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Schlichter Dichter: Das Projekt Pegasus
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eBook328 Seiten4 Stunden

Schlichter Dichter: Das Projekt Pegasus

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Über dieses E-Book

Die Kollegen wundern sich: Heinrich Weinrich, geschätzter Chefreporter einer Regionalzeitung, spricht und schreibt eines Tages nur noch in simplen Versen. Er begründet dies so: "Die Lust am Reim sucht mich stets heim."

Sein Chefredakteur lässt ihn von einem Psychiater untersuchen. Ohne Befund. Weinrich landet in der Schlussredaktion des Blattes. Dort entdeckt ihn ein TV-Produzent. Der Proll-Poet tritt in einer Talkshow auf. Schnell ist er bekannt im ganzen Land, findet Nachahmer, bekommt eine eigene Kolumne, löst einen gewaltigen Medienhype aus, wird reich und berühmt. Weshalb er ausschließlich reimend kommuniziert, bleibt bis zum Schluss sein Geheimnis. Es geht um Liebe und eine ehrgeizige Forscherin.

Der Roman spielt im Medienmilieu. Er schildert anhand bekannter Personen der Zeitgeschichte und fiktiver Figuren, wie Trends zu einem Medienhype gepusht werden. Zahlreiche Reime des Protagonisten sind neu, andere dem Volksmund abgelauscht oder der Neuen Frankfurter Schule zu verdanken.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum11. März 2016
ISBN9783737592765
Schlichter Dichter: Das Projekt Pegasus

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    Buchvorschau

    Schlichter Dichter - Helmut Böger

    Impressum

    Copyright © 2016 bei Helmut Böger

    Verlegt bei epubli

    Umschlagillustration: © Seamartini Graphics / Fotolia.com

    Gestaltung und Satz: me+Gestaltung

    Endkorrektur: Dr. phil. Jens Szczepanski

    Printed in Germany

    ISBN 978-3-7375-8839-3

    Strafversetzt

    „Je preiser gekrönt, desto durcher gefallen. Buddha, wie wir den Chefredakteur wegen seiner Leibesfülle nannten, hatte gesprochen. Der Ressortleiter des Feuilletons, ein Opportunist, und zwar ein einfallsloser, pflichtete ihm wie üblich bei: „Ein Satz für den Zitatenschatz! Buddha, ansonsten jeder Schmeichelei zugeneigt, erwiderte: „Ja, leider nicht von mir, auch nicht – wie oft behauptet – von Alfred Kerr, sondern von Josef Hellmesberger. Das war ein österreichischer Musiker des 19. Jahrhunderts."

    „Und was passiert nun?", fragte ich in die Runde der Ressortleiter, in die ich nur vertretungsweise geladen war, denn mein Boss, der Chef des Sportressorts, war wieder mal auf einer gesponserten, überflüssigen Dienstreise.

    Buddha legte beide Daumen unter seine blauen Hosenträger, tat so, als denke er nach und kümmere sich nicht um die Versammlung der leitenden Redakteure. Dann spannte er die wegen seines Bauchumfangs notwendigen Beinkleidhalter, ließ sie zurückschnellen, strich sich wie häufig über seinen im Laufe von Jahrzehnten, die er bei seiner Zeitung verbracht hatte, ergrauten stattlichen Schnurrbart und sagte, ihm sei die Entscheidung im Falle Heinrich Weinrich alles andere als leichtgefallen, der sei ja nun genauso lange bei dem Blatt wie er selbst, und habe große Meriten. „Kein anderer Kollege einer vergleichbaren Regionalzeitung hat sowohl den Henri-Nannen- als auch den Theodor-Wolff-Preis bekommen, und zwar zu Recht. Ich weiß ja, dass der Spiegel und der Stern und wohl auch Die Zeit hinter ihm her waren und ihn abwerben wollten. Aber er ist geblieben. Das rechne ich ihm hoch an, auch die Verlegerin übrigens, mit der ich gestern lange über diese Personalie gesprochen habe. Sie sieht es genau so wie ich: Heini Weini – jetzt benutzte Buddha mit leicht verächtlichem Unterton den Spitznamen des Chefreporters – „ist nicht mehr zu halten, jedenfalls nicht in seiner jetzigen Funktion. Das können wir den Lesern nicht zumuten.

    „Also Entlassung?, fragte die Betriebsratsvorsitzende mit hektischen roten Flecken im Gesicht. „Wie wollen Sie das denn gegenüber Kress und Co, also nach außen, begründen? Wir machen uns doch als Zeitung lächerlich, wenn wir jemanden rausschmeißen, weil er nur noch in Reimen redet …

    „… und schreibt! Das ist ja das Schlimme, unterbrach Buddha die Arbeitnehmervertreterin, „aber beruhigen Sie sich. Von Entlassung ist überhaupt nicht die Rede. Sie alle wissen doch, dass ich ein großer Freund der Lyrik bin, also guter Gedichte. Schließlich habe ich über Else Lasker-Schüler promoviert …

    „Fakten und Fiktion über das Wupper-Tal im Werk von Else Lasker-Schüler", nannte der Ober-Feuilletonist eilfertig den Titel von Buddhas Dissertation, als ob der irgendeinem im Raum unbekannt gewesen wäre.

    „Schon gut, Herr Kollege, wies der Chefredakteur den Redaktions-Schleimer zurecht, „es geht ja nicht nur um Heini Weini, sondern um die Reputation des Blattes. Deshalb wird er ab sofort die Schlussredaktion übernehmen. Er wird also nur versetzt …

    „Strafversetzt!", kommentierte der Politik-Chef, der gerade von einer Wehrübung in Munster zurückgekehrt war.

    Nun wurde Buddha böse. „Er wird versetzt. Und um gleich einen Einwurf der verehrten Arbeitnehmervertreterin zu entkräften: bei Fortzahlung seiner bisherigen Bezüge. Mir ist durchaus bewusst, dass wir wegen der schwierigen Lage im gesamten Printsektor kürzlich die gesamte Schlussredaktion entlas … äh freisetzen mussten. Aber wir alle haben ja bemerkt, dass kein Rechtschreibprogramm einen erfahrenen Schlussredakteur ersetzen kann. Und dass Kollege Weinrich den neuen Job kann, daran gibt es ja wohl keinen Zweifel in dieser Runde. Ein drohendes „Oder? folgte.

    Der Ressortleiter Politik, der wegen seines Ranges als Major der Reserve gern militärische Begriffe verwendete, räusperte sich und fragte: „Weiß Kollege Weinrich von seiner Straf … also von seiner Anschlussverwendung? – „Ja, er ist einverstanden, habe heute mit ihm gesprochen, antwortete der Chefredakteur. „Und wie hat er reagiert?", fragte ich, obwohl mir durchaus bewusst war, dass ich, der nur als Vertretung an der Ressortleiter-Runde teilnehmen durfte, eigentlich nur zuhören sollte.

    Doch Buddha reagierte gnädig. „Na, wie wohl? Mit schlechten Reimen. Er sagte, wenn ich mich richtig erinnere: ‚Der neue Job ist mir eine Ehre, gegen die ich mich nicht wehre. Denn einem Redakteur ist nichts zu schwör. Doch auch in Zukunft werde ich nur noch in Reimen schreiben und auch sprechen. Dies ist kein Verbrechen. Erstens kommt der Reim, dann kommt der Sinn. Sinnverlust ist Lustgewinn.‘ "

    Während wir das Zimmer des Chefs verließen, raunte mir die Leiterin der Wirtschaftsredaktion, die während der gesamten Konferenz geschwiegen hatte, zu: „Der Zwang zum Reim sucht auch mich oft heim!"

    Carbonara-Klatsch

    Kurz vor Mittag nach dieser denkwürdigen Ressortleiter-Konfi rief mich Marlene an, die wir alle Lene nannten und wegen ihrer burschikosen Art mochten, aber auch, weil ihr dominanter Busen die Fantasie der männlichen Redakteure, zumindest die der Heteros, beflügelte. Seit vielen Jahren war Lene, die ihr eigentlich dunkles Haar seit geraumer Zeit grau färbte, was ihrem Sex-Appeal keineswegs abträglich war, Sekretärin im Lokalressort und half auch gelegentlich im Vorzimmer der Verlegerin aus.

    Lene, so hieß es, wußte alles und plauderte nie, also so gut wie nie. Sie wusste genau, wem sie etwas anvertrauen konnte an kleinen und großen Geheimnissen. Und manchmal informierte die große Strategin die Klatschmäuler im Verlag in der sicheren Hoffnung, dass ihre Infos weitergetratscht würden. Doch wen sie ins Vertrauen zog, der hatte gewonnen. Ich gehörte zu dem elitären Marlene-Zirkel, obwohl ich erst seit wenigen Jahren bei dem Blatt war.

    Warum ich ihr Vertrauen genoss, kann ich nur vermuten. Gesprochen haben wir nie darüber. Während einer Karnevalsfeier in der Redaktion vor drei Jahren hatte sich Lene ziemlich sinnvoll betrunken. Wenn ich mich richtig erinnere, hatte sie Zoff mit ihrem geschiedenen Mann. Aber der Grund ist auch ziemlich egal. Ich hatte sie damals nach Hause gefahren und die Situation nicht ausgenutzt, sondern sie nur brav in ihr Bett gebracht und mich dann verabschiedet – was mir keineswegs leicht gefallen war. Jetzt fragte Lene, ob ich Lust habe, mit ihr eine Nudel zu essen in der Pizzeria „Roma" gegenüber dem Verlagshaus. Da ich Kantinenessen möglichst meide, sagte ich gerne zu.

    Ich kam ein paar Minuten zu spät, weil mich mein Sport-Chef anrief und mir unbedingt mitteilen musste, wie anstrengend doch seine Dienstreise sei. Ich hörte mir sein Gelaber an und wünschte ihm zum Abschied „ereignisreiche Tage". Doch ein Ohr für Ironie hatte er nie. Ach, das reimt sich.

    Beim Betreten der Pizzeria rief mir Lene grinsend zu: „Hallo, mit Oma ins Roma! Nach Reimscherzen war mir seit der Buddha-Konfi nun gar nicht. „Na, Oma bist du noch nicht, antwortete ich einfallslos. „Aber meine Tochter arbeitet daran, erwiderte Lene und reichte mir die Speisekarte. „Ach, die brauch’ ich nicht. Ich nehme das Carpaccio mit Champignons. Als Sportmensch muss ich auf meine Figur achten. Lene lächelte mich mit ihrem immer noch puppigen Gesicht an und stellte kokett fest: „Ich darf nicht abnehmen. Sonst passiert es noch an den falschen Stellen. Deshalb hätte ich gern eine ordentliche Portion Spaghetti carbonara."

    Kaum hatten wir bei Luigi, der aus Pakistan stammte, aber um der „Roma-Reputation willen vom kalabrischen Patron einen italienischen Vornamen erhalten hatte, bestellt, wurde Lene ernst. „Sag mal, Sven, bist du sicher, dass Buddha die Wahrheit gesagt und er dem Heini den Arsch gerettet hat?

    „Hm, zögerte ich mit der Antwort, „ich bin mir da nicht so sicher, aber vielleicht doch. Die beiden haben hier ja gleichzeitig angefangen, und von Buddha habe ich in all den Jahren kein böses Wort über Heini gehört.

    „Also, was ich dir jetzt sage, ist absolut entre nous, – diese Formulierung liebte Lene – „nur Heini kannst du es sagen, solltest du sogar, damit er weiß, woran er ist. Ihr beiden seid doch befreundet. Oder irre ich mich da? – „Na, da bin ich mir nicht so sicher, dachte ich laut nach, „so’n Zwischending zwischen guten Kollegen und Freunden. Wir sind ein paarmal zusammen beim Fußball gewesen; er hat gelegentlich, wenn er mal in der Redaktion war und nicht irgendwo in der weiten Welt, meine Texte verbessert, ohne dass er sich damit Kollegen gegenüber gebrüstet hätte. In seiner Stammkneipe, der ‚Adlerklause‘ am Alten Markt, haben wir auch schon mal zusammen ein Bier getrunken. Ich glaube übrigens, Heini und die Wirtin, also da ist mehr.

    „Weiß ich doch, ist ja auch ein attraktiver Kerl, der Heini, einer, bei dem sich Frauen wohlfühlen, nicht nur weil er so etwas Bäriges hat. Er kann Menschen und speziell Frauen gut unterhalten und zum Lachen bringen, jedenfalls langweilt man sich nicht bei ihm", schwärmte Lene.

    Ich guckte sie neugierig an. „Nein, nicht was du nun wieder denkst. Heini und ich, wir waren immer nur gute Kumpel. Ach du Scheiße, unterbrach sie sich, „jetzt habe ich schon ‚waren‘ gesagt. Wir sind gute Kumpel und wollen es bleiben, auch wenn er nun nicht mehr Chefreporter ist, Heini, der Reimer. Ich fass’ es nicht.

    „Aber was wolltest du mir denn Geheimnisvolles anvertrauen, so ganz entre nous?", lächelte ich sie verschwörerisch an.

    Da der pakistanische Luigi gerade den Teller mit der üppigen Portion Spaghetti auf den Tisch gestellt hatte, wickelte Lene eine mundgerechte Portion um die Gabel. Ohne einen Löffel zu benutzen, stopfte sie sich die Teigwaren in den Mund, kaute genüsslich und schaute mich mit ihren grünen Augen an.

    „Buddha wollte Heini loswerden, rausschmeißen. Ich weiß das deshalb, weil sie mir das selbst gesagt hat. Ganz konsterniert war die Verlegerin. Ich war nämlich gestern zur Vertretung im Chefsekretariat, weil Madame – so nannten wir wegen ihres vornehmen Getues die eigentliche Assistentin der Verlagsinhaberin – „ihre Tage hatte oder nicht kacken konnte oder warum auch immer. Und Buddha war beim Vieraugengespräch mit der Chefin. Und als der raus war, musste ich sie mit dem Justiziar verbinden. Und als das Gespräch beendet war, kam sie raus und war ganz bleich, wollte einen Cognac haben, obwohl sie doch sonst nie Alkohol trinkt. Und dann ist es ihr nur so rausgeplatzt. ‚Wie kann man sich in einem Menschen so täuschen‘, hat sie gesagt, ‚da denkt man, der Herr Chefredakteur und unser allseits hochgeschätzter Chefreporter seien ein kollegiales Team, dass sie einander sogar mögen, und dann so etwas. Da will er die Existenz eines Menschen vernichten, zumindest die berufliche, nur weil der so eine Art Reimzwang hat. Aber nicht mit mir. Ich rede ja grundsätzlich nicht in die Redaktion hinein, aber diesmal habe ich es getan. Heinrich Weinrich bleibt.‘ Ja, das hat sie gesagt, die Chefin, und dafür hätte ich sie am liebsten geküsst.

    Mir fiel nach dieser Offenbarung nichts anderes ein als zu fragen: „Warum hast du es nicht getan? Es heißt doch, sie stehe auf Frauen – „Ich aber nicht, stellte Lene genussvoll kauend fest.

    Verlegene Verlegerin

    Was Lene mir zum Weitererzählen anvertraut hatte, das hatte mich ziemlich erstaunt. Es war tatsächlich höchst ungewöhnlich, dass die Verlegerin, die sich selbst niemals so nannte, sondern Mehrheitsgesellschafterin, eine Entscheidung des Chefredakteurs missbilligte und sogar widerrief. Zumal, wenn dies Geld kostete, ihr Geld.

    Ich war ihr ein paar Mal begegnet, meist auf Reitturnieren. Früher, als junge Frau, war sie, wie ich in Archiven überregionaler Blätter recherchiert hatte, eine talentierte Amazone und wäre beinahe in die Nationalmannschaft der Dressurreiterinnen gekommen. Wenn wir uns trafen, war ich immer bemüht, meine mangelnden Reitsportkenntnisse zu kaschieren. Ich bin nun mal ein Fußballmensch. Obwohl sie merken musste, dass ich von ihrer Leidenschaft bestenfalls Wikipedia-Wissen hatte, war sie gleichbleibend freundlich, kühl-freundlich.

    Einmal, als ich erst kurz bei ihrer Zeitung angestellt war, ihre Marotten noch nicht kannte und sie mit „Ah, meine Verlegerin linkisch begrüßt hatte, wies sie mich höflich zurecht: „Lassen Sie das. Verlegerin, das macht mich ganz verlegen. Ich verlege höchstens meine Brille.

    „Ja, aber …, widersprach ich. „Kein aber. Mein Vater, der war Verleger mit Leib und Seele. Mein Bruder wäre es geworden, ganz sicher, wenn er … Der Satz verhungerte unvollendet. Sie fuhr fort: „Ich bin nur die Erbin, die Verwalterin eines gelegentlich bedrückenden Nachlasses. Aber lassen wir das. Schauen Sie sich lieber die elegante Gangart dieser Schimmelstute an." Ich gehorchte.

    Nach diesem Gespräch mit der verlegenen Verlegerin fragte ich am nächsten Tag Heinrich Weinrich, der gerade von einer Reportage über das Albert-Schweitzer-Hospital in Gabun zurückgekehrt war, ob er mich über die Geschichte der Zeitung und der Verlegerfamilie aufklären könne. „Klar, mache ich gerne und sofort, grinste der Chefreporter, der zu jener Zeit noch ganz normal und reimlos sprach, „ich suche nämlich gerade nach dem besten Einstieg in die Lambarene-Story, und weil mir bisher keiner eingefallen ist, bin ich für jede Ablenkung dankbar. Er fingerte aus einem auf dem Schreibtisch stehenden Humidor eine mittelgroße Zigarre, biss mit seinen gelblichen Zähnen ihren Kopf ab und entzündete sie mit höchster Konzentration. Eigentlich herrschte im gesamten Verlagsgebäude auf Anordnung der Verlegerin, die nicht so tituliert werden wollte, Rauchverbot seit den Tagen, als sie selbst mühsam dem Nikotin entsagt hatte. Aber Heinrich Weinrich als privilegierter Einzelzimmerbewohner ignorierte diesen Ukas wie viele der älteren Redakteure.

    „Also, lieber Kollege, es folgt die Geschichte unserer kleinen, aber immer noch feinen Zeitung im Schweinsgalopp, und zwar so, wie sie nicht im Internet steht. Sie beginnt Ende der 30er Jahre, als der Gründer, ein knorriger Sozialdemokrat, vor den Nazis nach England ins Exil flüchtete. Die Braunen nahmen ihm weniger sein Sozi-Sein übel, sondern dass er sich nicht von seiner jüdischen Frau scheiden lassen wollte. Im Exil hat er sich mehr schlecht als recht durchgeschlagen mit Schreiben, obwohl das nie seine Stärke war. Immerhin hat er mit Thomas Mann korrespondiert, wird sogar mehrfach in dessen Tagebüchern erwähnt, wenn auch nicht immer schmeichelhaft. Nachdem der Nazi-Spuk vorbei war, bekam er von den Briten die Lizenz fürs Zeitungsmachen, das war kurz nach dem Krieg gleichbedeutend mit der Erlaubnis, Geld zu drucken."

    „Wie, musste man damals eine Lizenz haben, um eine Zeitung zu gründen?, fragte ich; Geschichte hatte mich in der Schule nämlich immer gelangweilt. „Ja, musste man, erklärte mir der Chefreporter nachsichtig, „nun hatte er also die Lizenz und suchte Redakteure, ein paar kannte er, oder sie wurden ihm von der SPD empfohlen. Dann stellte er den Walter Wiese ein. Sagt dir der Name was?"

    „Nee", zuckte ich mit den Schultern.

    „Also, Wiese war ein glänzender Organisator und guter Schreiber. In seinem Lebenslauf hatte er auch nicht verschwiegen, dass er im Krieg Offizier war. Doch hatte er vergessen zu erwähnen, dass er dies nicht in der Wehrmacht, sondern in der Waffen-SS war. Unser Verleger hatte dem Wiese völlig vertraut. Als er die Wahrheit erfuhr, irgendwann in der späten 50ern, war er fix und fertig. Das hat er mir selbst mal so erzählt."

    „Du kanntest ihn also noch?", fragte ich.

    „Na klar, er hat mich und Buddha ja noch selbst eingestellt, am selben Tag. Deshalb genieße ich hier in der Redaktion nicht nur Presse-, sondern auch Narrenfreiheit."

    Weinrich lachte und musste husten. Er fuhr dann fort: „Doch die Folgen des Falls Wiese waren schlimm. Der Alte, eigentlich ein vertrauensvoller Kumpeltyp, wurde extrem misstrauisch. Und dann passierte die Sache mit seinem Sohn, ein Sonnyboy, der die Frauen liebte und den Whisky und seine heißen BMWs. Völlig blau lenkte er seine Maschine gegen den einzigen Baum auf der Landstraße nach Norden, da wo heute noch das Kreuz steht, nicht das Kreuz, sondern eines von vielen, denn die Kreuze werden oft geklaut. Nach dem Tod seines Sohnes war der Alte nicht mehr nur extrem misstrauisch, er war ein gebrochener Mann."

    „Selbstmord?", fragte ich.

    „Dafür gab es keinen Grund. Der Sohn war überhaupt nicht der Typ dafür, sich selbst umzubringen. Nee, Todesursachen waren eindeutig Whisky und BMW. Der Alte bestimmte nun, dass seine Tochter – die Mutter war schon länger tot – den Verlag erben sollte. Doch die zickte rum, wollte lieber ihr Studium der Kunstgeschichte in Florenz beenden. Naja, der Alte hat sie dann doch überredet oder überzeugt oder genötigt. Ich weiß es nicht, war ja nicht dabei, leider. Wäre sicher eine tiefgründende Geschichte gewesen."

    „Aber sie macht ihre Sache doch ganz gut, oder?", warf ich ein.

    „Naja, jetzt. Zu Anfang machte sie einige Fehler. Weißt du, was ihre erste Entscheidung war?"

    „Nee, wie sollte ich?"

    „Recherchieren, Herr Kollege!", klang es jetzt etwas von oben herab, „ihr erster Ukas nach dem Tod des Alten aus physischem und psychischem Gram war, ein totales Alkoholverbot zu verhängen nicht nur in der Kantine sondern im ganzen Verlag. Darüber stand eine Personalie im Spiegel. Seitdem hält sich unsere First Lady völlig raus, bis auf das Rauchverbot, also nach außen jedenfalls. Nur in Personalfragen, da mischt sie intern kräftig mit, und durchaus mit Erfolg. Denn eines hat die Dame neben ihrem unbestrittenen Kunstverstand: eine fast schon bedrohliche Menschenkenntnis. Sie durchschaut jeden Blender spätestens nach fünf Minuten."

    Nun wurde mir mulmig wegen der Begegnung mit ihr beim Reitturnier. Ich dachte kurz nach und war sehr zufrieden, dass unser Gespräch nicht einmal zwei Minuten gedauert hatte.

    Heinrich Weinrich blies einen Rauchkringel in sein Büro und fragte mich: „Kennst du eigentlich den Spruch, der hinter ihrem Schreibtisch hängt? – „Nein, antwortete ich wahrheitsgemäß, „ich hatte noch nicht das Vergnügen, ihr im Chefbüro eine Visite abstatten zu dürfen."

    „Sei froh, grinste Weinrich, „denn das ist meistens unangenehm. Also der Spruch lautet: ‚Die erste Generation schafft Vermögen, die zweite verwaltet Vermögen, die dritte studiert Kunstgeschichte und die vierte verkommt vollends‘. Stammt von Bismarck. Und wenn jemand unsere Besitzerin darauf anspricht, dann sagt sie ‚Sie sprechen hier übrigens mit der zweiten Generation.‘ Das nennt man wohl Selbstironie oder wie. Au, das reimt sich.

    Ich bedankte mich bei meinem Mentor und machte mich auf den Weg zu meinem Schreibtisch. Unterwegs fiel mir ein, dass ich gar nicht danach gefragt hatte, warum die unzweifelhaft kluge und auch nun im fortgeschrittenen Alter nach wie vor attraktive Frau nicht verheiratet war, ob die Gerüchte, sie ziehe Frauen Männern vor, denn stimmten. Doch ich traute mich nicht umzukehren.

    Semi-Journalismus

    Der Tag, an dem Heinrich Weinrich zum ersten Mal nach seinem Zwangsurlaub wieder in der Redaktion auftauchte, war der wohl verrückteste in meinem Leben. Na ja, der zweitverrückteste.

    Den bizarrsten erlebte ich als fünf Jahre alter Bub, wie meine Oma mich immer nannte, nachdem ich einer Nonne in meinem katholischen Kindergarten die Haube vom Kopf gerissen hatte, um zu erfahren, ob sie wirklich, wie mein Freund Marvin behauptete, kahl rasiert war. Ich bekam von Schwester Walburga eine schallende Ohrfeige und musste wegen „Insubordination" – was das genau bedeutet, musste meine Mama im Duden nachschlagen – den frommen Kindergarten verlassen. Doch wusste ich nun, dass Schwester Walburga keineswegs eine Glatze trug, sondern ihre Haare raspelkurz. Und ich hatte erfahren, dass Wissenwollen schmerzhaft sein kann. Marvin hat mich sehr bewundert.

    Obwohl ich brennend gern wissen wollte, wie Heinrich Weinrich seine Degradierung vom Chefreporter zum Schlussredakteur aufgenommen hatte, und ob er immer noch ständig in schlechten Reimen sprach und schrieb, zögerte ich, ihn in seinem Exil-Büro unterm Dach zu besuchen. Mir wollte einfach kein Vorwand einfallen.

    Also las ich die neueste Ausgabe des Kicker noch sorgfältiger als sonst, guckte im Internet, was die Kollegen von bild.de produziert hatten, trank einen Kaffee mehr als üblich und fragte den Büroboten, während dieser die Post verteilte, ob er schon bei Weinrich gewesen sei. „Jaaa, sagte er sehr gedehnt und fiel ins Flüstern, „der hat es da ganz gemütlich unterm Dach, der ganze Dachboden für einen Mann, dat is doch Verschwendung. Da kann er tun und lassen, wat er will. Es stinkt auch schon wie in seinem alten Zimmer nach Zigarrenqualm. Aber, dat janz im Vertrauen, bei der Post für ihn war auch ein Brief von einer Klinik für Psiatrie.

    „Psychiatrie?, fragte ich den unüberhörbar aus dem Rheinland stammenden Boten. Er nickte: „Sach‘ ich doch!

    Sollte, überlegte ich, Heinrich Weinrich gar nicht nur freigestellt oder beurlaubt gewesen sein in den vergangenen Wochen, sondern im Irrenhaus gesessen haben wegen seines Reimticks? Das Wort „Irrenhaus" strich ich gleich aus meinen Gedanken. Unkorrekt.

    Nun gönnte ich mir keinen Aufschub mehr, Weinrich unterm Dach aufzusuchen, auch wenn mir seit Kindergartentagen bewusst war, wie schmerzhaft Erkenntnis sein kann.

    Die Redaktion und die Verlagsspitze arbeiteten in einem großzügigen Bürgerhaus in der Innenstadt. Der Verleger hatte das im Krieg durch Bomben weitgehend zerstörte Haus Anfang der 50er Jahre, als es mit seinem Blatt aufwärts ging und er ziemlich schnell ziemlich reich wurde, gekauft und für viel Geld restaurieren lassen. Nun stand es unter Denkmalschutz. Innen war das Gebäude gerade noch zeitgemäß. Wir normalen Redakteure saßen auf fünf Etagen verteilt in größeren Räumen zu dritt, viert oder fünft, je nach Größe des Ressorts, die Ressortleiter hatten kleine Einzelbüros, ebenso die zwei stellvertretenden Chefredakteure, Buddha und die Verlagschefin repräsentierten in repräsentativen Räumen, den ehemaligen Salons. Nur zwei Personen, die nicht über „Personalverantwortung, wie das im Managerdeutsch heißt, verfügten, hatten Einzelzimmer. Chefreporter, nun also a. D., Heinrich Weinrich und die „Ratgeber-Tante, wie wir Rosi Heckmann heimlich nannten. Sie gab Lesern gute oder zumindest gut gemeinte Ratschläge für alle Lebenslagen, wenn es mit dem Sex nicht mehr klappte, oder die Rente falsch berechnet worden war, wenn der Hund Durchfall oder ihre Rosen Läuse hatten. Einmal in der Woche, immer samstags, schilderte Rosi Leserfragen und gab Antworten, die sie für lebensklug hielt. Wir, die wir uns für richtige Journalisten hielten, nahmen sie nicht ernst. Doch bei jedem Copytest schnitten ihre Beiträge bei den Lesern besser ab als die politischen Kommentare oder die preisgekrönten Reportagen von Heinrich Weinrich. Ein Grund, weshalb die beiden sich nicht mochten, und er ihre Texte als „Semi-Journalismus oder als „Gesülze abtat.

    Fünf Etagen waren durch zwei Fahrstühle und einen Paternoster erreichbar. Doch zum sechsten Geschoss, wo bis zu ihrer Entlassung drei Schlussredakteure unterm Dach Dach inmitten ausrangierter Möbel und Bänden mit vergilbten Zeitungen gearbeitet hatten, führte nur eine knarrende Holztreppe. Ich stieg hinauf, klopfte oben an der Tür und hörte Weinrichs Bass: „Komm herein, sei ein Schwein, bring Glück herein."

    Ich trat ein und musste mich zunächst an das Dämmerlicht gewöhnen. Der Raum erstreckte sich über das ganze Haus und bekam durch vier Fenster in den Dachgauben nur spärlich Tageslicht. Mitten in dem riesigen Raum, der auf mich wirkte wie ein gut aufgeräumtes Sperrmülllager oder eine vergessene Bibliothek, stand ein Schreibtisch, darauf ein Apple-Computer, eine Zigarren-Klimabox und das Bild einer attraktiven, jungen Frau. An der Wand hing ein gerahmtes Foto. Es zeigte eine Masse von Menschen, davon viele in Uniform, die die rechte Hand zum Hitlergruß erhoben hatten. Nur ein Mann stand da und hielt seine Arme verschränkt.

    Heinrich Weinrich bemerkte, dass ich etwas ratlos auf das Foto schaute und begann, es zu erläutern: „Auf den Führer scheiß‘ ich, dachte der Arbeiter Landmesser im Jahre Neunzehnhundertneununddreißig. Er weigerte, sich den Führer zu grüßen, dafür musste er mit dem Leben büßen. Von ihm wäre nichts geblieben, hätte ich nicht über ihn geschrieben."

    Ganz kapiert hatte ich das nicht. Einige Tage später habe ich recherchiert, was es mit dem Foto auf sich hat. Im Frühjahr 1939 hielt Hitler in Hamburg bei der Werft Blohm + Voss die Taufrede beim Stapellauf des Schlachtschiffs „Bismarck". Während alle Mitarbeiter den Führer mit dem deutschen Gruß ehrten, verschränkte der Arbeiter August Landmesser als Einziger auf dem Foto die Arme. Der Grund: Weil er ein jüdisches Mädchen liebte, war er wegen Rassenschande verurteilt worden.

    „Wie geht es dir so?, begann ich mit dieser unverbindlich-doofen Standardfrage das Gespräch, setzte dann hinzu: „Reimst du immer noch andauernd? Heinrich Weinrich lächelte mich undurchdringlich an, sodass mir nicht klar wurde, ob er mich auf den Arm nehmen wollte oder seinem Reimzwang folgte: „Ruhig Blut, mir geht es gut. Ich sitze über den Dächern der Stadt und fresse mich an miesen Texten satt. Korrigiere der Kollegen Orthografie und hüte die Worte wie der Bauer das Vieh. Nach wie vor ist mir das Reimen Lust, es erspart mir manchen Frust."

    „Mal ehrlich, versuchte ich den kollegialen Frontalangriff, „kannst du nicht auch ganz normal wie wir alle reden und schreiben?

    Seine Antwort kam so schnell, wie andere ungereimt reden: „Normal, das ist mir zu pauschal. Klar kann ich reimlos reden und auch schreiben. Doch dann könnte ich mich selber nicht mehr leiden. Auch der Psychiater, bei dem ich auf Buddhas Wunsch zur Untersuchung war, schreibt in seinem Bericht

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