Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Wolken über Spanien: Eine Reise vor Ausbruch des Bürgerkriegs
Wolken über Spanien: Eine Reise vor Ausbruch des Bürgerkriegs
Wolken über Spanien: Eine Reise vor Ausbruch des Bürgerkriegs
eBook230 Seiten3 Stunden

Wolken über Spanien: Eine Reise vor Ausbruch des Bürgerkriegs

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Alles begann 1922, als die Irin Kate O'Brien nach Abschluss ihres Literaturstudiums nach Spanien reiste und in Burgos die Stelle einer Hauslehrerin antrat. Immer wieder ist sie in den Jahren danach zurückgekehrt. Die Reise, von der sie in Wolken über Spanien berichtet, hat sie 1935 unternommen, kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs. Noch einmal fährt sie durch das geliebte Land, besichtigt die Kathedralen von Burgos und Toledo. Mäandert durch Museen und archiviert im Kopf die unermesslich großen Kunstschätze. Flaniert auf den gotischen Ramblas von Avila, lässt sich überwältigen von der wilden Küste Asturiens. Nimmt Platz in den Restaurants von Santander, wo die schönsten Meeresfrüchte, der beste Wein serviert werden. Erfreut sich bei Überlandfahrten an der Landschaft, um sich gleichzeitig zurück nach Madrid zu sehnen, dorthin, wo es Zeitungen gibt, Buchläden und aufregende Cafés. Es ist ein heiteres, lebendiges Spanien, das sie porträtiert. Aber als sie ihren Bericht 1936 niederschreibt, hat sich ein Schatten über das Land gelegt: "Während ich dies schreibe, brennt Irún …" Und so wird der Reisebericht der Feministin und Kommunistin, die entschieden Position für die Republikaner bezieht und mit ihrer Kritik an Franco nicht hinter dem Berg hält, ein Buch der Erinnerung, eine Liebeserklärung an das Land, auf das die heraufziehenden Wolken des Bürgerkriegs ihren Schatten werfen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum14. Mai 2021
ISBN9783843806107
Wolken über Spanien: Eine Reise vor Ausbruch des Bürgerkriegs

Ähnlich wie Wolken über Spanien

Ähnliche E-Books

Reisen für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Wolken über Spanien

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Wolken über Spanien - Kate O'Brien

    ADIÓS, TURISMO

    Gelegenheiten zur Hemmungslosigkeit sind selten, da können Moralisten sagen, was sie wollen; und wenn die Verfasserin ihre eigenen Erinnerungen an Spanien als eine solche ausgeben will, muss sie wohl riskieren, von anderen als eine Art Nero betrachtet zu werden.

    Ich schreibe wirklich ungeniert als Eskapistin von dem, was vergeht und noch halbwegs in Erinnerung ist. Für Voraussagen bringe ich kein Talent und wenig Neugier auf. Aber Tod und Abschied fesseln mich, wie es die hellsten Hoffnungen der Menschheit nie vermocht haben. Während also das europäische Chiaroscuro, in dem wir alle aufgewachsen sind, zum Blackout wird und seinen in die Länge gezogenen Selbstmord hinnimmt, während das Schicksal den Leichtsinn zum Schweigen bringt und die Beherzten sich ins Zeug legen, um zu sehen, was der morgige Tag an Zerreißproben bringt, schaue ich also noch immer zurück, ganz hemmungslos. Das Morgenlicht, selbst wenn einige von uns es erleben sollten, selbst wenn es strahlt, es wird ernüchternd sein; wenn überhaupt etwas dran ist an menschlicher Verheißung, an politischem Kampf, wird es gleichförmig sein und abwechslungslos. Was die verrückt gewordene Welt jetzt suchen muss, ist die Gerechtigkeit einer vernünftigen Einheitlichkeit. Wie unerreichbar das scheint, wenn man es hinschreibt, und wie elementar notwendig! Dass es nach unserer Sintflut so kommen möge, muss unsere zentrale Hoffnung für die Nachwelt sein, wie ungewiss, wie fraglich auch immer. Wenn einige von uns einstweilen nicht den persönlichen Wunsch aufbringen, es so zu sehen, sollte ihnen diese Schwäche verziehen werden.

    Lasst uns, die wir nichts anderes können, die Zeit vertun. Und da das individuelle Leben weitergeht, da Gesichter und Erinnerungen nach wie vor wichtig sind, wie sehr auch die Dunkelheit zunimmt, da es noch Wein zu trinken gibt und die nächste Zigarette ein zwingendes Vergnügen bleibt, werden wir, wenn wir gescheit sind, unseren immer gleichen kleinen Marotten nachgehen, werden essen und trinken (wenn wir die Mittel dazu haben), werden stricken, Schreibmaschine schreiben, Bilder machen und Geld und Liebe. Denn was haben wir davon, diese schreckliche Gegenwart, die uns bestimmt ist, zu durchleben, wenn wir unseren egoistischen Mut verlieren, weiter wir selber zu bleiben. Indem ich also den meinen beschwöre, schreibe ich zu meinem eigenen Trost, in einem Stil, der während der letzten zweihundert Jahre überstrapaziert wurde – aber womöglich als eine der letzten, die ihn pflegt, und vielleicht resultiert aus dieser Vermutung eine besondere Befriedigung. Ich schreibe als sentimentale Reisende über ein Land, das lange schon unter derartigen Reisenden leidet. Aber Spanien muss den letzten Nachzüglern unter seinen fremden Liebhabern verzeihen, wie es den ersten verziehen und sich zu ihnen herabgelassen hat. Es wird keine sentimentalen Reisenden mehr geben – nirgends. Ihre Entschuldigung und ihr Spielraum werden an jenem Tag der Einheitlichkeit, den wir übereinstimmend als einzige Hoffnung für die verstörte Welt betrachten, dahin sein. Tourist ist schon ein veraltetes Wort für die Vernünftigen, die, wenn sie noch nach Russland fahren, es nur tun, um herauszufinden, wie die zweite Hälfte des Jahrhunderts aussehen wird, nicht nur in Moskau, sondern überhaupt. Sie fahren dorthin, um sich Experimente und Modelle anzuschauen, um Versuche zu begutachten, die uns alle betreffen und berühren, die aber natürlich in den aufziehenden Stürmen des Nationalismus noch verscherzt werden können, ehe die wahre Gestalt der Dinge, die auf uns zukommen, in Erscheinung tritt. Trotzdem sind diese Russlandreisen, wie aufschlussreich auch immer, nicht Reisen im alten Sinn des Worts. Sie folgen einem neuen Impuls. Sie reagieren auf unsere kommende Einheitlichkeit, sind keine eskapistische Suche nach dem Neuem, nach Individualismus oder Vergangenheit. Sie sind der Arbeitsurlaub für Soziologen und Moralisten, keine Unterhaltungstrips für Müßiggänger, die ihr Vergnügen suchen.

    Letztere – das soll nochmal gesagt sein – sind überholt. Und am Ende wird sich auch der Arbeitsurlaub überholt haben. Wenn die europäische Gesellschaft ihre nächste Krise überlebt, wenn die Wissenschaft, die uns zerstört hat, es zulässt oder uns vielleicht sogar dazu verdammt, noch einmal zu leben, dann ist es ein ganz neues Leben, das den Völkern winkt. Denn da die Wissenschaft die Musik bezahlt hat, bestimmt sie mit Sicherheit, was gespielt wird, und diejenigen von uns, die nie vorhatten, nach ihrer Pfeife zu tanzen, können dankbar sein, dass sie zum Zeitpunkt ihrer größten Machtentfaltung still gestellt sind, ganz taub.

    Es bringt dann nichts, loszugehen, um nach einem schwankenden Rohr zu suchen. Die Leiden und Schönheiten, die durch Unterschiede in Sprache, Glauben und Klima die Landkarte bislang geprägt haben, werden nicht mehr von Belang sein, denn selbst wenn sie noch Potential besitzen – sie werden von der Wissenschaft, diesem internationalen Diktator, der durch Flugreisen, Radio und Fernsehen ohnehin alle nur möglichen Neuerungen zu langweiligem Kamingespräch macht, kontrolliert und überwacht. Die Welt wird flach und eng, wenn das Goldene Horn nur noch einen Steinwurf von Golden Gate entfernt und hinter keinem Hügel mehr etwas Unbekanntes ist. Die menschenleere Antarktis wird zur Wochenendspritztour und unsere Nachkommen – sollten irgendwelche Aufzeichnungen überdauern, die ihre Aufmerksamkeit erregen – werden sich über unser naives Interesse für unsere Nachbarn wundern und lächelnd feststellen, dass sich die Gewohnheiten eines Arabers einmal von denen eines Holländers und die eines Tibeters von denen eines Schotten unterschieden haben. Schon jetzt singt man in den spanischen Dörfern bereits keinen Cante hondo mehr, um einem Durchreisenden eine Freude zu machen – man sucht im Radio nach »Big Ben« oder einem Song von Henry Hall¹.

    Sollte das Ziel der Wissenschaft tatsächlich in einem vernünftigen Überleben der Menschheit bestehen, wird sie gut daran tun, darauf hinzuarbeiten, allen Grundsätzen, die einer ausgewogenen internationalen Einheitlichkeit dienen, erbarmungslos zu folgen und die romantischen Unterscheidungen zu zertreten, durch die die Geschichte, oder unser Begriff davon, uns zu dem Schlachtfeld des zwanzigsten Jahrhunderts geführt hat. In der wiederhergestellten Welt sollte es besser keine Geschichte geben. Lasst sie ganz kahl beginnen, ohne ein Haar – ohne einen einzigen Zahn. Oh, wie eifrig die Wissenschaft versuchen wird, ihre neuen Gesundheitsregeln durchzusetzen. Soll sie nur! In der Zwischenzeit warten wir darauf, dass unsere alte, zerzauste, mangelhafte Welt in einem letzten Anfall explodiert. Und wir zählen unsere unseligen Segnungen – den Ramsch, den wir angehäuft und so besessen geliebt und zu vermehren gesucht haben. Tempel, Paläste, Kathedralen; Bibliotheken voller Unsinn; Bilder, um Tote zu feiern, seltsame Legenden, noch seltsamere individuelle Konzeptionen; Lieder, um Gott zu preisen, oder eine Idee, die wir besaßen und Liebe nannten; Gräber und Buntglasfenster; Symphonien, Sonette, flügellose Siegesgöttinnen – Krimskrams aus zweitausend blödsinnigen Jahren, in denen es der Individualismus nach einer Menge beachtlicher Aufregung schließlich fertig gebracht hat, sich an seiner langen Leine zu erhängen. Es wird hoffentlich nie wieder zweitausend so derangierte oder sinnlos ertragreiche Jahre geben.

    Mit diesen paar Worten der Selbstherabsetzung – denn wir sind alle Teil unserer beklagenswerten und schuldigen christlichen Ära –, mit diesen paar Worten, mit denen wir die Fortschrittlichen besänftigen, die Vernünftigen beschwichtigen wollen, lassen wir die Jalousien wieder herunter und richten uns von Neuem in unserer alten Behaglichkeit ein. Lasst uns die persönliche Erinnerung preisen, die persönliche Liebe.

    Behaglichkeit! Während ich schreibe, brennt Irún. Die Times brachte heute Morgen ein Foto von der kleinen Plaza mit den niedrigen Stühlen aus Eisen und den gestutzten Platanen – der alltägliche Ort jeder spanischen Stadt. Das Café an der Ecke ein Haufen zerborstener Steine. Ein paar Männer mit Gewehren stehen niedergeschlagen herum. Die Zeitungen von gestern zeigten uns Frauen an der Küste von Hendaye, die zusehen, wie ihre Häuser auf der anderen Seite der Flussmündung in Flammen aufgehen. Dieser Spanienkrieg, der mit dem uralten spanischen Willen geführt wird, den Tod mit zeremonieller Grausamkeit zu erleiden oder zu vollstrecken – dieser Krieg ist nur ein Geschwür in einer mit Geschwüren übersäten Welt. Aber die individuelle Fantasie – wie die ethnische auch – ist nichts als Selbstschutz, und obwohl niemand, der eine Spur von Vernunft besitzt, über den universellen Terror von Nationalismen, Diktaturen und rassistischer Feindseligkeit hinwegsehen kann, ganz zu schweigen von der absurden Politik der versiegelten Lippen, obwohl niemand bestreiten kann, dass eine Welt, die außerstande ist, Slums, Arbeitslosigkeit, Giftgas oder Minenexplosionen abzuschaffen, dass eine Welt, die sich in der Gewalt von Dürren, Überschwemmungen, Streiks, manipulierten Märkten, Geheimabkommen, privaten Monopolen und Rüstungswettrennen befindet, eine dem Bösen und dessen Konsequenzen preisgegebene Welt ist – trotzdem dringt all das nur dann wirklich durch unser schützendes Phlegma, zehrt es nur dann wirklich an unseren Nerven, wenn das, was wir persönlich erfahren haben, das, was uns selbst berührt hat, für eine Weile im Rampenlicht steht. Wir sind also für unsere Sünden gemacht, und weil wir so gemacht sind, sind unsere Sünden Berge an Unmenschlichkeit. Doch genau wie Mr. Salteena² davon sprach, dass er kein Gentleman sei – daran lässt sich jetzt nichts mehr ändern. Die persönliche Note, der sentimentale Individualismus, hat uns so weit gebracht, dass nur etwas Wesensfremdes und Schreckliches das Leben retten kann, indem wir, die wir leben, uns selber zerstören.

    Während China Not leidet, es in Lancashire zu Hungermärschen kommt, Bildungsbehörden im Kindergarten Gasschutz-Übungen veranstalten und Mussolini den Faschistengruß nicht einmal Vierjähriger entgegennimmt, beklagen Touristinnen, die sich für den Winter nach Hampstead, Neuilly und Brooklyn zurückgezogen, die neue Regenschirme gekauft und ihre Koffer verstaut haben, mehr als jede andere Katastrophe den Brand von Irún. Beklagen ihn als einen traurigen Fall, der an ihre persönliche Erinnerung rührt.

    Sie sahen Irún das erste Mal an einem verregneten Augustmorgen. Nie werden sie ihre Enttäuschung vergessen. Die Nacht im Liegewagen zweiter Klasse war die Hölle gewesen; es war ihnen nicht gelungen, von überlasteten, schlecht gelaunten Schaffnern einen Kaffee zu bekommen; in Bayonne hatte eine alte Frau sie beim Kauf von Birnen übers Ohr gehauen. Einmal auf der anderen Seite der Brücke, würden sie den Zug wechseln und es mit einer Schar von Zollbeamten aufnehmen müssen. Sie würden nass werden bis auf die Knochen. Sie konnten kein Wort Spanisch. Würde ihnen jemand den exakten Wechselkurs der Pesete nennen? Du lieber Himmel, hatte man je einen solchen Regen gesehen?

    Offensichtlich gab es in Irún sonst nichts zu sehen – außer einem Mann in Schwarz, gleich hinter der Brücke. Er stand ganz ruhig auf der Straße, mit dem Rücken zum Zug. Ein solider, etwa fünfzigjähriger Mann von respektablem Äußeren, der seinen schwarzen Mantel wie ein Cape umgeworfen hatte. Er trug auch eine schwarze Baskenmütze. Den Zug nahm er offenbar nicht zur Kenntnis, das Wetter schien ihm egal zu sein.

    An jenem Morgen sahen sie diesen immer gleichen Mann, denn wo und wie man auch nach Spanien hereinkommt, er ist das erste lebendige Wesen, das einem ins Auge fällt. Wenn das Linienschiff an einem warmen, schönen Abend in den Hafen von Coruña einläuft, steht er zwischen den Felsen auf einer Landzunge, den Mantel wie ein Cape um die Schultern, die Baskenmütze auf dem Kopf – nachdenklich und standhaft. Wenn man in den frühen Morgenstunden auf den Bahnsteig von Madrids Nordbahnhof hinaustritt, ist er schon da, haargenau der gleiche. Auch sieht man ihn immer am Südende der Bidasoa-Brücke.

    In den Erinnerungen eines jeden Touristen steht er in vorderster Front, jener nüchterne, nachdenkliche Mann.

    Aber zu Irún. Am Abend zuvor saßen die Touristinnen in einem Café in der Nähe des Quai d’Orsay, aufgeregt – und vielleicht ein bisschen zu geschwätzig. Spanien am Morgen, die spanische Grenze. Die Pyrenäen, die resoluten Basken, Fuenterrabia, »wo Karl der Große mit seiner ganzen Peerage fiel«³. Der Jakobsweg nach Compostela. Pamplona, wo Ignatius von Loyola sich seine schwere Wunde zuzog. Die Fasaneninsel, wo es zu der einen und anderen vergessenen Verhandlung zwischen der einen und anderen vergessenen Persönlichkeit kam.⁴ Die Fluchten der Bourbonen, hin und her. Wellingtons Siege über General Soult. Die Carlistenkriege. Das Pelota-Spiel. Der schreckliche Stierkampf. Oder sollten sie sich doch einfach einmal einen ansehen? Bis man So-und-So, der immer noch über die Franken nachsann, vor sich hinmurmeln hörte: Dieu! que le son du Cor est triste le soir, au fond des bois!⁵ Wodurch er den Rest der Gesellschaft verwirrte, was missmutig hochgezogene Brauen zur Folge hatte. Wollte So-und-So sich auf der Reise als echter Langweiler erweisen?

    Sie wurden also nass bis auf die Knochen. Irún ist ein schlecht organisierter Bahnhof. Auf ihrem Weg zwischen Zug, Zollschuppen, Kantine und dem anderen Zug wurden sie wirklich furchtbar nass. Ebenso ihr Gepäckträger, ein stiller, friedfertiger Mann mit hellen, blauen Augen. Überhaupt kein spanischer Typ, bemerkten die Touristinnen. Sie verließen Irún mit Unbehagen und ohne auch nur einmal an die Peerage Karls des Großen gedacht zu haben. Wirklich ohne irgendeinen Eindruck – abgesehen vom Regen und dem stillen Gepäckträger. Er hatte selbst sein Trinkgeld schweigend eingesteckt.

    Ohne irgendeinen Eindruck – und obwohl sie seitdem oft in Irún gewesen, die Promenade, den Paseo, entlangspaziert waren, sich in seinen Cafés unterhalten, den kleinen Zug nach San Sebastián genommen hatten, dachten sie jetzt, wo es brannte, zuerst an jenen ersten unerfreulichen Morgen – den Mann in Schwarz an der Brücke, den Regen und die Stille. Sonderbar, diese Erinnerung an die Stille – ein Grenzbahnhof zur geschäftigsten Tageszeit kann eigentlich kein ruhiger Ort sein. Und doch erinnern sich die Touristinnen, die ihn am behaglichen Kamin vor ihrem inneren Auge aufscheinen lassen, an eine Atmosphäre der Stille und an eine Glocke, die inmitten regennasser Bäume schlug. Und das war alles, was Spanien ihnen bei ihrem ersten Halt gegeben hatte.

    Die Touristinnen seufzen, rühren in ihrem Getränk. Denn danach hatte es ihnen so viel gegeben – sie waren aufrichtig entflammt. Echte Touristen. Sie gehörten zur Kategorie derer, denen das Leben selbst das Herz viel mehr erfüllt als die schönsten Theorien oder Experimente. Spanien war also ganz nach ihrem Geschmack. Und jetzt stand das Grenzland in Flammen. Toledo von Kugeln durchsiebt, Burgos ein Kriegsschauplatz, die Sierra de Guadarrama ein Schlachtfeld. Ortega, der Stierkämpfer, vor Kurzem erschossen. Bomben fielen auf den Bahnhof Atocha, gefährlich nah beim Prado. Die Touristinnen finden ihr Getränk ungenießbar und gehen zu Bett. Doch bei aller Niedergeschlagenheit, und weil das am einfachsten ist, glauben sie, dass sie ihrer Liebe wiederbegegnen werden. Die Spanier haben ihnen den Reiz und die Ausflucht des »mañana« gezeigt, und dass es sich dabei um einen neuen Tag handelt. Aber wie neu, in unserer Zeit? Das ist wahrhaftig eine Frage. Während man auf Antwort wartet, ist es doch jedenfalls etwas, das letzte und angeregteste Jahrzehnt in der Geschichte des Tourismus durchlebt zu haben.

    Etwas – persönlich betrachtet. Denn international scheint es wenig wert gewesen zu sein, wie die zukünftige Welt zu Recht zeigen wird, wenn die geschäftigen und sich selbst verleugnenden Bevölkerungen – keine Nationen mehr – all die alten Quellen gegenseitiger Neugier, all die Vorwände, dem Vergnügen nachzugehen, all die Entschuldigungen für den Genuss ungetrübter und insofern verderblicher Träume beseitigt haben werden.

    Pervers genug wiederhole ich trotzdem, dass ich zu meinem persönlichen Vergnügen schreibe. Auch wenn das Schicksal über mich hereinbricht, bin ich froh, dass ich nicht im Tausendjährigen Reich gelebt habe. Ich bin auch froh, so lange nach der Zeit der Grand Tour gelebt zu haben – etwas Derartiges wäre mir bei meinem bescheidenen Los nie vergönnt gewesen. Froh, dass ich die rauen Segnungen der Touristenkabine, des einfachen Fahrscheins und den Autobus kennenlernte. Denn das unbeschwerte Reisen, wie es für meine Generation erschwinglich und ohne übertriebenen Aufwand möglich war, zählte mit Sicherheit zu den größten und geheimsten aller persönlichen Freuden. Für mich hieß das nicht unbeschwertes Reisen hier, dort und irgendwo – mein Herz ist eng –, sondern unbeschwertes Reisen durch Spanien.

    Wenn es zulässig und nicht hochgradig gefährlich ist, zu diesem Zeitpunkt Pater⁶ zu zitieren, riskiere ich es, diese viel zu oft bemühten Worte hier noch einmal zu wiederholen: »Die Kunst kommt zu dir, indem sie offen erklärt, nichts anderes zu geben als deinen Augenblicken, die dahingehen, höchste Qualität – einfach um dieser Augenblicke willen.«

    Eine einschränkende Aussage, aber es gibt Leute, die genau in deren Akzeptanz irgendeine Art funktionierender persönlicher Wahrheit gefunden haben – falls sie den Mut hatten, sie zuzulassen. Künstler, ob sie dieser Bezeichnung gerecht werden oder nicht, oder überhaupt durchscheinen lassen, dass sie mit dem Stigma behaftet sind, kennen sich selbst. Sie kennen ihre Handicaps und, mitunter vielleicht etwas selbstgefällig, auch ihre Stärken. Viele von ihnen lehnen Paters ästhetisches Diktum ab und können es durch ihre eigenen Fähigkeiten und Leistungen widerlegen und bleiben doch unbestreitbar Künstler. Aber für andere hält es stand. Nicht, dass sie versuchten, abgeschottet damit zu leben – außer sie wären Freaks – oder dass ihre ganze Geschichte darin enthalten wäre. Aber sie erfahren, oft genug ernüchtert und zu ihrem Bedauern, dass es sich um die Erkenntnis handelt, die sie am ehesten verstehen, und machen die Entdeckung, dass deren Kollision mit anderen inneren Prinzipien diese aus der Bahn wirft. Oft zu Unrecht oder unangenehmerweise. Und der Rest von uns, an welcher Stelle im Register wir uns auch befinden – wird nicht auch auf uns gelegentlich in Bezug auf Paters Aussage verwiesen? Werden nicht auch wir, wie sporadisch und unzulänglich auch immer, von diesem »erregenden Lebensgefühl«, diesem »vervielfachten Bewusstsein« heimgesucht, das das tägliche Brot des Künstlers ist? Sodass wir beunruhigt, aber zugleich beglückt von dieser Heimsuchung, zaghaft von neuem und wann immer wir können nach ihr suchen?

    Nicht als Droge. Die Fortschrittlichen, die keine Grabschriften lesen und in zerfallenem Stein nur eine einzige Botschaft

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1