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Der Kinderdieb
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eBook180 Seiten2 Stunden

Der Kinderdieb

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Über dieses E-Book

Sommerurlaube an italienischen Küsten und Seen. Das Glück liegt auf der Hand. Richard Gärtner könnte in jeder Hinsicht zufrieden sein: Als Lehrer aus Überzeugung, als glücklicher Ehemann und als stolzer Vater. Wäre da nicht die Angst vor einer Entführung. Niemand nimmt ihn ernst. Bis der Alptraum Realität wird.
(Vor-)Urteile, das Vorgehen des ermittelnden Kriminalbeamten und immer tiefere Abgründe bewirken ein unerträgliches Wechselbad aus Resignation und Kampfgeist.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum18. Juli 2017
ISBN9783745004151
Der Kinderdieb

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    Buchvorschau

    Der Kinderdieb - Matthias Sprißler

    Prolog

    Die Zelle

    Aktenzeichen 23 Js 144/14

    Amtsgericht Ellwangen

    Haftbefehl vom 30. Juni 2014

    Im Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten

    wird gem. §§ 112 Abs. 1 und 3, 114, 125 StPO die Untersuchungshaft dieses Beschuldigten angeordnet.

    Er steht im dringenden Verdacht, ein Gebäude, das der Wohnung von Menschen dient, in Brand gesetzt und dadurch den Tod eines anderen Menschen verursacht zu haben, indem er am 30.6.2014 gegen 0.30 Uhr in Scheune und angrenzendem Wohnhaus des Forellenhofs im Kinzigtal mittels eines Brandbeschleunigers Feuer gelegt und dadurch den Hof zerstört und die dort als Urlauberin schlafende vierjährige Helen Gärtner getötet hat,

    strafbar nach §§ 211, 306 a, 306 c, 52 StGB.

    Der dringende Tatverdacht stützt sich auf das Ergebnis der bisherigen Ermittlungen der Polizeidirektion Aalen, Kriminalinspektion Ellwangen, insbesondere den Ermittlungsbericht von EKHK Peter Lowinger.

    Maier

                  Richter am Amtsgericht           

    Wie oft in dieser Nacht hatte er diesen Haftbefehl nun bereits gelesen? Er wusste es nicht mehr. Das einzige, was er noch wusste, war, dass er vor wenigen Minuten aus einem kurzen, wohl nur wenige Sekunden dauernden Erschöpfungsschlaf aufgeschreckt war, als er plötzlich hellen Feuerschein zu sehen glaubte. Der Schein eines hell lodernden Feuers, des Feuers eines Großbrandes. Er zitterte am ganzen Körper. Es war nur ein geringer Trost, dass ihm nach dem Aufschrecken schnell bewusstwurde, dass er kein Feuer sah; es war nur das helle Neonlicht seiner fensterlosen Zelle, das einmal pro Stunde kurz aufflackerte, um den Vollzugsbeamten einen Kontrollblick durch den Türspion, der hier von außen nach innen funktionierte, zu ermöglichen.

    „Wir stecken dich vorsorglich in eine Zelle ohne Fenstergitter, sicher ist sicher, waren die letzten Worte des Beamten gewesen, bevor er am Abend die Zelle verschlossen hatte. Seither war er allein mit sich. Er fühlte sich verlassen und ausgeliefert. Raum- und Zeitgefühl schwanden mehr und mehr. Drei identische Wände, je zehn Fuß lang, wie er vorhin ausgemessen hatte. Die vierte Wand unterschied sich durch die darin befindliche stahlgraue Metalltüre mit dem Spion und einer Klappe, durch die ihm am Abend noch zwei Scheiben Brot, eine Scheibe Fleischkäse und zwei Essiggurken zusammen mit Aluminiumteller und -becher gereicht wurden. Alles steril und nicht entflammbar: Außer dem Geschirr auch die Chromarganliege mit einer teflonumhüllten Matte, die sich anfühlte, wie wenn sie mit Metallputzschwämmchen gefüllt wäre, das Edelstahlwaschbecken mit dem kleinen Hinweisschild „Trinkwasser und dem deckel- und randlosen Edelstahl-WC, neben dem sich abgezählt drei feuchte Papiere befanden. Im Laufe der Nacht hatte er dann auch die Zusammenhänge begriffen: Seine seit Abgabe des Gürtels fortwährend rutschende Hose, das mangels Fenster fehlende massive Fenstergitter und die periodische Kontrolle konnten nur bedeuten, dass sie von Suizidgefahr ihres Häftlings ausgingen.

    Es war ihm rätselhaft, wie sie zu dieser Annahme kommen konnten. Noch nie in seinem über vierzigjährigen Leben hatte er ein Gefängnis von innen gesehen. Und sich selbst zu erhängen? Eine abwegige Überlegung.  Er. Er, der stets den Freuden des Lebens zugeneigt war. Wahrscheinlich würden sie das bei jedem Häftling seines Alters so anordnen. Sicher, seine Lage war mehr als schlecht. Katastrophal. Aber aufgeben? Keine Sekunde seiner bisherigen Haftzeit von gefühlt einem Jahr, gemessen sieben Stunden und achtundzwanzig Minuten, war ihm ein solcher Gedanke bisher gekommen. Er hatte in seinem Leben schon manche Niederlage erlitten, war zu kämpfen gewohnt. Auch hier und jetzt würde er kämpfen, seine Unschuld beweisen, die Missverständnisse, um die es sich handeln musste, aufklären. Schon in wenigen Stunden würde er Dr. Franz Felsle, dem besten Verteidiger der Stadt gegenübersitzen, einem Anwalt, der ihn schon seit vielen Jahre kannte und schon manches Mal bestens beraten hatte….

    2

    Ellwangen, Juli 2007

    Vergangenheit

    Richard und Stefanie Gärtner saßen auf dem vor wenigen Tagen erstandenen schwarzen Ledersofa einer am Ostrand des Schwarzwaldes residierenden Designerfirma. Auf dem kubistischen Glastisch vor Ihnen standen zwei große Kelchgläser, in denen jeweils zwei Finger hoch ein italienischer Rotwein seinen warmen Duft verbreitete. Heute Morgen waren sie, beide nun schon 32 Jahre alt, zur Trauung im Standesamt gewesen. Im Anschluss an diese Beurkundung ihrer schon seit zwei Jahren bestehenden eheähnlichen Beziehung hatte es noch ein gemeinsames Mittagessen mit Eltern und Geschwistern gegeben. Das große Fest war für den Tag der kirchlichen Trauung vorgesehen, die Ende des Monats in der hoch über der Stadt thronenden barocken Wallfahrtskirche Schönenberg stattfinden sollte. Der Schwager von Richard, Tobias Hafner, der Mann seiner fünf Jahre jüngeren Schwester Monika und erst seit einigen Wochen Standesbeamter der ostwürttembergischen Kleinstadt Ellwangen, hatte die Trauung persönlich übernommen. Die kurze Ansprache war genau nach Stefanies Geschmack gewesen. Nicht zu schwülstig, sachlich, aber auch feierlich. Hafner, dessen Familie seit Generationen in Ellwangen lebte, strahlte Ruhe und Vertrauen aus. Die Trauung war auch für ihn nicht alltäglich gewesen; nicht nur, dass sein Schwager den Bund fürs Leben schloss, auch zur Großmutter der Braut hatte eine enge Beziehung bestanden, nachdem sich die beiden Großmütter als Kriegerwitwen in schwierigen Zeiten gegenseitig Hilfe und Halt gewesen waren.

    Nun saßen sie hier und blätterten gemeinsam Stefanies Fotoalbum durch. Auf einer Seite war ein großes Bild ihrer Großmutter zu sehen. Es war eine würdevolle ältere Dame, weißlich graues Haar, Brille, ganz in schwarz, weiß und grau gekleidet. Richard hatte sie zwar nicht mehr als Stefanies Großmutter in Erinnerung; sie war bereits verstorben, als er Stefanie näher kennengelernt hatte. Aber an ihren Anblick erinnerte er sich aus Kindheitstagen, als er noch mit seinen Eltern jeden Sonntag in der Kirche verbrachte. Die ältere Dame gehörte nicht zur Gruppe frömmelnder Betschwestern, deren Auftritt mehr Selbstdarstellung denn Andacht war. Sie kam aufrechten Gangs daher, ohne Leidensausdruck oder Bitterkeit im Gesicht und vermittelte dem Betrachter stets das Antlitz der Würde. Wahrscheinlich hatte er sogar unbewusst Stefanie schon zu jener Zeit einmal gesehen, da die Frau gelegentlich ein mutmaßliches Enkelkind bei sich hatte. Vom Stammplatz seiner Eltern aus im Querschiff vor dem Abgang zur Krypta der romanischen Stiftskirche St. Vitus hatte er stets einen unverstellten Blick zu Stefanies Großmutter in einer der ersten Reihen des Hauptschiffs, direkt unterhalb einer der mächtigen barocken Apostelstatuen.

    Auf der Seite daneben befand sich das Bild eines Wehrmachtsangehörigen; seine Augen schienen mit traurigem Blick durch die schwarzrandige Brille in eine unsichtbare Ferne zu blicken. In eine Ferne, in der er Heimat, Frau und Kinder wusste. Eine Ferne, deren Geschicke er nicht erblicken konnte. Eine Ferne, die ihn nicht wissen ließ, ob das Bild, das sich aus der Erinnerung vor seinem Auge aufgebaut hatte, nicht bereits durch Luftangriffe, Brandbomben oder Artilleriebeschuss unwiederbringlich zerstört war. Eine Ferne, bei der jedes Lebenszeichen der Familie angesichts der kriegsbedingt schwierigen Transportwege im Augenblick des Lesens bereits Vergangenheit sein konnte, Erinnerungsstück statt Lebenszeichen.

    Noch ein Bild daneben derselbe Mann mit Stefanies Großmutter, davor fünf Kinder im Alter vom Säugling bis zum Jugendlichen. Nach dem Familienfoto zu schließen handelte es sich bei dem Wehrmachtangehörigen um Stefanies Großvater. Von ihm hatte sie noch nie erzählt, weshalb Richard nun vorsichtig nachfragte.

    „Ja, das ist eine lange Geschichte, eine traurige Geschichte", begann Stefanie zu erzählen. Während sie einen Schluck aus ihrem Rotweinglas nahm, überlegte sie, wo sie beginnen sollte. Es war die Geschichte eines Kriegsschicksals, die Geschichte von persönlich erfahrenem Unrecht, die letztlich mit dem Tod des Großvaters endete.

    Stefanies Großeltern waren bekennende Katholiken. Sie besuchten nicht nur den Sonntagsgottesdienst, sondern lebten ihren Glauben auch. Auch beruflich war Stefanies Großvater in kirchlichen Diensten tätig. Als ausgebildeter Lehrer leitete er in Ellwangen die Schule eines kirchlichen Kinderheims, das ein Frauenorden in der Stadt betrieb. Nicht genug, dass damit der Arbeitgeber des Großvaters die Kirche war, nicht gerade ein Qualitätsmerkmal für die Machthaber der Jahre 1939-1945, nein, in diesem Kinderheim wurde auch nicht sortiert oder selektiert. Alle Kinder waren willkommen, auch behinderte Kinder wurden aufgenommen und unterrichtet. Die meisten Kinder waren Waisen oder Halbwaisen und hatten kein anderes Zuhause mehr. In kleinen Wohngruppen hatten sie unter der Leitung jeweils einer Ordensschwester eine Art Ersatzfamilie gefunden. Die ganze Einrichtung war eigentlich über den Raum Ellwangen hinaus nur wenig bekannt. So verwunderte es nicht, dass auf den Betrieb der Schule von höherer Stelle anfänglich kaum Druck ausgeübt wurde. Dies hinderte jedoch den örtlichen NS-Statthalter, Kreisleiter Weisser, nicht daran, sich persönlich als besonders linientreu und nationalsozialistisch geprägt darzustellen. Immer wieder unternahm er einzelne Aktionen, um den Betrieb des Kinderheimes und der Schule zu torpedieren. Mehrfach wurde Stefanies Großvater einbestellt und nachhaltig unter Druck gesetzt, immer mit dem Ziel, seine Tätigkeit aufzugeben und damit den Weiterbetrieb der Schule mangels qualifiziertem Leitungspersonal einem Ende zuzuführen. Stefanies Großvater aber blieb seiner Überzeugung treu. Er gab keinen Schritt nach, lehnte eine Kündigung und eine berufliche Veränderung konsequent ab. Auch weitere Versuche, über das örtliche Stadtpfarramt eine Demission des Schulleiters zu erreichen, schlugen fehl und erreichten gerade das Gegenteil: Die Pfarrgemeinde und das Kinderheim rückten noch enger zusammen, um mit gemeinsamer Kraft den täglichen Gefahren zu begegnen. Das Ende des Zweiten Weltkriegs war für alle, die ohne ideologische Verblendung mit Realitätssinn die Frontverläufe betrachteten, längst absehbar. Die Wehrpflichtigen der Stefanies Großvater vorgehenden jüngeren Altersgenossen waren längst eingezogen worden, zu einem beträchtlichen Teil bereits gefallen. Der Großvater selbst jedoch war bis dahin verschont geblieben. Nach den Verwaltungsvorschriften, deren es im Dritten Reich zuhauf gab und die auch, selbst wenn sie größtes Unrecht bedeuteten, penibel beachtet wurden, war er als fünffacher Familienvater im Alter von über 40 Jahren nicht mehr zum Fronteinsatz verpflichtet.

    Es war ein grauer Oktobertag, als Weisser sich von seinem Adjutanten wieder einmal die Akte `Kinderheim´ auf den Tisch legen ließ. In einer schlaflosen Stunde der vorangegangenen Nacht war ihm der Gedanke gekommen, wie er sich des Problems entledigen könnte. Er rief die Sekretärin des Kreisleiterbüros zu sich herein und diktierte ihr folgenden Befehl:

    Anordnung der Kreisleitung: Die Kreisleitung macht von der Ausnahmeregelung der Wehrpflichtverordnung Gebrauch und befiehlt hiermit die Einberufung des Schulleiters Niemann zur Wehrmacht. Der Dienst ist am Tag nach Zustellung dieser Verfügung anzutreten.

    Die Entscheidung wurde noch am selben Vormittag durch Boten zugestellt. Am nächsten Morgen hatte sich der Schulleiter in der Kaserne zu melden. In den wenigen Minuten, die ihm zum Nachdenken verblieben, spielte er alle Handlungsmöglichkeiten zwischen Gehorsam und Fahnenflucht durch. Diese letzte Variante schloss er aus, zu groß war seine Angst, gefasst und hingerichtet zu werden, wie es nach einem entsprechenden Befehl vom März 1945 selbst in den letzten Apriltagen, kurz vor Kriegsende anderen Männern widerfahren ist. Noch am Abend des Tages rückte er mit einem Lastwagenkonvoi westwärts nach Frankreich ab.

    Aus der Nähe von Paris erreichten seine Familie dann noch einige Wochen lang Briefe, deren Stimmung mehr und mehr von Sehnsucht nach Heimat und Familie zur Hoffnungslosigkeit verschwamm, bevor dann nach gerade vier Monaten die Nachricht übermittelt wurde, dass er bei einem Luftangriff der Alliierten ums Leben gekommen ist.

    Der Kreisleiter hatte sein Ziel erreicht, die Stelle war vakant, fünf Kinder waren zu Waisen geworden, eine Frau zur Witwe gemacht. Sein ideologisch geprägtes Ziel, die Beseitigung der ganzen Kindereinrichtung christlicher Prägung, hatte er aber nicht mehr erreicht. Die verbleibenden vier Monate bis zur Kapitulation nutzte er zwischen öffentlichen Durchhalteappellen schwerpunktmäßig zur Vorbereitung seiner privaten Flucht vor den nahenden Alliierten.

    Stefanie schwieg, dann wechselte sie das Thema. „Schön, dass wir noch im alten Standesamt heiraten konnten, sagte sie unvermittelt zu Richard. „Hast du bemerkt, dass nebenan bereits Interessenten der Räumlichkeiten mit der Besichtigung des Gebäudes begonnen hatten? „Nein", sagte Richard. „Ich finde es schade, dass das

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