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Es geht um eine Frau
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eBook237 Seiten3 Stunden

Es geht um eine Frau

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Über dieses E-Book

Das einfühlsame Porträt einer Frau im freien Fall, ein Blick in die Abgründe der modernen Arbeits- und Lebenswelt.
Ein heißer Sommermorgen in der ›hellen Stadt‹, dem neuen Viertel am Rand der Metropole. Unter dem Weiß der Wolken bilden die Neubauten eine leblose Formation, in Beton gegossene Sehnsucht nach Übersicht und Unverbindlichkeit. Alles ist ruhig, bis eine Voicemail die Stille des Apartments unterbricht: »Ich war seine Freundin. Ich kenne die E-Mails. Rufen Sie zurück, es ist wichtig.«
Die kühle Stimme holt das Geschehene zurück: Sie, mit Mitte vierzig fünfzehn Jahre älter als er, ein externer Consultant, hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass ihre Affäre ohne Verpflichtungen, ohne Konsequenzen bleiben sollte. Alles Private hatte sie zugunsten der Karriere aufgeschoben. Was dann geschah, war nicht vorherzusehen.
Britta Boerdners Sprache ist von müheloser, minimalistischer Eleganz, ihre Kunst ist das lautlose Durchbrechen von Oberflächen. In Es geht um eine Frau blickt sie hinter die Fassaden einer Welt, in der Selbstoptimierung und Gewinnmaximie- rung regieren. Sie zeigt ihre Protagonistin ungeschminkt, in all ihrer Härte und Zartheit, Angreifbarkeit und Aggressivität, im Kampf mit den An- und Überforderungen des Lebens.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum25. Aug. 2022
ISBN9783627023089
Es geht um eine Frau

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    Buchvorschau

    Es geht um eine Frau - Britta Boerdner

    Buchcover

    Das einfühlsame Porträt einer Frau im freien Fall, ein Blick in die Abgründe der modernen Arbeits- und Lebenswelt.

    Ein heißer Sommermorgen in der ›hellen Stadt‹, dem neuen Viertel am Rand der Metropole. Unter dem Weiß der Wolken bilden die Neubauten eine leblose Formation, in Beton gegossene Sehnsucht nach Übersicht und Unverbindlichkeit. Alles ist ruhig, bis eine Voicemail die Stille des Apartments unterbricht: »Ich war seine Freundin. Ich kenne die E-Mails. Rufen Sie zurück, es ist wichtig.«

    Die kühle Stimme holt das Geschehene zurück: Sie, mit Mitte vierzig fünfzehn Jahre älter als er, ein externer Consultant, hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass ihre Affäre ohne Verpflichtungen, ohne Konsequenzen bleiben sollte. Alles Private hatte sie zugunsten der Karriere aufgeschoben. Was dann geschah, war nicht vorherzusehen.

    Britta Boerdners Sprache ist von müheloser, minimalistischer Eleganz, ihre Kunst ist das lautlose Durchbrechen von Oberflächen. In Es geht um eine Frau blickt sie hinter die Fassaden einer Welt, in der Selbstoptimierung und Gewinnmaximierung regieren. Sie zeigt ihre Protagonistin ungeschminkt, in all ihrer Härte und Zartheit, Angreifbarkeit und Aggressivität, im Kampf mit den An- und Überforderungen des Lebens.

    Britta Boerdner: Es geht um eine FrauVerlagslogo

    Inhalt

    Prolog

    1 | Schließen Menschen, die …

    2 | Mein Spaziergang nach …

    3 | Es hatte nicht genügt, dass …

    4 | Und, was machts du …

    5 | Nach meiner Flucht …

    6 | Die beiden, die wir waren …

    7 | Schon Wochen vor meinem Umzug …

    8 | Die Sandsteinfassade …

    9 | Natürlich kommt es vor …

    10 | Ich kann dir nicht antworten …

    11 | Die Sache mit dem Café …

    12 | Für den Abend war ein Unwetter …

    13 | An jenem Freitagmorgen …

    14 | Wie auch an den Tagen davor …

    15 | Während der morgendlichen U-Bahn-Fahrt …

    16 | Als ich aufstand …

    17 | Rasch hob ich …

    18 | Ich gehe davon aus …

    19 | Am 20. November …

    20 | Ich würde Jana nicht …

    21 | Das Geräusch hätte …

    22 | Ich versuchte, den Abstand …

    23 | Es war halb zwölf in der Nacht …

    24 | Als ich zurück zu den Fahrstühlen …

    25 | Perschke gehörte zu denjenigen …

    26 | Ich wäre gerne …

    27 | Wenn ich wollte, konnte ich …

    28 | Als ich an jenem Novemberfreitag …

    29 | In der forensischen Medizin …

    30 | Am Montag nach dem Sprung …

    31 | Das alles könnte ich …

    32 | Perschke hatte es im November …

    33 | Frauen beobachten Frauen …

    34 | Nach M.s Tod fing ich …

    35 | Ein schwerer Einbruch …

    36 | Monica Vitti in L’Eclisse …

    37 | An einem Freitag bin ich …

    38 | Wenn ich versuche, eine Geschichte …

    39 | Erst als ich das Hotel verließ …

    40 | Sie vermute, ihre Nachrichten …

    41 | Am Morgen nach Janas E-Mail …

    42 | Kanntest auch du diese Zustände …

    43 | An jenem 20. November …

    44 | Wie so oft handelte ich …

    45 | Als M. mir öffnete …

    46 | Hätte uns jemand von außen …

    47 | Ein Taxi brachte mich …

    48 | Alles geschieht nur noch außen …

    49 | In der Nacht fand …

    * | Sonntagfrüh und ich stehe …

    Prolog

    An jenem Freitagmorgen des vergangenen Jahres ging ich als Kriegerin aus dem Haus. Alles war wie immer, ich duschte, trocknete mich ab, nahm die Kleidung vom Bügel, die ich am Abend zuvor ausgesucht hatte, zog mich an und überflog meine E-Mails. Wie jeden Morgen hatte ich das Gefühl, die Zeit liefe mir davon. Aus dem Badezimmerspiegel sah mir eine Fremde entgegen, ich beugte mich nach vorne, schloss und öffnete die Augen, trug den Lidschatten, den Eyeliner auf. Eine mechanische Bewegung führte zur nächsten. Während ich mich auf den Tag einstellte, der vor mir lag, erschöpfte mich jeder Handgriff. Ich ahnte noch nicht, was sich am Nachmittag ereignen würde, ich wusste nur, dass ich meine Schwäche spätestens dann überwinden müsste, wenn ich das Firmengebäude beträte.

    Immer wieder versuche ich, diejenige zu verstehen, die ich war, versuche, den Schock zu mindern, indem ich mir die Geschehnisse in einem weiten Bogen erzähle. Die Vergangenheit zeigt sich nur in Momentaufnahmen, der Zugriff auf vollständige Abläufe, Tage, Wochen bleibt verwehrt, sobald sie passé sind. Jeder Blick auf die erinnerten Sequenzen dient der Erklärung dazu, wer man war, wer man ist, die Räume zwischen den Gedächtnisbildern können nur vermutet werden. Ich kann sie nur durch eine nachträgliche Erzählung füllen, der ich selbst nicht traue, auch, weil seit den Ereignissen bereits ein dreiviertel Jahr vergangen ist. So seltsam es klingt, es hilft mir, wenn ich mir Jana als Gegenüber vorstelle. Eine Wand, auf die ich blicke, ein verschlossener Mund, ein Körper, der meinem nicht gleicht. Hilft, den Hergang zu ordnen. Was aber würde ich ihr wirklich sagen können? Kaum etwas von allem. So gut wie nichts. Sie hat kein Recht darauf. Diese Geschichte schwebt wie eine der Wolken zwischen Tag und Nacht.

    1

    Schließen Menschen, die ihre Wohnung verlassen, um sich irgendwo in die Tiefe zu stürzen, zuvor noch die Tür hinter sich ab? Greifen die gewohnten Mechanismen, wenn man sich dazu entschieden hat, seinem Leben ein Ende zu setzen, denkt man an die Schuhe, die man trägt, an die Kleidung, daran, wie man aufgefunden wird?

    Ich zog meine Sneakers an und wünschte mir, ich hätte die Mailbox nicht sofort abgehört. Es war zu spät, die Stimme war in meinem Wohnzimmer zu hören gewesen, ich hatte den Lautsprecher meines Smartphones eingeschaltet.

    Ich zögerte, in den Hausflur zu treten. Zum ersten Mal, seit ich drei Wochen zuvor eingezogen war, tippte ich auf den Monitor der Videosprechanlage. Die Überwachungskamera zeigte die Natursteinplatten von der Haustür bis zum Gehweg, der Asphalt der Straße war im Sonnenlicht kaum zu erkennen. Alles schien makellos, nichts regte sich. Vielleicht war das Display noch mit Folie überzogen, das Bild, das ich darauf sah, ein Beispiel für beispiellose Ruhe; als ich mit dem Fingernagel am Rand des Bildschirms entlangfuhr, um den Überzug zu lösen, kam ein Schemen ins Bild. Eine Taube. Tippelte auf dem Gehweg nach rechts und links, lief auf die Haustür zu. Sie hinkte. Am unteren Rand des Monitors blieb sie stehen. Ich wartete darauf, dass sie sich wieder bewegte, hoffte, sie würde nicht ausgerechnet jetzt vor Überhitzung sterben und mit zur Seite gedrehtem Kopf und halboffenem Auge vor mir liegen, wenn ich nach unten käme. Sie bewegte den Kopf, als würgte oder versuchte sie, ihren Abflug durch Lockern der Schultermuskulatur vorzubereiten. Erst nachdem sie aufgeflogen und aus dem Sichtbereich der Kamera verschwunden war (ohne Ton eine Bewegung wie in Zeitlupe), wagte ich mich hinunter.

    Warme Luft drängte mir entgegen, als ich die Haustür öffnete. Niemand war auf der Straße zu sehen. Es war kurz nach neun Uhr, ein Montagmorgen, an dem die Kinder in der Kita und der Schule waren und die Erwachsenen in ihren Homeoffices, in ihren Büros in der Innenstadt oder in einem Gewerbegebiet arbeiteten. Ich ging entlang der vertrockneten Grünfläche in Richtung der Allee, die zur Innenstadt führte. Junge Purpureschen standen eingelassen in Erdquadrate, in Plastiksäcken, die ihrer Bewässerung dienten. Vorne an der Allee waren die Fassaden der Geschäftshäuser mit cremefarbenen Steinquadern verkleidet, hinter den Glasfronten sah ich Sitzgruppen in den zweigeschossigen Eingangshallen stehen. Lieferwagen parkten in Zufahrten. Zwischen den ersten und zweiten Häuserreihen schimmerten die Gehwege, durch den Sprühnebel eines kleinen Springbrunnens hindurch wirkte die Abfahrt zu einer der Tiefgaragen im Gegenlicht weichgezeichnet. Trotz der Sonnenbrille tränten meine Augen. Hoch über mir ragten zwei Sonnenschirme aus den eingelassenen Balkonen. Hinter den Neubauten waren die Dächer und Brandmauern des alten Arbeiterviertels zu sehen, aus den neuen Häusern würde man darauf herabblicken können. Ich nahm mir vor, am Abend die DVD mit Mon Oncle von Tati in meinen Umzugskisten zu suchen. Meine Fotos, die ich seit dem ersten Tag im Viertel machte, könnte ich damit abgleichen, eine ironische Auseinandersetzung mit meiner neuen Umgebung würde es werden. Vielleicht sollte ich eine großformatige Collage daraus basteln. Ein entspannter Abend, an dessen Ende ich die Sprachnachricht löschen würde.

    Wie an jedem Tag in den vergangenen drei Wochen war ich, obwohl ich nichts zu tun hatte, gegen viertel nach sieben aufgestanden und nach dem Duschen mit einer Tasse Kaffee auf den Balkon getreten. Bereits jetzt nannte man den Sommer den heißesten, so, wie man schon viele Sommer zuvor als die heißesten bezeichnet hatte, und wie zur Bestätigung zeigte das Thermometer, das ich während des Umzugs im Keller meiner alten Wohnung gefunden und an der Wand meines neuen Balkons aufgehängt hatte, neunundzwanzig Grad im Schatten. Auf der Straße unter meinem Balkon fuhren vereinzelt Firmenwagen vorüber, die üblichen Marken in gedeckten Farben. Geräuschlos bewegten sie sich hin zur Allee, die sie zur Innenstadt oder zur Autobahn führte. Auch der anthrazitfarbene BMW des Nachbarn rollte aus der Tiefgarage. Auf der Fahrerseite glitt die getönte Scheibe nach unten, eine Hemdmanschette leuchtete auf. Schwarze Hose, weißes Hemd und ein Kinn im Anschnitt, das war alles, was ich sah. Heavy-Metal-Musik setzte ein, viel zu laut für diese Uhrzeit, und wurde sofort leiser gedreht. Der Wagen blieb weiter vorne an der menschenleeren Kreuzung an einer roten Ampel stehen. Als es Grün wurde, bog er auf die Allee ein, die zur Innenstadt führte.

    Das Gesicht dieses Nachbarn hatte ich erst einmal kurz gesehen, als er wenige Tage nach meinem Einzug abends im Businessanzug auf seinem Balkon stand und telefonierte. Ich wollte grüßen, nicht mehr als ein unverfängliches Kopfnicken sollte es werden, doch als ahnte er meine Aufmerksamkeit, machte er auf dem Absatz kehrt und ging mit der Körperhaltung desjenigen, der Anweisungen gibt – zu jedem seiner drei, vier Schritte bekräftigend nickend – zurück in seine Wohnung. Ich konnte mir vorstellen, welche Begriffe fielen, open issues, die zu klären wären, dieses und jenes sei zu challengen (gleich morgen!). Bis hin zum Esstisch mit Frau und Kind würde er in diesem Takt gehen und dabei in sein Handy sprechen. Den Rücken würde er den beiden zukehren, so lange, bis sein Gespräch beendet war, nicht etwa aus Rücksicht wendete er sich ab, sondern um zu zeigen, dass ein geschäftliches Telefonat stets wichtiger ist als alles andere. Einige Tage danach hörte ich spät am Abend ein Kind weinen, das Schluchzen drang aus den geöffneten Balkontüren dieses Paares hinaus auf die Straße. In diesem Moment hatte ich auch zum ersten Mal die Lieblingsmusik des Nachbarn gehört, ein Heavy-Metal-Getöse, das für vier oder fünf Sekunden in höchster Lautstärke losbrach, aufgedreht aus dem Nichts und ebenso plötzlich wieder abgestellt, ein Schock nicht nur für mich. Das Kind war still.

    Ich legte eine Hand auf das Balkongeländer. Seit einigen Tagen meinte ich, manchmal ein Vibrieren im Haus zu spüren, kaum wahrnehmbar, ein leichtes Zittern, das nie lange anhielt. Wahrscheinlich kam es aus den Tiefgaragen, die unter den Häusern lagen, von ihren Toren, die auf- und abglitten. Es konnte auch eine Täuschung sein, ganz so, wie ich auch die Treppe, die vor dem Nachbarhaus schwebte, im ersten Moment als etwas empfand, das ich mir einbildete. Die Wolken blendeten mit ihrem Weiß, ich kniff die Augen zusammen. Eine Wendeltreppe war es, aus Beton gegossen, blass hing sie an Ketten unter dem Kran, der schon seit Wochen dort stand. Sie pendelte ein wenig über dem Asphalt, wurde höher gezogen, blieb stehen und drehte sich langsam um ihre Achse. Zwei Häuser weiter hob ein Kran eine weitere Treppe von der Ladefläche eines Tiefladers. Unverputzte Ziegelsteine, bodentiefe Fensteröffnungen, dahinter die noch nackten Innenräume, ich hätte die Raumaufteilungen aufmalen können. Ein anderer Bauherr, andere Investoren, doch die Architektur unterschied sich nur wenig von der des Hauses, in das ich gezogen war. Neben diesen Rohbauten war das Viertel noch Bauwüste, in der tagein, tagaus schwere Maschinen die Schutthügel plan schoben und an anderer Stelle wieder aufwarfen.

    In den Maklerbroschüren hatte ich gelesen, dass die Fläche zwischen meiner und den Häuserensembles auf der gegenüberliegenden Seite acht Hektar betrug, so groß wie acht Standardfußballplätze. Europagarten wurde die Anlage genannt, aber die Bepflanzung und die niedrigen ornamentalen Sichtbetonmauern, die eine moderne Version der Broderien früherer Gartenkunst darstellen sollten, überzeugten mich nicht von den Ideen der Landschaftsplaner. Die Ziergräser standen zu weit auseinander, um an ihre flächendeckende Zukunft glauben zu lassen, und einer der beiden Wege, die quer über die Fläche führten, verlief in einem solch unnatürlichen Bogen, dass ich, als ich einmal früh am Morgen auf ihm entlangjoggte, das Gefühl hatte, mir würde etwas aufgezwungen. In der Mitte kehrte ich um und sprintete den Weg zurück. Metallzäune verhinderten eine Abkürzung, niemand durfte den spärlichen Rasen betreten. Er wuchs nicht richtig, verbrannte unter der Sonne; der Mutterboden sei der falsche, oder falsch angelegt, zu sehr verdichtet, noch könne der Park nicht eröffnet werden, hatte ich gelesen.

    Vor einiger Zeit hatten große Teile des Quartiers nur als Renderings auf den Webseiten der Immobilienbüros existiert; als moderne Stadt neben der eigentlichen Stadt war es geplant, im vorderen Teil mit Luxuswohntürmen, darin Penthouses mit übereinander gestaffelten Dachterrassen. In eine bislang unerreichte Wohlfühlatmosphäre tauche man hier ein, und zwar premium, hatte der Makler gesagt, und ein Speichelrest war an seiner Unterlippe kleben geblieben. Das Terrain war als ein völlig neues Erholungssystem geplant, eines, das man auch nach Jahren noch großzügig nennen sollte, eines, das in seiner Künstlichkeit der allgemeinen Sehnsucht nach Übersicht und Unverbindlichkeit entgegenkam, vermutete ich. Es war ein Mangel, den ich nicht benennen konnte, eine Einfallslosigkeit, die alles durchdrang, und doch empfand ich die Abwesenheit, die ich in allem sah, als wohltuend.

    Eine erste Wolke Zementstaub war von den Baustellen über die Straße gezogen, ich hatte mich gerade auf das Dröhnen der Betonmischmaschinen eingestellt, als ich meinte, mein Handy klingeln zu hören. Sechs, sieben Schritte hinter mir lag es halb unter einem Kissen auf der Ecke der Wohnzimmercouch. Ich drehte mich danach um, doch da war nichts. Das Klingeln musste von einem anderen Balkon, aus einer anderen Wohnung gekommen sein. Unwahrscheinlich auch, dass es mir galt, ich hatte seit meinem Umzug mit niemandem gesprochen und niemand hatte mich angerufen. Auch in den Wochen davor hatte ich nur mit dem Makler und der Umzugsfirma telefoniert. Erst später sah ich, dass dieser erste Anruf um acht Uhr elf erfolgt war. Mittlerweile bezeichne ich diese Uhrzeit, diesen Tag als einen der Wendepunkte in meinem Leben, und mehr als einmal habe ich mir seither gewünscht, meine Telefonnummer gewechselt zu haben.

    Ich holte mir einen zweiten Kaffee. Wenn ich sage, ich hatte in diesem Moment eine Vorahnung, dann trifft es das nicht ganz. Eine nervöse Spannung war in mir aufgestiegen, mir war nicht wohl in meiner Haut, der Raum hinter mir – meine Küche ging über in das Wohnzimmer – schien plötzlich erweitert und so, als bewegte sich darin etwas, wenn ich nicht hinsah. Ich schrieb es meiner Übermüdung zu. Mit dem falschen Bein aufgestanden, eine Überblendung der Zustände, sagte ich mir. Seit Tagen schlief ich nicht gut. Es war kurz vor der Sommersonnenwende, und wenn mir tagsüber die südliche Sonne zu schaffen machte, war es in der Nacht ein beinahe nördliches Firmament, das mich nicht zur Ruhe kommen ließ. Die Abenddämmerung hielt bis nach halb zehn Uhr an, die Morgendämmerung zog gegen halb fünf Uhr auf; samtig, würde man gegen Mitternacht auf einer Restaurantterrasse im Urlaub sagen, zur Mondsichel am dunkelblauen Himmel zeigen und sich zuprosten. Doch das hier war kein Urlaub, es war eine Außenstelle der Vernunft, eine Flucht aufs offene Feld, und trotzdem – das stellte ich seit meinem Einzug täglich fest – verhalfen mir das Licht und die neue Umgebung zu einer Ruhe, wie ich sie seit Jahren nicht gefunden hatte. Es störte mich nicht, dass das Neubaugebiet als geschichts- und ausdruckslos galt, ich wusste nicht einmal, wie lange ich hier wohnen würde. So lange, bis alles gut ist, dieser Gedanke war mir durch

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