Boston Combat: Stories
Von Michael Kiesen
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Über dieses E-Book
Michael Kiesen hat amerikanisches Leben auch in den Romanen "Freunde in Manhattan" und "Hollywood Boulevard" dargestellt.
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Hollywood Boulevard: Roman Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenFreunde in Manhattan Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
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Boston Combat - Michael Kiesen
Boston
Boston Combat
Zunächst etwas aus seinem Alltag.
„Jetzt fahren wir nach Roxbury, ein gefährliches Schwarzenviertel. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich fahre fast jeden Tag hin, sie kennen mich dort, für mich ist es nicht gefährlich. Sie werden auch dir nichts tun."
Angst empfand ich nicht. Ich glaubte, was er sagte. Allenfalls bildete sich eine ganz leichte Spannung in mir, eine Abwehrhaltung, als ob man in dichten Nebel trieb. Diese Zeitungsmeldung vor ein paar Jahren … eine weiße Frau, die sich hier in ein Schwarzenviertel begeben hatte und mit Benzin übergossen und angezündet worden war … Ich sprach ihn auf den Vorfall nicht an.
Um uns herum ein weites unbebautes Gelände, niedere Büsche, Gras, Steinbrocken, eine schmale gerade Straße führte hindurch.
Seine schlanken Hände am Steuer, die nackten muskulösen Unterarme, das blassblaue T-Shirt, der Kopf unbewegt, Seitenansicht, hellbraune Locken, in die Stirn gekämmt, Sonnenbrille, der Nasenrücken fast unmerklich gekrümmt, flacher Schnurrbart, ausgeprägtes Kinn, Bartstoppeln unterhalb der Wangen, am Hals.
Plötzlich befanden wir uns zwischen mehrstöckigen Wohngebäuden. In eine Seitenstraße, auf einen Parkplatz.
Wir hielten. Vor uns ein schwarz angestrichener Bau.
„Da muss ich rein. In den fünften Stock. Willst du mitkommen?"
Warum nicht? In seiner Begleitung. Ich bejahte. Wir stiegen aus. Er öffnete die hintere Tür des Kombiwagens. Er beugte sich ins Innere, zog zwei der vollgepackten hellbraunen Papiertragetüten zu sich her, hob sie an, stellte sie auf den Asphalt des Platzes. Er holte zwei weitere Tüten heraus, dann noch eine, ließ die Tür zufallen.
Der Wagen … da in dieser Gegend, wir im Haus … „Johnny, soll ich nicht lieber beim Wagen bleiben?"
„Wie du willst."
Er packte drei Tüten, bewegte sich auf das Gebäude zu. Er machte rasche kleine Schritte, der Rücken leicht gekrümmt von der Last. Er verschwand hinter einem Rundbogen, an dem vermutlich eine Vorhalle begann. Ich stand da, meinen Knirps in der Hand. Sollte ich Johnny helfen? Wenn wir uns nicht getroffen hätten, müsste er es auch alleine tun. Es war sein Job. Das Zeug war schwer … meine Bruchanlage …
Aber wie wirkte es auf ihn, wenn ich nur so herum stand? Meine gesundheitlichen Mängel wollte ich nicht erwähnen. Ich trat zu den beiden Tüten am Heck des Wagens, eine war ganz, die andere zu drei Vierteln gefüllt. Konservendosen waren darin, Milch in Pappbehältern, Orangen, Bananen, Schachteln, deren Aufdruck ich nicht näher ansah … Die dreiviertel volle Tüte hob ich an, sogar sie erschien mir sehr schwer. Johnny tauchte vor mir auf, ergriff zu meiner Erleichterung beide Tüten. Ich folgte ihm, vielleicht konnte ich ihm eine Tür aufhalten.
„Sie sind schwer", bemerkte ich.
„Ja. Aber ich bin daran gewöhnt."
Diese fünf Taschen in den fünften Stock… das konnte ich ihn doch nicht allein tun lassen … eine würde ich wohl verkraften … Und der Wagen, in dem die restlichen Tüten standen? Durch den offenen Rundbogen in einen Gang, der auf der anderen Seite des Gebäudes wieder ins Freie führte. Die Haustür in diesem Gang, an der Wand zur Rechten. Eine Art des Eingangs, wie ich sie von barocken Palästen kannte; und so etwas hier, nur bescheidener, nicht für Kutschen gebaut, nur für Fußgänger.
Die drei Tüten, die Johnny zunächst getragen hatte, standen neben der Tür. Er stellte seine Last ab. „Das alles in den fünften Stock?", fragte ich.
„Ja. Erst mal rüber zum Aufzug."
Ah, es gab einen Aufzug. Durch das Glas der Tür sah ich auf den plattenbelegten Boden eines Flurs. Ich öffnete die Tür, hielt sie auf. Johnny packte drei Taschen, eilte zu einer roten Tür neben einer Treppe. Er holte die beiden zurückgebliebenen Tüten, schleppte sie zu den anderen. Er drückte auf einen Knopf.
„Manchmal tut er’s nicht. Dann muss man alles nach oben tragen."
Er drückte noch einmal auf den Knopf.
„Der Wagen draußen. Geht das?", fragte ich.
„Ja, ja. Mach dir keine Sorgen!"
Hinter der roten Tür ein leichter Knall, ihre beiden Flügel trennten sich scheppernd, Licht brach hervor, in seinem Schein eine große Gestalt, ein junger Schwarzer, er sah mich an, seine Züge reglos, wie aus schwarzem Marmor gemeißelt, er ging zwischen uns hindurch. Johnny zog zwei Tüten in den Aufzug, ich eine, er die beiden letzten.
Johnnys Zeigefinger auf einem der Knöpfe. Eine gemächliche zuckelnde Fahrt nach oben. Ein starker Ruck, Stillstand, die Tür bewegte sich nicht … doch, nun wichen die Flügel voneinander. Drei Schwarze standen vor uns, ein Junge, ein ergrauter Mann und ein athletischer Typ, wohl Mitte zwanzig. Johnny zerrte zwei der Taschen über die Laufschienen der Tür. Die drei Leute kamen herein. Ich deutete auf die restlichen Tüten und bemerkte, die müssten auch noch raus; ich ergriff zwei, zog sie hinter mir her, drängte mich an den Schwarzen vorbei. Johnny holte die letzte. Er zog nun drei Taschen auf dem Boden entlang, bog um eine Ecke des Flurs. Ich folgte mit zwei Tüten, machte es wie er. Die Wände hellgelb angestrichen, in größeren Abständen braune Türen, der Boden sauber. Offenbar kein Elendsquartier.
Johnny stand an einer offenen Tür, als ich wieder auf ihn achtete. Er sprach mit einer recht umfänglichen Schwarzen mittleren Alters. Ein Mann schob sich an ihr vorbei auf den Flur, nahm wortlos die beiden Tragetüten, die ich gebracht hatte, trug sie in die Wohnung. Die Frau lachte, Johnny lachte.
Er kam zu mir, wir gingen zurück. Die Tür des Aufzugs war offen. In der Kabine standen der ergraute Mann, der Junge, der athletische Typ, dessen Hand am Schalterbrett war. Wir traten in den Aufzug. Sie hatten auf uns gewartet. Johnny bedankte sich. Eine knappe gemurmelte Erwiderung des Athleten. Der Aufzug bewegte sich. Schweigen bis ins Erdgeschoss.
Die Schwarzen verließen vor uns den Aufzug. Wir folgten ihnen durch die Haustür. Sie gingen ohne Gruß zur Vorderseite des Gebäudes, wir nach hinten.
Der Wagen stand noch da, eine Scheibe war nicht eingeschlagen, die Reifen nicht aufgeschlitzt.
Wir stiegen ein. Johnny nahm das dünne Brett, an das ein Blatt geheftet war, die Liste der Kunden, die er aufsuchen musste. Er nahm einen Kugelschreiber, der zwischen uns auf der durchgehenden lederbezogenen Bank lag, führte sein hinteres Ende zwischen die Lippen, starrte auf das Papier. Er senkte den Kugelschreiber auf das Blatt, machte einen Strich, legte das Brett und den Stift weg.
Ich bemerkte, es sei nett gewesen, dass die drei Schwarzen im Aufzug auf uns gewartet hätten. Er bejahte beiläufig.
Er fuhr an, stieß rasch zurück, beschrieb auf dem fast leeren Parkplatz eine weite Kurve, dann vorwärts zur Straße. Geradeaus, nach rechts, nach links … Er hielt in einer stillen Straße, schlanke, nicht besonders hohe Laubbäume wuchsen aus den Gehwegen. Wie in Berlin. Hinter Vorgärten aneinandergebaute Backsteinhäuser mit Erkern. Wie in London.
„Warte! Ich bin gleich zurück."
Er stieg aus. Er klappte die hintere Tür hoch, hob zwei Tüten heraus, dann noch eine, schleppte alle drei in einen Vorgarten. Aus der Haustür trat eine Frau, rundliches Gesicht, dunkelbraune Haut, breite Lippen, krause Löckchen, langes schwarzes Gewand. Sie ließ ihn an sich vorbeigehen, folgte ihm.
Auf dem Gehweg ein alter Mann in einem dunkelgrauen Anzug mit Hut und eine junge Frau, die ein helles Kleid anhatte; Afroamerikaner, hellbraune Haut. Der alte Mann sagte etwas, die Frau verharrte, ging zögernd weiter, er nahm ihren Arm, drehte ihren Körper etwas. Er ließ sie los. Sie tappte langsam vor ihm auf das Haus zu, in dem sich Johnnny aufhielt. Die Blinde und der Alte gingen hinein. Gehörten sie zur Familie von Johnnys Kundin? Würde er den beiden jetzt begegnen? Was empfand er dabei? Mitleid? Unbehagen? Nichts?
Johnny erschien unter der Tür, bei ihm die ältere Afroamerikanerin. Lächelnd hob er zu ihr hin die Hand. Er ging schnell durch den Vorgarten. Er kam in den Wagen.
„Ich bin zwei Stunden zu spät dran. Sie hat sich nicht beklagt. Ich bin immer nett zu den Kunden, und sie sind nett zu mir. Er nahm das Brett mit der Liste, betrachtete sie. „Na, wohin gehen wir als nächstes?
Und so acht Stunden am Tag. Manchmal eine oder zwei Überstunden.
Auf einen solchen Tag hin eine Nacht wie die nun folgende.
Aus der künstlichen Kühle des Restaurants in die laue Luft der Spätsommernacht. Satt. Im Bauch ein Omelette und ein Bier, von Schlitz. Auf dem Gehweg der Tremont Street nach Westen. Jenseits der Fahrbahn der Park „Boston Common". Bläuliche runde Lichter unter den Kronen der Laubbäume. Die Wiesen fast leer, nur vereinzelte Gestalten erkennbar, Leute, die nichts verlieren konnten oder stark genug waren, sich nichts nehmen zu lassen.
Ich überquerte zwei Seitenstraßen. Stand schließlich an einer dritten. Sie führte zu meinem Hotel. Sollte ich mein Zimmer aufsuchen und mich hinlegen? Später noch ausgehen. In irgendein Tanzlokal. Es war Donnerstag, da herrschte wohl kein Gedränge. Aber dieses Omelette in mir. Ich musste noch eine Zeit lang umherwandern. Weiter auf der Tremont Street. Eine größere Kreuzung. Die Querstraße stieß südlich von hier in den „Combat", Bostons Reeperbahn. Dorthin? Eine Weile zwischen den Sexshops, Pornokinos, Nachtlokalen hindurch, mich eingliedernd in den Reigen der Neugierigen. Ich bog also ab.
Am Beginn des „Combat" links eine Bar, die ich bisher bei meinen Rundgängen nicht bemerkt hatte. Beide Flügeltüren des Eingangs offen. Musik floss heraus. Vielleicht ein Platz mit netten Leuten, an dem man in Frieden ein Bierchen trinken konnte. Mehrere Stufen hinauf in einen langgestreckten Raum. Er wurde fast ganz von einer Theke ausgefüllt, die ein großes Rechteck umschloss, das durch ein halbhohes flaschengefülltes Regal in zwei Hälften geteilt wurde.
Das Regal war an einer Stelle um ungefähr zwei Meter unterbrochen. Dort tanzte ein junger Mann, er trug nur einen hellblauen Stoffstreifen über Geschlecht und Hüften. Ich sah auf die Leute, die an der Bar saßen oder an den Wänden lehnten. Fast nur Männer, einige Frauen in Paaren.
In meiner Nähe ging ein Blonder auf einen Afroamerikaner zu und umarmte ihn mit einem Aufschrei. Ich machte einen Schritt rückwärts, schaute noch einmal auf den Tänzer. Hellbraune Locken über einem schmalen regelmäßigen Gesicht, flacher Schnurrbart; Beine, Becken, Brustkorb, Schultern, Arme in zuckender Bewegung entsprechend dem stoßenden Rhythmus der lauten Musik … vielleicht war er in Jazzballett ausgebildet. Seine Gestalt muskulös, harmonisch … wie ein griechischer Athlet … der Diskuswerfer von Myron … ja, es schien mir, als sei er dem Diskuswerfer ähnlich, vor dem ich in diesem kleinen runden Raum der vatikanischen Palastanlage lange gestanden war, überall Kraft, aufsteigend von den Beinen zu dem gedrehten Oberkörper, zu den Armen, zu den Fingern, welche die Scheibe umklammerten; die Anmut in seinen Zügen, die wirklich erscheinende, unwirkliche Anmut … auch das schmale schöne Gesicht des Tänzers passte … und die nach vorn gekämmten Locken, die allerdings weiter in die Stirn fielen als beim Diskuswerfer. Dieser junge Mensch war ein Stück Schönheit, das mir hingeworfen wurde. Schön das Gesicht und die Gestalt der Marilyn Monroe, der Grace Kelly, des Alain Delon, des Tom Cruise …
Ich ging an der linken Seite der Bar entlang. In der hinteren Hälfte waren mehrere Hocker unbesetzt; ich stieg auf einen, ließ zwischen mir und dem nächsten Gast zwei Plätze frei. Der Kellner tauchte vor mir auf, rundliches Gesicht, dünnes blondes Haar, weiche Stimme. Ich bestellte ein Bier: Schlitz.
Ich betrachtete den Go-go-boy, seine angenehmen Züge, die hellbraunen Locken, die fast nackte Gestalt, die kraftvollen Bewegungen. Der Kellner stellte das Bierfläschchen und ein Glas vor mich hin, nannte den Preis, ich bezahlte. Der Tänzer fuhr mit beiden Daumen unter den hellblauen Stoff, schob ihn etwas abwärts; Schamhaare und ein Teil des Glieds wurden sichtbar. Der Kellner trat zu ihm, schlug ihm auf eine Hand, sagte dann sehr ernst etwas zu ihm, einen Satz wie: „Don’t do this again!"
Der Go-go-boy zog den Stoff wieder hoch.
Ein neues Lied ertönte, melodiös, ziemlich langsam. Auch diesem Tempo passte sich der Go-go-boy an, der Körper wiegte sich in Wellenlinien.
Ein kleiner Mann mit dunklem Haar stellte sich vor den Tänzer, sprach auf ihn ein. Der junge Mann verharrte, erwiderte etwas, der andere antwortete mit mehreren Sätzen. Der Go-go-boy verließ die Platte, auf der er sich bewegt hatte, eilte an dem halbhohen Regal entlang, schlüpfte unter einem Brett der Theke hindurch, verschwand im Hintergrund der Bar.
Er erschien wieder in blassblauen Jeans und hellgrauem T-Shirt.
An der hinteren Schmalseite des Raumes befand sich eine Plattenbar, die ein DJ bediente. Davor eine leere Tanzfläche. Hektische Musik brach los. Der junge Mann begann, mit Armen und Beinen zu zucken, wirbelte los.
Die kleine Tanzplattform betrat ein großer muskulöser Schwarzer, auch nur mit einem winzigen Slip bekleidet. Er machte langsame Schrittchen vor und zurück, lustlos, wie mir schien, dem Stück nicht gerecht werdend. Ich sah wieder zu dem jungen Weißen vor der Plattenbar hin. Ich beneidete ihn. Eine Gnade, so tanzen zu können. Gnade?
Plötzlich hörte er auf, ging rasch an