich auf den Rücken und schaute in den überwältigenden Sternenhimmel hoch. Ihm wurde fast schwindlig beim Betrachten der geheimnisvollen Gestirne. So viele Sonnen. Unzählbar viele. Er fragte sich, ob auch nur eine wie die seine war und von Planeten umkreist wurde. Existierte wenigstens ein weiterer Ort, der Leben beheimatete?

    Ein Stern leuchtete heller als die anderen. Es schien ihm fast, als sollte ihm etwas mitgeteilt werden, als würde jemand ihn rufen. Eine seltsame Melancholie ergriff sein Herz. Sie ängstigte ihn nicht, denn sie war eine alte Bekannte, ein Teil von ihm, schon immer dagewesen. Es war in Ordnung. Sie ließ ihn zu dem werden, was er war und was er konnte. Sie gehörte zu ihm, wie der Himmel zur Erde. Und wenn sie lange fernblieb, vermisste er sie sogar ein wenig. Denn Melancholie war, was ihn kreativ werden ließ. Sie war es, die ihn nachdenken und das Leben hinterfragen ließ.

    Langsam dämmerte er weg, in die Arme der wärmenden Glut neben ihm. Doch erholsamer Schlaf war ihm nicht gegönnt. Wie ein Blitzschlag durchfuhr ein plötzlicher Schmerz seinen Kopf.

    Er schoss hoch, riss erschrocken die Augen auf. Ein grelles Leuchten blendete ihn. Ein Licht von solcher Intensität, dass er nichts anderes mehr wahrzunehmen vermochte. Er krallte seine Hände in die Decke und schnappte nach Luft, versuchte, tief durchzuatmen, doch der bohrende Schmerz ließ ihn nicht los, nahm vielmehr von seinem ganzen Körper Besitz.

    Er zuckte zusammen und fiel seitlich zu Boden. Vergebens kniff er die Augen zu, denn das Licht verschwand nicht. Er krümmte sich, Übelkeit stieg in ihm hoch und sein Körper zitterte wie Espenlaub. Ein unterdrücktes Stöhnen entwich seiner Kehle, tief und stockend. Seine Gedanken waren noch klar und sein Verstand versuchte, ihm zu sagen, dass Panik kontraproduktiv sei. Doch schon glitten die Gedanken ins Irrationale. Er ängstigte sich zu Tode.

    Was war das nur und was machte es mit ihm? Niemand konnte ihm hier draußen helfen. Er war allein. Und da meldete sich plötzlich wieder ein rationaler Impuls. Der implantierte Chip. Er würde ihn retten. Im Kontrollzentrum des Ratshofs müsste jetzt ein Alarm losgehen. So wie er sich fühlte, mussten seine Vitalwerte verrückt spielen. Es würde keine halbe Stunde dauern und sie wären bei ihm. Ein beruhigender Gedanke. Oder war es dann zu spät und sie würden nur noch einen leblosen Körper vorfinden?

    Ein erneuter heftiger Krampfanfall schüttelte ihn und sein Atem stockte. Als er fürchtete, das Bewusstsein zu verlieren, tauchten vor seinen Augen Bilder auf. Bilder von einem Planeten von solch bezaubernder Schönheit, wie er ihn noch nie gesehen hatte. Was hatte das zu bedeuten? War er tot? Sah so der Übergang in die andere Existenz aus? Er hatte sich viele Gedanken gemacht, war sich aber immer sicher gewesen, dass er nicht daran glauben wollte, dass es die andere Seite überhaupt gab. Doch nun schien ihm das Gegenteil bewiesen zu werden. Was konnte das sonst sein als der Tod?

    Zuerst sah er den Planeten vom Weltall aus, dann fokussierte sich sein Blick. Aus der Vogelperspektive zeigten sich ihm gigantische Ozeane, riesige Urwälder mit gewaltigen Wasserfällen und Landschaften aus verschneiten Bergen. Regionen mit lavaspeienden Vulkanen lösten unendlich weite Steppen ab, deren Horizonte kaum erreichbar schienen, Seen, an deren Ufer Tiere aller Arten ihren Durst stillten, wandelten sich zu Sandwüsten von karger und stiller Schönheit, die ihresgleichen suchten. Doch das Beeindruckendste war, was von dieser Welt ausging: eine Art Leuchten wie eine sie umgebende Aura. Und diese schien etwas zu übermitteln, ihm eine Botschaft zuzurufen. Er hatte das Gefühl, dass eine ihm völlig unbekannte Intelligenz die Fühler nach ihm ausstreckte. Doch sie war weit weg. Er verstand nicht, was sie sagte.

    Als der Schmerz in seinem Kopf verschwand, lösten sich Angst und Unbehagen in unbeschreiblicher Zufriedenheit auf. Sie breitete sich in ihm aus und ließ ihn wieder müde werden. Und so schlief er ein, zusammengekauert wie ein Kleinkind. Ahnte nicht, dass er noch lebte, und erwachte erst wieder, als der Morgen graute.

    Ihm war kalt, die Glut schon vor Stunden erloschen. Er fröstelte, hustete kurz und setzte sich verwirrt auf, ein störender metallener Geschmack im Mund.

    Die Sonne versteckte sich hinter dem Gebirge, aber ihre Präsenz machte sich schon bemerkbar. Nicht mehr lange und ihre Strahlen würden ihn wärmen. Mit verklärtem Blick schaute er sich um und vergewisserte sich, dass er noch dort war, wo er sich gestern niedergelassen hatte. Etwas schlaftrunken erhob er sich, streckte die Glieder und gähnte herzhaft. Und als er ein paar Schritte Richtung Baum lief, war sie erneut präsent – die Erinnerung an das nächtliche Erlebnis und die Bilder des Planeten.

    Er hielte den Atem an, tastete seinen Körper ab, fasste sich ins Gesicht und ließ dann langsam die angestaute Luft entweichen. Er war am Leben, unverletzt, frei von Schmerz.

    Was war das nur?, fragte er sich. Ein Traum? Welch seltsamer Traum, der mit solcher Wucht und heftigen Schmerzen kam. Hatte ihn womöglich ein Blitz getroffen? Aber das konnte nicht sein, denn das hätte er nicht überlebt und falls doch, hätte er Brandverletzungen davongetragen. Er dachte auch an die Möglichkeit eines epileptischen Anfalls. Doch weshalb sollte er, ausgerechnet hier, mutterseelenallein, so etwas erleiden? Er war gesund, man hatte ihn getestet.

    Doch stellte sich die relevanteste aller Fragen: Warum hatte man ihn nicht geholt? War sein Chip defekt? Das konnte doch nicht sein, dass niemand was mitbekommen hatte. Für so etwas hatten sie ihm das Ding ja implantiert. Also doch nur ein verrückter Traum?

    Sein Blick schweifte kurz zum Baum und er überlegte, ob an der Geschichte über dessen Wirkung auf die Menschen in seiner Nähe, etwas Wahres dran sein konnte. Kopfschüttelnd machte er eine wegwerfende Geste und begann, seine Sachen zusammenzupacken.

    Während der nächsten vier Tage, an denen er noch alleine unterwegs war, ließ ihm das Erlebnis keine Ruhe. Die Bilder hatten sich in seinem Gehirn festgebrannt und erschienen ihm immer wieder, ebenso die Empfindungen dazu. Es hatte etwas zu bedeuten, dessen war er sich sicher. Doch was? Nur die Bilder allein hätten ihn nicht so berührt. Die heftige körperliche Reaktion jedoch und die intensiven Gefühle machten ihn stutzig.

    An dieser Stelle hätte er seine Wanderung abbrechen können, aus Sorge, dass es nochmals geschah und wieder niemand Notiz von ihm nahm. Doch er wollte den Trip zu Ende bringen. Sollten sie ihn dann bei seiner Rückkehr auf seine Vitalwerte ansprechen, hätte er die Bestätigung, dass er es sich nicht eingebildet hatte.

    Was jedoch immer noch nicht beantwortete, warum sie nichts unternommen hatten.

    Doch niemand kam auf ihn zu und das irritierte ihn. Er musste einen Bericht erfassen, wie es üblich war, ließ das Erlebnis jedoch weg. Hätte er es erwähnt, könnte er die Minuten zählen, bis sie ihn für eine Mentaluntersuchung abholten. Das musste nicht sein. Ihm ging es ja wieder gut. Körperlich zumindest. Seinen psychischen Zustand stellte er ein wenig in Frage und so versuchte er, einfach nicht daran zu denken. Vergebens. Das Erlebte begleitete ihn auch noch, als er zurück in seinem Alltag war. Er suchte nach dem Sinn und fragte sich unentwegt, ob er es sich doch nur eingebildet hatte.

    Davon erzählt hatte er niemandem.

    2

    Neun Jahre früher …

    Majestätisch hob sich das Massiv von den Ebenen ab: imposante Felsformationen in allen Braun- und Grautönen, steilabfallende Täler und schwindelerregende, spitz zulaufende Gipfel. Karg, aber von überwältigender Schönheit thronte das Gebirge der Erkananden über dem Flachland. Im extremen Gegenteil zu den Niederungen zeigte sich hier eine Landschaft, die nicht bezwungen werden wollte. Sie hatte ihren eigenen Willen und den setzte sie durch. Mithilfe des Wetters, das schon manchem arg zugesetzt hatte, und ihren teilweise fast unbezwingbaren Gipfeln, verschaffte sie sich ihre Ruhe und den verdienten Respekt. Die Ebenen lagen ihr wie ein ausgerollter Teppich zu Füßen. Sanfte Steppen und wüstenähnliche Flächen, soweit man sah und mitten drin ein breiter Fluss. Im Sommer meist nur ein ausgetrocknetes Bett, anfangs des Frühlings dann mutiert zu einem wilden und zornigen Gewässer, das sich seine eigenen Wege suchte. Unaufhaltsam bewegte sich das Wasser vorwärts, das hier einst drei Flussgabelungen geschaffen hatte. Dies entschärfte die Kraft des Flusses und ließ seine Ströme sanft dahinfließen. Der perfekte Ort für eine Siedlung, für einen Neuanfang.

    Keylam drückte sein Gesicht ans Fenster, um so viel wie möglich zu sehen. Seine Neugier war grenzenlos wie der Horizont. Sein Atem beschlug die Scheibe. Die Welt unter ihm versetzte ihn ins Staunen und verlieh seiner Fantasie Flügel. Obgleich ihn die Silhouette der ersten Häuser seiner vor ihm auftauchenden Heimatstadt begeisterte, war er mehr angetan von dem, was er dahinter erblickt hatte. Die Ebenen, das Gebirge und vor allem die Landschaft zwischen den großen Städten. Sie war wild, unbekannt und geheimnisvoll.

    Ihm war wenig darüber bekannt. Wenn er danach fragte, bekam er meist nur unbefriedigende Antworten. Und je öfters ihm gesagt wurde, er solle nicht mehr fragen, umso wissbegieriger wurde er. Er wollte wissen, warum man sie nicht betreten sollte. Es sei nichts für die Städter, dort gebe es keine Infrastruktur und außerdem wilde Tiere, hieß es. Er verstand es nicht, es sah doch so verlockend aus. Allein der Name beflügelte seine Fantasie. Sie nannten es Wildland. Das klang in seinen Ohren nach Abenteuer und Freiheit. Auch hatte er kleine, bescheidene Häuser entdeckt, die sich dort verteilten. Er war sich sicher, dass darin spannende Menschen lebten. Zu gerne hätte er sie kennengelernt und sich mit ihnen ausgetauscht. Sie hätten bestimmt Interessantes zu berichten gewusst, und er hätte ihnen von seinem Leben in der Stadt erzählt. Ihnen vielleicht anvertraut, dass er im Moment traurig war, weil er schon bald sein Elternhaus verlassen musste. Und damit seinen allerbesten Freund Dagwin, der für ihn wie ein Bruder war.

    Er würde sicher alle furchtbar vermissen, aber er musste tapfer sein, so viel verlangten seine Eltern. Denn es war das Beste für ihn. Sie hatten ihm gesagt, dass er überdurchschnittlich klug sei, und junge, kluge Menschen müssten lernen, wie sie ihr Wissen fokussieren konnten. Er verstand das nicht. Außerdem hatten sie große Hoffnungen, dass er eines Tages ein bedeutender Mann werden würde. Das begriff er noch weniger. Warum sollte er das werden – bedeutend? Was hieß das denn für sie? Bedeutend zu sein war ihm nicht wichtig, er wollte doch nur er selbst und glücklich sein. Und er war alt genug, um zu sehen, dass die Erwachsenen nicht allzu glücklich wirkten. Ihr Verhalten kam ihm unnatürlich vor. Als würden sie alle eine Rolle spielen, die ihnen nicht lag. Einzig seinen Vater empfand er als Ausnahme. Sein Vater war großartig. Sie spielten zusammen und tauchten gemeinsam in Fantasiewelten ein. Ein Erwachsener, und doch ließ er sich ganz darauf ein und lachte mit ihm. Seine Mutter lachte fast nie. Sie wirkte nicht traurig, sie lebte einfach in ihrer eigenen Welt. Eine zu kleine, wie er fand. Und das stimmte ihn betrübt. Wenn er so über die Menschen in seiner Stadt nachdachte, verstand er vieles nicht. Sie schienen alle so kontrolliert und langweilig. Blieb ihnen denn Raum, um zu leben? Sicher nicht so, wie er es tat.

    Er wusste, das hatte mit dem zu tun, was sie ihnen von klein an beizubringen versuchten. In den Schulen und auch daheim mussten Übungen praktiziert werden, die halfen, ausgeglichen zu sein. Wenn die Kinder nach dem Grund dafür fragten, bekamen sie die Antwort, dass dies außerordentlich wichtig sei, dass ihre mentale Gesundheit davon abhinge. Der Unterricht beinhaltete außerdem das korrekte Verhalten in der Gesellschaft. Es gab Regeln, und diese mussten für das Allgemeinwohl eingehalten werden. Dem einen fiel das leichter als dem anderen, doch Keylam empfand es als anstrengend und unnatürlich. Aber seine Eltern sollten stolz auf ihn sein, und so übte er fleißig und lernte, seine Emotionen zu kontrollieren. Doch sobald er sich mit seinem Freund traf, warfen sie alles über Bord und tauchten in ihre Fantasiewelten ein.

    Manchmal lagen sie stundenlang bloß unter einem Baum und betrachteten die Blätter, warteten, bis eines runterfiel. Die Art, wie es dem Boden entgegentänzelte, erfreute die beiden. Oder sie beobachteten Wolken und suchten Figuren in ihnen, malten sich Geschichten dazu aus. Und obwohl es für Kinder verboten war, schlichen sie sich ab und an über die Stadtgrenze hinaus. Die Ebenen übten eine immense Faszination auf sie aus und deren nächstgelegene Teile waren das einzige Gebiet, welches für die Städter als Naherholungszone galt, auch wenn es nur von den wenigsten so genutzt wurde. Die Stadt selber bot schon viele Grünzonen, außerdem waren die Ufer entlang der Flüsse ideal für ausgedehnte Spaziergänge und boten auch eine gewisse Infrastruktur. Anders als die Ebene, dort gab es nichts dergleichen, keine Häuser und kaum Bäume. Die beiden Jungen aber dachten weit darüber hinaus, betrachteten von weitem das imposante Gebirge und stellten sich vor, wie sie zusammen die Gipfel erklommen. Manchmal zog Keylam aber auch alleine los und streunte durch die Gegend, immer auf der Suche nach etwas Neuem und Fremden.

    Das Allergrößte für ihn war jedoch der Nachthimmel. Das Universum faszinierte ihn so immens, dass er alles darüber wissen wollte. Was er nicht in Büchern fand, fragte er seine Eltern, doch diese konnten ihm längst nicht alle Fragen beantworten. Nachts und manchmal auch tagsüber träumte er davon, in ein Raumschiff zu steigen und die unendlichen Weiten des Weltalls zu ergründen. Es zog ihn dorthin, wo nie ein Mensch vorher gewesen war. Er drängte seine Eltern, ihm ein Teleskop zu kaufen und zu seinem zehnten Geburtstag bekam er eines. Als die Nacht heraufzog, stellte er es voller Vorfreude auf und war dann enttäuscht, weil die Lichter der Stadt die Sicht trübten.

    »Können die denn nicht mal alles dunkel machen, damit man die Sterne besser sehen kann?«, hatte er seine Eltern gefragt. Sein Vater hatte nur gegrinst und Mutter die Augen verdreht.

    Aber was war daran so absurd? Vom Vater getröstet, erfuhr er von ihm von der Möglichkeit, die Sterne studieren zu können. Die Bedingung dazu war die Aufnahme an die Schule des Ratshofes. Dies weckte seine Neugier und brachte sein Herz zum Klopfen. Sein Ehrgeiz wurde geboren. Er würde alles tun, damit er an diese Schule durfte, denn längst nicht jedes Kind wurde dort angenommen, nur diejenigen, die einen schwierigen Test bestanden und über die richtige genetische Ausstattung verfügten. Außerdem wurde bei allen ein neurologischer Scan durchgeführt. Er bohrte seinen Eltern Löcher in den Bauch, wollte mehr über diese Lehrstätte wissen, was musste man tun, um angenommen zu werden, was für Fächer gelehrt wurden, ob die Lehrer alle Professoren waren, und was war man dann selbst, wenn man die Schulzeit beendete. All das klang faszinierend für ihn, wenn auch etwas sonderbar und schon bedrängte er seine Eltern mit den nächsten Fragen.

    Worin besteht der Test? Wird da nur die Intelligenz getestet oder auch anderes wie künstlerische Begabungen? Er dachte daran, dass er liebend gerne zeichnete und er wusste, dass er gut darin war. Nicht nur gut, er hatte ein außergewöhnliches Talent für räumliches Denken, gepaart mit einer erstaunlichen Kreativität. Und dann wollte er natürlich auch noch alles über die geforderte Genetik wissen und warum diese denn passen musste. Er empfand das als höchst unlogisch. Was hatte denn eine passende genetische Ausstattung damit zu tun, ob man geeignet für ein Studium war? Genau konnten es seine Eltern ihm nicht erklären, aber sie gaben ihm zu verstehen, dass es eben eine besondere Bildungsstätte für besondere Menschen war.

    Der aufgeweckte Junge erfuhr, dass der Ratshof gleichzeitig Schule und Regierungsgebäude war. Darin arbeiteten und lebten die Ratsmitglieder, und deren gab es zwölf. Sie waren die höchste Instanz und für die strategische Arbeit zuständig. Dem operativen Geschäft und ihnen direkt unterstellt, dienten die Kreatoren. Natürlich mussten seine Eltern ihm diese Wörter erst einmal erklären, aber er begriff schnell. Er erfuhr, dass jedes Ratsmitglied sein eigenes Spezialgebiet hatte. Sie beschäftigten eine große Anzahl von Assistenten, Sonderbeauftragten, Projektmanagern sowie eine ganze Horde an Wissenschaftlern, Professoren und Lehrern, Ingenieuren, Programmierern und anderen Forschungsarbeitenden, die alle selbst am Ratshof studiert hatten. Und viele von ihnen wohnten auch im Ratsgebäude.

    Er erfuhr, dass in der Schule des Rats zuerst ein Grundstudium angeboten werde und die Kinder im Schnitt zwölf Jahre alt waren, wenn sie aufgenommen wurden. Sie lebten fortan dort und sahen ihre Eltern nur zu besonderen Anlässen. Die Schule galt als außerordentlich streng und es gab einige, die den Druck nicht aushielten und wieder in eine allgemeine Einrichtung zurückkehrten. Auch dort konnten sie studieren, aber es war halt nicht dasselbe. Den Mädchen und Jungen, die es in den Ratshof geschafft hatten, stand nichts mehr im Wege, solange sie durchhielten. Beim Abschluss des Grundstudiums waren die meisten zwischen achtzehn und zwanzig Jahre alt. Danach folgte die Spezialisierung, welche auch Entwicklungszeit genannt wurde. Die Auswahl der Studienfächer war breit. Nur wer sich für Medizin entschied, musste die Schule wechseln und in die fast ebenso große Stadt Jatrika umziehen, denn dort befand sich die einzige Universität, welche Mediziner ausbildete.

    Ihn interessierte vor allem die Weltraumforschung, und er erfuhr, dass es unterschiedliche Fachbereiche gab; angefangen bei der Astronomie über Astrophysik und Exobiologie bis zur Quantenphysik und einigem mehr. Sein Vater, ein Ingenieur, der aber an einer anderen Universität studiert hatte, hatte sich immer für die Raumfahrt interessiert, deswegen erfreute es ihn, dass sein Sohn dieses Interesse mit ihm teilte. Seine Mutter, Lehrerin an einer Grundschule, erzählte ihm, dass auch sein Großvater schon im Ratsgebäude studiert habe. Da geriet Keylam ins Staunen und erfuhr, dass sein Großvater sogar in der Ausbildung zum Kreator gewesen war. Leider verstarb er früh, noch bevor er sein Studium hatte abschließen können.

    Ihn faszinierte, was ein Kreator tat. Diese höchst begehrenswerte Tätigkeit war nur wenigen zugänglich. Sie setzte ein jahrelanges zusätzliches Studium nach der Spezialisierung heraus, außerdem einige Jahre praktische Arbeit am Ratshof. Die meisten späteren Kreatoren waren über vierzig, wenn sie promovierten. Die Voraussetzungen, überhaupt in das Ausbildungsprogramm aufgenommen zu werden, waren enorm. Nur Bestnoten waren gefragt, des Weiteren wurde neben hoher Intelligenz auch eine überdurchschnittliche Kreativität vorausgesetzt und, was recht speziell war, von den Kreatoren wurde verlangt, dass sie besonders empathisch waren. Dieser Aspekt bewirkte es, dass selbst unter potentiellen Genies nicht viele für diese Tätigkeit infrage kamen. Das Studium umfasste mehrere wissenschaftliche Gebiete, denn der Posten erforderte ein breites und tiefes Wissen. Kreatoren waren innovative und kreative Erfinder, direkt dem Rat unterstellt, die in unzähligen Projekten mitarbeiteten und für das Wohlergehen der Zivilisation und ihre Zukunft zuständig waren. Schließlich war eine langjährige Erfahrung als Kreator die ideale Voraussetzung, um später einmal in den Rat aufgenommen zu werden.

    Seine Eltern fanden, dass er das Talent und den Forscherdrang hätte, um Kreator zu werden. Sie sähen es in seinem Verhalten, seiner Kreativität und an seinem Wissensdurst, sagten sie ihm schon früh. Er jedoch gähnte nur und meinte, dass klinge ihm zu anstrengend:»Da habe ich ja keine Zeit mehr zum Träumen.«

    Er dachte viel über die Schule nach und hatte sich sogar das Gebäude von Nahem angesehen. Es war das markanteste von allen, lag leicht erhöht in der Mitte der Stadt. Der Architekt hatte dem Bauwerk einen ganz speziellen altertümlichen Charme verliehen. Es verfügte über dreizehn große Türme. Ursprünglich waren es nur zwölf gewesen, doch eines Tages kam ein dreizehnter dazu. Niemand wusste warum. Zwölf waren es, weil die zwölf Ratsmitglieder darin wohnten und arbeiteten. Die Kuppeln der Türme bestanden aus Glas, jedoch war es unmöglich, hineinzusehen. Er wusste es, denn er hatte es versucht. Enthusiastisch hatte er sein Teleskop darauf gerichtet und geknickt festgestellt, dass nur eine Spiegelung zu sehen war.

    Und nun war es soweit, mit etwas Glück würde ihn diese Schule aufnehmen. Am gestrigen Tag hatte er den Test absolviert. Die vielen Fragen und Aufgaben hatten ihn überrascht. Zum Teil empfand er sie als so simpel, dass er darüber nachdachte, ob er sie wohl falsch verstanden hatte. Dann gab es aber auch welche, an denen er zu beißen gehabt hatte. Der Test dauerte einen Tag und außer ihm waren noch etwa hundert andere Kinder anwesend. Tags darauf fanden der neurologische Scan und der Gentest statt. Dazu musste er mit seinen Eltern nach Jatrika fliegen, weil ja dort die Hochburg der Medizin war. Diese Tests kamen ihm rätselhaft vor. Zu gerne hätte er gewusst, wozu sie dienten. Als er die Neurologen danach fragte, sagten sie ihm, dass sie anhand seiner neuralen Hirnstruktur feststellen konnten, ob er als Kreator in Frage käme. Als er wissen wollte, warum sie das jetzt schon testeten und woran man es sehen würde, meinten sie, das würde er nicht verstehen, er sei noch zu jung dafür.

    Frühmorgens war er mit seinen Eltern in den Gleiter gestiegen, auf direktem Weg ins Institut geflogen und schon zwei Stunden später war alles vorbei. Von der Stadt hatte er kaum etwas gesehen. Er verpasse nichts, meinten seine Eltern. Sie sei groß, hektisch und die Menschen dort seien ein bisschen sonderbar. Und so kam es, dass sie kurz darauf schon wieder im Gleiter auf dem Weg zurück saßen.

    Die letzten zwei Jahre hatte er damit verbracht, davon zu träumen an dieser Schule aufgenommen zu werden, um Ingenieur, wie sein Vater, oder vielleicht sogar Astronom zu werden. Jetzt, wo es Realität werden mochte, plagten ihn Sorgen. Ihm war vorher nicht bewusst gewesen, was es hieß, so jung von daheim wegzugehen und seine Eltern und den besten Freund verlassen zu müssen. In einem halben Jahr wäre es schon so weit, kurz vor seinem zwölften Geburtstag.

    Ist das dann der Abschied von der Kindheit?, fragte er sich. Seine Eltern trösteten ihn, als er diese Sorgen vorbrachte, und versuchten, ihm klarzumachen, dass es dort viele Gleichaltrige gab und dass manch einer sicher gerne mit ihm befreundet sein würde. Darauf erwiderte er, dass es niemanden wie seinen besten Freund gebe. Nur er würde verstehen, wie er denke. Seine Eltern lächelten milde und meinten, es werde schon alles gut werden. Aber er war sich da nicht so sicher. Insgeheim hoffte er, dass sein Freund ebenso die Prüfung machen konnte und aufgenommen würde. Aber vielleicht machte er sich die vielen Sorgen ja umsonst. Es gab ja auch die Möglichkeit, dass er den Test nicht bestanden hatte.

    Der Gleiter setzte zur Landung in Evresia an und er spürte das Vibrieren der Motoren und das leichte Ruckeln beim Landen. Als sie am Morgen aufgebrochen waren, hatte er vom Flug nicht viel mitbekommen. Draußen war es dunkel gewesen und er noch im Schlafmodus. Jetzt war er enttäuscht, dass es schon vorbei war. Zu gerne wäre er noch einmal über die faszinierenden Landschaften geflogen.

    »Keylam? Kommst du? Wir sind gelandet. Los, hopp du Träumer. Aufstehen!« Sein Vater löste den Sicherheitsgurt und zerzauste ihm die dunkle Mähne. Als niemand hinsah, schnitt er ihm eine Grimasse und grinste ihn an. Keylam lachte, stand auf und folgte seinem Vater nach draußen.

    Achtzehn Monate später …

    Wie konnte so etwas nur geschehen? Wie konnte es so weit kommen? Das hätte man doch früher merken müssen? Waren denn die Menschen damals so anders als jetzt? Schwer nachvollziehbar. Es musste so gewesen sein, sonst wäre es nicht derart ausgeartet, und schon gar nicht wären so viele neue Gesetze und Regeln aufgestellt worden. Die technische Entwicklung war zu rasant gewesen. Sie hatte die Menschen überholt, ja regelrecht überrollt. Es hatte ihren Verstand infiltriert und sie verändert. Es geschah nicht über Nacht und das war ja das Heimtückische. Es schlich sich hinterrücks an und benebelte ihre Sinne. Einer nach dem anderen fiel der Überforderung zum Opfer. Einige wurden wahnsinnig und liefen Amok, andere brachen zusammen. Es war wie ein virtueller Virus, der alles lahmlegte. Innerhalb von einem Jahrzehnt.

    »Keylam! Warum beantwortest du meine Frage nicht? Träumst du schon wieder?« Die markante tiefe Stimme des Lehrers und das leise Gekicher seiner Klassenkameraden holten ihn abrupt aus seiner Gedankenwelt. Erschrocken sah er nach vorne. »Entschuldigung, wie lautete Ihre Frage?« Nochmals ertönte leises Gelächter und verstohlene Blicke wurden ausgetauscht.

    »Junger Mann, du befindest dich im Geschichtsunterricht, solltest du das nicht mitbekommen haben.«

    Keylam räusperte sich. »Es tut mir leid. Ich habe mir Gedanken zu Ihren Erläuterungen gemacht und bin dabei ein wenig abgeschweift. Ich hab mich gefragt, warum man die Schuld in den Emotionen gesucht hat, wo doch genau die das Menschsein ausmachen.«

    Der Geschichtslehrer war es schon gewohnt, dass der junge Schüler, der sich immer in die hintere Bankreihe setzte, nur schwer zufriedenzustellen war. Er fragte sich, warum er nicht vorne bei den Strebern saß.

    »Wie wir gelernt haben, wütete in der Vergangenheit ein Krieg«, antwortete er ihm, »den man kaum so nennen konnte, den er war anders als alle anderen Kriege, war sozusagen ihr Gegenteil. Subtil und infiltrierend forderte er global seinen Tribut. Wirtschaftskrisen taten das ihre dazu. Die Angst hatte die Menschen immer mehr im Griff. Der Verlust ihrer Arbeitsstelle und der Druck der Gesellschaft bedrohten ihre Existenzen und stießen sie in Abwärtsspiralen. Schwere psychische Erkrankungen und die Sucht nach Drogen ließen viele Menschen Dinge tun, die sie im Normalzustand nie getan hätten. Die Bevölkerung schrumpfte.« Der Lehrer hielt inne, bemerkte das aufleuchtende Signal am Pult des Schülers und auf seinem Monitor vor ihm. »Keylam, was ist?«

    »Können Sie uns genauer erläutern, warum die Bevölkerungszahl geschrumpft ist?«

    Der Lehrer hielt sich die Hand vor den Mund und räusperte sich dezent. »Nun gut, du greifst im Thema zwar vor, aber wenn wir schon dabei sind. Ich muss etwas ausholen, damit dieser Sachverhalt verständlich wird.«

    Keylam rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum, war jedoch aufs Höchste konzentriert.

    »Die Technik hatte Überhand gewonnen. Sie war allgegenwärtig und anders als je zuvor nicht mehr aus dem Leben jedes Einzelnen wegzudenken. Ihre Abhängigkeit war den Menschen zwar bewusst, doch ein Schritt zurück schien nicht vorstellbar. Ähnlich wie heute waren ihr Alltag und ihr Berufsleben von Technik umgeben. Sie steuerte und kontrollierte jede ihrer Taten, vereinfachte ihr Leben massiv. Außerdem waren die Menschen in den Industrieländern des einundzwanzigsten Jahrhunderts süchtig nach dem Konsum von Gütern aller Art. Ihnen war nicht bewusst, dass sie ihren Wohlstand zu Lasten anderer lebten. Ohne nachzudenken hielten sie sich Sklaven für ihre kaum zu befriedigenden Bedürfnisse. Weit weg zwar, damit sie sie nicht sehen mussten, aber voller Rücksichtslosigkeit. Das dauerte Jahrzehnte, bis sich diese Menschen zu wehren begannen, denn auch sie wollten im Wohlstand leben. Zusätzlich waren die Menschen geblendet und irregeführt von der Unterhaltungsindustrie und den vielfältigen Angeboten der globalen Vernetzung, die fast jeden Traum wahr werden ließen. Vergnügungssüchtig und getrieben vom Wunsch nach Ablenkung frönten sie den technischen Möglichkeiten und der pausenlosen Unterhaltung bis in ihr Verderben. Langsam aber unaufhaltsam infiltrierte die Reizüberflutung ihren Verstand. Dazu kamen immer höhere Anforderungen ökonomischer Art, der Leistungsdruck stieg. Diejenigen, die diesem zunehmenden und immer allgegenwärtigeren Druck nicht zum Opfer fielen, versuchten, dem Alltag zu entfliehen, und lebten ein zweites Leben in einer virtuellen Welt. Leider mit der Konsequenz, dass ihr Eskapismus verheerende Auswirkungen auf ihre Psyche hatte, was sich dann wiederum in ihren Leistungen widerspiegelte. Sie drehten sich im Hamsterrad.« Der Lehrer schaute in die Gesichter seiner Schüler. Einigen war anzusehen, dass Geschichte nicht zu ihren Lieblingsfächern gehörten, andere waren fasziniert, so auch Keylam.

    »Ihr könnt euch vorstellen, dass das eine zum anderen geführt hat. Immer mehr Menschen erkrankten psychisch, konnten nicht mehr arbeiten und belasteten dadurch diejenigen, die versuchten, das Konstrukt aufrechtzuhalten. Die Nerven lagen blank. Es kam zu Amokläufen und Terroranschlägen bis hin zu Völkerfluchten. Die Politiker der damaligen Staaten waren ratlos, überfordert und erschöpft. Und dann geschah etwas, von dem man bis jetzt nicht genau weiß, wer es ausgelöst hat und warum.«

    Aus der vorderen Reihe ertönte es: »Der nukleare Krieg und die Vergeltung?«

    Der Lehrer nickte. »Richtig. Die unsagbare Tragödie, die so viele das Leben kostete und bis heute ganze Kontinente unbewohnbar macht, auch wenn die bewohnbare Fläche schon durch die klimatische Veränderung stark reduziert war. Diejenigen, die von der Atomkatastrophe verschont wurden, überlegten sich, was die Menschheit machen müsste, damit so etwas nie wieder passieren würde. Sollte die Menschheit überleben, so musste sie aus den Fehlern lernen. Am Anfang des Lernprozesses stand dabei die Frage, warum Menschen Böses tun und wie Kriege entstehen. Die klügsten Köpfe widmeten sich der fundamentalen Frage, warum die Menschen nicht friedlich miteinander leben konnten. Und immer wieder stellte sich als der gemeinsame Nenner allen Übels heraus: die Emotionalität des Menschen. Dabei sind Gefühle durchaus wichtig, wenn nicht sogar essentiell. Die Angst kann ein Lebensretter sein. Wut hilft, Mut zu fassen, sich zu wehren, wenn Ungerechtigkeit herrscht. Und die Liebe? Sie ist lebensspendend, kann aber zugleich vernichtend wirken. Doch der Mensch war zu sehr von seinen Emotionen geleitet, und dadurch prädestiniert für eine Reizüberflutung. Und so kam es, dass deswegen strenge Maßnahmen getroffen werden mussten. Richtlinien, wie Technik genutzt werden sollte, und wer sie nutzen durfte, wurden formuliert. Mehr dazu lernen wir zu einem späteren Zeitpunkt. Um auf deine Frage zurückzukommen, Keylam, Gewalt und Verbrechen waren oft Delikte infolge einer falsch gelebten Emotion. Emotionalität war letztlich die Wurzel allen Übels. Und irgendwann kam ein kluger Mann auf die Idee, dass die Gefühle in die Schranken zu weisen waren, da sie das Handeln zu sehr beeinflussten. Der Mensch musste den Status des Sklaven seiner eigenen Irrationalität überwinden lernen.«

    Keylams Blick konzentrierte sich, angestrengt überlegte er und fragte: »Bitte erzählen Sie uns, wie es weiterging, nachdem dieser Mann auf diese Idee gekommen war. Wie wurden diese neuen Regeln umgesetzt?«

    »Deren Realisierung benötigte viel Zeit. Zuerst waren es nur Randgruppen, die sich darauf spezialisierten, vernunftgesteuert zu leben. Sie trainierten ihren Verstand, bis es ihnen leicht fiel, rational auf jede Situation zu reagieren. Schnell galt als besonders angesehen, wer dieses überlegte Verhalten an den Tag legte. Bald kam es dazu, dass schon Kinder in den Vorschulen darauf trainiert wurden, sich angepasst, rational und korrekt zu verhalten. So florierten Schulen und Kurse, die diese Techniken unterrichteten. Gurus auf diesen Gebieten sprossen wie Pilze aus dem Boden. Aber nicht jeder dieser selbsternannten Spezialisten, war wirklich qualifiziert, und so scheiterte dieses Experiment schnell und kläglich, da immer mehr Kinder und dann auch ihre Eltern gegen die Konditionierung aufbegehrten. Da entschloss man sich, sanftere Methoden anzuwenden. Und diese habt ihr ja selber erlebt. Ihr durftet Kind sein und spielen, wie es euch gefiel, musstet jedoch einen zurückhaltenden Umgang mit euren Gefühlen in der Öffentlichkeit erlernen. Durch die Gewöhnung an unterschiedliche Entspannungstechniken und Meditationen habt ihr das alle verinnerlicht. Bereits in der Grundschule hat man euch sachte in den Zenonismus, die Lehre der emotionalen Selbstbeherrschung, eingeführt. Im nächsten Semester taucht ihr dann tiefer in diese Thematik ein. Ich weiß, Keylam, du möchtest mehr wissen. Aber für heute ist Schluss. Was steht denn jetzt auf eurem Schulplan?«

    »Biologie«, ertönte es aus der letzten Reihe.

    Seit knapp einem Jahr besuchte Keylam Baine die Ratsschule. Die Anfangszeit war hart gewesen und die Umstellung fiel ihm noch immer schwer, und es tröstete ihn auch nicht, dass es anderen genauso ging. Oft zog er sich zurück und hing seinen Gedanken nach. Er hatte ein eigenes Zimmer zugewiesen bekommen, das man durchaus als großzügig bezeichnen konnte. Alle Räume der Auszubildenden lagen auf der Rückseite des Ratsgebäudes, nicht mit Sicht auf die Stadt, sondern auf die Ebenen hinaus. Bei klarem Wetter konnte man das Gebirge der Erkananden dahinter erkennen. Ansonsten bot dieser Blick wenig Abwechslung. Der Horizont war weit und die Farbpalette nüchtern. Dies sollte beruhigend auf das Gemüt wirken. Die meisten Zimmer verfügten über einen kleinen Balkon, ausgestattet mit einem Stuhl. Die Inneneinrichtung war spartanisch, damit die Bewohner sich auf das Wesentliche konzentrierten. Ablenkung sei kontraproduktiv, lautete die Begründung. Ein Bett, ein Schrank und ein Schreibtisch mussten genügen. Die tägliche Körperpflege wurde in separaten gemeinschaftlichen Baderäumen vollzogen.

    Anfangs weinte er sich manchmal in den Schlaf, doch allmählich ließ der Trennungsschmerz nach, und er suchte Trost im Wissen. Es gab kein Fach, das ihn nicht interessierte. Er sog Informationen wie ein trockener Schwamm auf und vergaß kaum etwas. Wenn er sich nicht in sein Zimmer zurückzog, saß er oft träumend draußen unter den großen Bäumen oder er erkundete die unzähligen Gemeinschaftsräume des Ratsgebäudes. Da gab es Schweigezimmer, um zu lernen, Meditationsräume, Gymnastikhallen, Labore, um an Projekten zu arbeiten, Ateliers für die Fortgeschrittenen und Unterhaltungsräume. Diese waren besonders beliebt, denn dort konnten die längst abgeschlossenen Projekte der Studienabgänger und Kreatoren studiert werden. Dreidimensional wurden Simulationsprojektionen präsentiert, die die Studenten staunen und von denen sie sich inspirieren ließen. Die Erfahrungen unterstützten die Entstehung eigener Ideen, die sie in den Entwicklungslaboren festhielten und ausarbeiteten. Manchmal saßen sie unter einem Baum im großen Hof, schlossen die Augen und träumten von ihrer Zukunft oder sie diskutierten in Gruppen auf den Wiesen, wobei die verschiedenen Klassenstufen sich vermischten und jeder von jedem lernte. Es war egal, ob die jungen Frauen und Männer Anfänger oder schon weit fortgeschritten waren, allen zukünftigen Architekten, Geologen, Biologen, Astro- und Quantenphysikern, Programmierern, Ingenieuren, Konstrukteuren, Mathematikern oder Kybernetikern wurde aufmerksam zugehört. Und auch in den Laboren entstanden immer wieder Diskussionen. Dort hatten sie die Möglichkeit, ihre Ideen zu skizzieren und via Projektionen allen anderen zu zeigen. Gelegentlich kam ein Gelehrter dazu, der dann stillschweigend den Gesprächen lauschte und allenfalls ab und an ein paar Anregungen hineinwarf.

    Ein Raunen ging durch die Klasse. Das Summen, welches den Schulschluss des Tages verkündete, war ertönt, doch Keylam stellte noch immer Fragen. Die Biologielehrerin hatte Mitleid mit den Schülern, die schon versessen darauf waren, nach draußen zu gehen: Es war ein herrlich, milder Tag und endlich schien wieder die Sonne, nachdem sie tagelang hinter einer grauen, schlechtgelaunten Wolkendecke gefangen gewesen war. Die Lehrerin schlug vor, dass alle, die gehen wollten, den restlichen Tag genossen, aber wer sich fürs Bleiben entscheide, sei herzlich willkommen, um seinen Wissensdurst gemeinsam mit Keylam zu stillen. Eine Minute später waren Keylam und die Lehrerin allein im Klassenraum.

    »Nun gut, du wissbegieriger Schüler. Deine letzte Frage betraf die natürliche Fortpflanzung der Menschen?«

    Er nickte und sah sie mit großen Augen erwartungsvoll an. Liv Mertens war eine geduldige Lehrerin anfang fünfzig. Zu Unterrichten war für sie Berufung. Wie der Großteil der Erwachsenen gemäßigt in ihrem Verhalten, strahlte sie jedoch eine mütterliche Zuneigung aus, die sie bei allen Schülern beliebt machte. Keylam genoss die Stunden bei ihr, fühlte er sich doch irgendwie geborgen und beschützt. Ihre weiblichen Rundungen wirkten beruhigend auf ihn, und manchmal fühlte er gar das Bedürfnis, sich von ihr umarmen zu lassen. Berührungen zwischen Lehrern und Schülern waren aber nicht erlaubt, einzig ein Handauflegen auf die Schulter, kam in gewissen Situationen vor. Sie spürte, dass sich in Keylam gerade viel bewegte, und hatte Verständnis und Mitgefühl. Sie bewunderte seinen Wissensdurst, wusste aber, dass er über ein sensibles Naturell verfügte. Was sie manchmal daran zweifeln ließ, ob dies die richtige Schule für ihn war. Es war nicht in ihrem Sinne, einen Schüler zu bevorzugen, sowas hatte sie nie getan, doch bei Keylam fiel es ihr schwer, ihm nicht zu viel zu helfen. Sie hätte ihn am liebsten vor der sterilen Realität geschützt und seine natürliche Entwicklung zugelassen. Doch das durfte sie nicht. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm das Wissen, welches er benötigte, zu vermitteln und so für ihn da zu sein.

    Auf seine Frage erklärte sie ihm, dass durch die Kontrolle der Gefühlswelt die Libido zu kurz kam. Wie sich die Menschen fortpflanzten, wusste er da schon. Kein einfaches Thema für Menschen, die ihre körperlichen Bedürfnisse hinter die der Ratio zurückstellen mussten, jedoch enorm wichtig. Denn die jungen Heranwachsenden mussten wissen, was sie nicht tun sollten.

    Keylam erfuhr, dass Paare immer weniger am Geschlechtsakt interessiert waren und somit auch nicht an der Fortpflanzung. Den Zenonisten wurde sogar von der körperlichen Liebe abgeraten, denn sie verhinderte rationales Denken, hieß es. Die logische Konsequenz war, dass immer weniger Frauen schwanger wurden. Um die Geburtenrate stabil zu halten, waren Schwangerschaften länger schon künstlich erzeugt worden, später ging man einen Schritt weiter und der Nachwuchs wurde dank ausgeklügelter technischer Errungenschaften in künstlichen Gebärmüttern ausgetragen. Einerseits war auf diese Weise die Bindung zum Kind weniger intensiv, was die Kontrolle der Emotionen leichter machte, andererseits konnte die Entwicklung des Fötus besser überwacht werden. Fehlentwicklungen wurden rechtzeitig erkannt und Erbkrankheiten gab es sowieso keine mehr, denn das wurde schon vor der Konzeption ausgeschlossen. Paare, die nicht völlig kompatibel waren oder genetische Defekte aufwiesen, durften kein gemeinsames Kind haben.

    Keylam stimmte dieses Wissen nachdenklich und ein wenig traurig. Er bedankte sich und ging nach draußen. Ihm war nicht nach Gesellschaft und so setzte er sich in den Schatten eines Baumes, zog die Knie unters Kinn und beobachtete die anderen Schüler von weitem.

    3

    Herr Murati, entschuldigen Sie, der Ratsälteste hat nach Ihnen verlangt. Er ist in Besprechungsraum drei.«

    Rawiri Murati, nicht besonders groß gewachsen und mit der Tendenz in die Breite zu gehen, trug meistens und auch heute dunkle Kleidung. Sein halblanges schwarzes Haar fiel ihm in fettigen Strähnen ins Gesicht. Genervt blickte er von seiner Arbeit auf und nickte dem Assistenten zu. »Ich komme.«

    Auf dem Weg zum Besprechungsraum eilte der Politologe durch die Gänge, fand aber noch Zeit, die Leute zu betrachten, die ihm entgegenkamen.

    Langweilig, zu mager, zu dick, zu feminin, bieder, auch langweilig, zu alt, ach herrje, zu klein, viel zu alt …

    Bei jedem und jeder fand er, etwas auszusetzen. Hätte ein überzeugter Zenonist in seinen Kopf reinsehen können, es hätte einen Kurzschluss seiner Synapsen ausgelöst. Rawiri Murati war anders und niemand außer ihm wusste es.

    »Ratsältester, wie geht es Euch an diesem schönen Tag? Ihr ließet mich rufen? Wie kann ich behilflich sein?«

    »Setzen Sie sich, Herr Murati. Danke für Ihr schnelles Kommen.« Das frisch gewählte Staatsoberhaupt setzte sich ihm gegenüber und betrachtete ihn ausführlich. »Mein Vorgänger hat immer in den höchsten Tönen von Ihnen gesprochen.«

    Murati setzte ein feines Lächeln auf, das eine beeindruckende Zahnlücke entblößte und verschränkte seine Hände im Schoß. »Es freut mich außerordentlich, dies zu hören. Seit Euch gewiss, dass meine Loyalität ebenso Euch gehört.«

    Der Ratsälteste nahm einen tiefen Atemzug. »Dann gehe ich davon aus, dass Sie Ihren Posten behalten möchten?«

    Murati zog die Augenbrauen hoch. »Entschuldigt, ich bin davon ausgegangen, dass dies nicht zur Diskussion steht.«

    »Sie haben den Rat stets vorzüglich beraten, und ich würde nur ungern auf diese Dienste verzichten. Ich bin jedoch nicht der alte Ratsälteste. Es wird Veränderungen geben. Aber keine Sorge, Herr Murati, es liegt nicht in meinem Bestreben, Prozesse zu ändern, die reibungslos funktionieren.«

    Murati rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum und lehnte sich dann nach vorne. »Ratsältester, es ist mir ein wenig unangenehm, jedoch möchte ich mein Anliegen gleich auf den Tisch bringen. Ihr Vorgänger hat in Erwägung gezogen, mich als künftiges Ratsmitglied für die Wahlen aufzustellen.«

    Bevor Murati weitersprechen konnte, hob der Ratsälteste wissend die Hand und nickte. »Ich bin im Bilde. Lassen Sie uns schauen, ob unsere Zusammenarbeit Früchte tragen wird. Mehr gibt es im Moment nicht zu sagen. Alles Weitere und die neuen Daten für die gemeinsamen Sitzungen bekommen Sie von meinem Assistenten. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Herr Murati.«

    Murati, etwas überrumpelt, murmelte ein »Ebenfalls« und verließ den Besprechungsraum.

    Der an Selbstüberschätzung leidende Politologe war ein wenig in seinem Stolz gekränkt. So hatte man ihn noch nie behandelt. Dem ehemaligen Ratsältesten war er ein enger Vertrauter gewesen, den er stets ohne Schwierigkeiten von seiner Meinung hatte überzeugen können. Ja, der Mann hatte sich wie ein Kind lenken lassen, konnte man sagen. Und da die weiteren Ratsmitglieder froh waren, wenn sie in ihren eigenen Gärtchen nicht zu sehr gestört wurden, war es ihnen recht, wenn ein anderer die meisten Entscheidungen fällte. Doch nun schien ein neuer Wind zu wehen. Das fühlte sich nach einer Herausforderung an. Aber Murati fühlte sich dem gewachsen. Doch zuerst brauchte er etwas, dass ihm wieder ein gutes Gefühl gab. Entschlossen kehrte er in seinen Arbeitsraum zurück und wählte einen seiner Kontakte an.

    »Wie sieht’s aus? Hast du was für mich, für heute Abend?«

    »So kurzfristig? Ich muss mal schauen … Moment. Ja, du hast Glück. Ich hab da was Passendes, es wird dir gefallen. Zehn Uhr, am üblichen Ort. Aber komm nicht wieder zu spät, in Ordnung?«

    »Ich werde da sein.«

    Murati gab den vereinbarten Sicherheitscode ein und blickte sich nervös um. Niemand hatte ihn in seiner schwarzen Kleidung in der Dunkelheit gesehen. Die Tür des Appartements am Rand der Großstadt öffnete sich. Gedimmtes Licht und dezente Musik erfüllten den Raum dahinter. Genau mein Geschmack, dachte sich Murati und betrat das möblierte Wohnzimmer. Gespannt darauf, was ihn erwartete, blickte er um sich, konnte aber niemanden entdecken. Die Zeit stimmte; er war weder zu früh noch zu spät. Eine Seltenheit für ihn. Leicht angespannt zog er sein Jackett aus und legte es über die Couchlehne, dann setzte er sich und wartete. Auf dem Salontisch vor ihm standen zwei Gläser und eine Flasche. Er musste nicht daran riechen, um zu wissen, dass es ein illegales Getränk war. Er grinste und schenkte sich ein. Gerade als er genüsslich einen Schluck nehmen wollte, ging die Türe des Nebenzimmers auf.

    Endlich, dachte er. Seine Augen weiteten sich bei dem sich ihm bietenden Anblick. Sein Puls erhöhte sich und in ihm drin begann es angenehm zu kribbeln.

    »Gefällt dir, was du siehst?«

    Murati stand auf und holte tief Luft. »Und ob.«

    »Dir wird auch gefallen, was ich mit dir vorhabe.«

    Muratis Herz schlug höher. Er öffnete den obersten Hemdknopf mit leicht zitternder Hand und trat auf das Objekt seiner Begierde zu.

    4

    Keylam Baines vierundzwanzigster Geburtstag nahte. Das Erlebnis seiner Expedition in den Ebenen lag nun schon vier Jahre zurück. Er hatte sich zu einem gefragten Mann entwickelt, der zwar etwas unnahbar und zuweilen ein wenig egozentrisch wirkte, doch immer verbindlich und höflich im Umgang mit seinen Mitmenschen war. Seine Kommilitonen schätzten seinen Intellekt und baten ihn oft um Hilfe. Sie wussten aber, dass sie ihm Freiräume lassen mussten. Er haderte oft mit sich und der ganzen Welt und spürte nicht immer, was ihm guttat und was nicht. Es fiel ihm schwer, zu erkennen, wer er war. Immer wenn er etwas fahrig reagierte, war dies das Zeichen, dass er Abstand und Ruhe brauchte. Dass in seinem inneren Kriege tobten, denen diese Unrast geschuldet war, wusste niemand.

    Er sehnte sich danach, normal zu sein, so dass niemand irgendwelche Erwartungen in ihn setzen konnte. Ein gewöhnlicher und unauffälliger Mann, das wäre sein Ideal gewesen. Ein Mensch von durchschnittlicher Intelligenz, mit alltäglichen Interessen und Freizeitbeschäftigungen, mit vielen Freunden und einem simpleren Gemüt. Dann wäre das Leben bestimmt einfacher zu ertragen, dachte er sich. Stattdessen zerbrach er sich über alles den Kopf. Sein introvertiertes Wesen war mit vielen Situationen schlichtweg überfordert. Zu gerne hätte er sich manchmal unsichtbar gemacht, um seine Mitmenschen ungestört beobachten zu können. Hätte von ihnen lernen können, welches Benehmen und Verhalten angebracht war.

    Er war noch immer ein Träumer, wie er es schon als Kind gewesen war, jedoch genügte es ihm jetzt nicht mehr, nur zu träumen. Vermehrt verspürte er den Wunsch, diese Träume zu realisieren. Aber er hatte so viele davon, dass er gar nicht wusste, wo anfangen. Das machte ihn instabil und nervös. Und manchmal empfand er auch Wut. Nie hatte er dieses intensive Gefühl bei anderen beobachtet. Ihm war beigebracht worden, dass Wut etwas Negatives war; eine primitive und gefährliche Emotion, die man nicht empfinden solle. Spüre man erste Anzeichen, müsse unverzüglich dagegen vorgegangen werden. Doch auch die vielen Entspannungsübungen und Meditationen halfen ihm dann nicht. Und so hatte er schon früh ein Ventil dafür gesucht. Und gefunden. Er ging nach draußen und rannte. Er rannte

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