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Der Jahrhundertroman
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eBook303 Seiten4 Stunden

Der Jahrhundertroman

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Über dieses E-Book

Ein wunderbar ironischer Roman über eine junge Frau, einen alten Mann und die Kraft der Literatur.

Als Buchhändler war der alte Herr Roch stets von Büchern umgeben, nun hat er selbst einen "Jahrhundertroman" geschrieben. Es soll darin um Literatur gehen – von Musil und Roth bis zu Bachmann und Handke. In Geschichten, in denen der Möglichkeitssinn die Wirklichkeit oft ausblendet. Die Studentin Lisa, Kellnerin in Rochs Stammcafé, soll das Manuskript für ihn abtippen. Da sie Rochs Schrift nicht lesen kann, will er ihr diktieren, doch alles ist heillos durcheinandergekommen. Zwischen dem alten Mann, der voller Geschichten steckt, und der jungen Frau, die ihm nicht alles glaubt, entwickelt sich eine ambivalente Beziehung. Doch Lisa hat auch andere Sorgen: Ihre Freundin Semira soll abgeschoben werden. Kann Rochs Bücherlager ihr Zuflucht bieten?
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum24. Aug. 2021
ISBN9783701746439
Der Jahrhundertroman

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    Buchvorschau

    Der Jahrhundertroman - Peter Henisch

    1

    Zwei Euro pro Seite, hatte Herr Roch gesagt. Zwei Euro pro Seite würde er ihr bezahlen. Es ginge darum, ein Manuskript abzutippen. Ein Manuskript, an dem ihm gelegen sei.

    Sie würde sich etwas dazuverdienen und ihm würde sie einen Gefallen tun. Einen großen Gefallen, denn an diesem Manuskript sei ihm viel gelegen. Es handle sich nämlich um einen Roman. Um einen Roman, an dem er seit Jahren schreibe und an dem er, wenn sie ihn recht verstanden hatte, noch weiterschreiben wolle.

    Aber zuerst ginge es darum, das Vorhandene zu überblicken.

    Das Wort überblicken aus dem Mund des Herrn Roch! Beinahe peinlich – der alte Mann war extrem kurzsichtig. Sein Blick durch die dicken Brillen tat ihr fast weh.

    Wenn er die Zeitungen las, tief über den Tisch gebeugt, an dem er für gewöhnlich saß, dem Tisch in der Ecke neben dem Notausgang, verwendete er zusätzlich eine kleine Lupe. So eine, wie sie die Markensammler gebrauchten, die sich jeden Dienstag hier trafen. Das war einer der Tage, an denen Lisa relativ viel zu tun hatte. Auch am Freitag tat sich einiges, da kamen die Damen, die Canasta oder Tarock spielten. Sonst war der Job im Café Klee eher beschaulich.

    Aber ist dir da nicht stinklangweilig? hatte Ronnie gefragt.

    Als er sie noch manchmal abgeholt hatte, also am Anfang des Semesters.

    Da ist ja nichts los, hatte er gesagt, ich würde das keine zwei Wochen aushalten.

    Lisa hielt es schon mehr als zwei Monate hier aus.

    Das hier war einmal eine gute Gegend, sagte die Chefin, das Geschäft hat floriert. Das kann man sich heutzutage gar nicht mehr vorstellen. Damals haben wir hier noch zwei Billardtische gehabt und eine eigene Backstube haben wir betrieben. Da sind noch Cremeschnitten und Torten in der Vitrine gelegen, nicht nur die paar Schokobrezel und Manner-Schnitten.

    Trotzdem sollte Lisa manchmal die Scheiben der Vitrine polieren. Es durfte ja nicht so aussehen, als hätte sie nichts zu tun. Und die Tischplatten aus echtem Marmor, von denen einige zwar schon Sprünge, aber immer noch eine gewisse Würde hatten, sollte sie bitte abwischen. Auch wenn noch gar niemand darauf gefrühstückt hatte.

    Wenn sich Lisa dann in eine der mit ehemals grünem Samt tapezierten Nischen setzte und ihren Laptop aufklappte, hatte Frau Resch allerdings nichts dagegen. Sie ging davon aus, dass ihre Aushilfe etwas für die Uni tippte. Was studieren Sie, hatte sie gefragt, als sie Lisa eingestellt hatte, aha, schön. Lisa hatte den Verdacht, dass sie vielleicht selbst einmal studiert hatte.

    Doch dann war ihr Studium wahrscheinlich im Sand verlaufen oder es war etwas dazwischengekommen. (Ein Mann, ein Kind, eine Ehe, eine Scheidung, eine Depression.) Darüber wollte Frau Resch aber nicht gern reden. Die zwei oder drei Mal, als Lisa sie doch darauf ansprechen wollte, wandte sie sich rasch ab und ging in die Küche.

    Wie flink Sie tippen! sagte Herr Roch. Das könnte ich nie.

    Er habe immer nur mit zwei Fingern getippt. Wenn es nötig war. In seinem früheren Leben. Aber das liege schon ein paar Jahre zurück.

    Den Roman jedoch habe er natürlich mit der Hand geschrieben. Es war ihm wichtig, die Gedanken direkt vom Kopf in die Hand fließen zu lassen. Leider hatte er dann seinen Schlaganfall gehabt. Mein Schlaganfall, sagte er. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der er von seinem Roman sprach.

    Mit dem er nun, sagte er, wieder in Schwung kommen wolle. Wobei ihm Lisa entscheidend helfen könne. Indem sie vorerst abtippe, was schon vorliege. Zwei Euro pro Seite. Das sei doch ein faires Angebot.

    Hallo, liebe Semira, tippte Lisa,

    sorry, dass ich mich so lang nicht gerührt hab. Liegt daran, dass ich eine Weile gebraucht hab, um mich auf die Situation hier in Wien einzustellen. Hab an der Uni inskribiert und einen Platz in einer WG gefunden.

    War und ist aber beides nicht ohne Probleme. Also die Uni: nichts als Hektik am Anfang. Z.B. hätte ich beinah den Anmeldetermin für so ein blödes Proseminar versäumt. Und dabei war es wichtig, ausgerechnet in dieses Proseminar hineinzukommen.

    Sonst verlierst du gleich Zeit, bist, kaum dass du zu studieren angefangen hast, schon im Rückstand. Hat Ronnie gesagt, der mir gerade noch rechtzeitig über den Weg gelaufen ist. Oder bin ich ihm über den Weg gelaufen? Ist eine Frage der Perspektive, nicht wahr? Jedenfalls ist er bereits im dritten Semester und kennt sich aus. Nicht nur an der Uni kennt er sich aus, sondern auch in der Stadt. Ronnie kennt nicht nur nur billige Mensen und Shops. Er kennt auch jede Menge coole Lokale.

    Außerdem hat er mir ja ganz gut gefallen. Mit seiner ständigen Besserwisserei ist er mir aber schon bald auf die Nerven gegangen. Und vielleicht war es doch keine so gute Idee, gleich mit ihm in diese WG zu ziehen. Wo wir zwar zwei durch einen Gemeinschaftsraum getrennte Zimmer haben, aber anfangs oft in einem Bett gelandet sind.

    Der Job, den ich hier gefunden habe, ist aber okay. Kellnerin in einem Kaffeehaus im 17. Bezirk. Ein Job, bei dem ich mir die Arbeit einigermaßen einteilen kann. Halbwegs kompatibel mit den Vorlesungen, die ich besuchen muss.

    Die Chefin (Fr. Resch heißt sie) hat Verständnis dafür. Aber was sie mir zahlen kann, ist nicht viel. Einen kleinen Zuschuss könnt ich schon brauchen. Hab um Studienbeihilfe angesucht, doch ob ich die bekommen werde, ist alles andere als sicher.

    Mein Vater verdient zu gut, und dass ich kein Geld mehr von ihm nehmen will, ist eigentlich Privatsache. Die Kolleginnen in der Beratungsstelle der Hochschülerschaft haben gemeint, ich kann das ja als Anmerkung ins Einreichungsformular schreiben. Aber vorgesehen ist so etwas nicht. Jetzt kann ich bis auf Weiteres nur abwarten.

    Da ist allerdings ein Gast im Café, der mir einen Nebenverdienst anbietet. Herr Roch. Ein alter Mann. Nach einem Schlaganfall ein bisschen beschädigt. Ich könnte, sagt er, etwas für ihn abtippen. Doch ich weiß nicht recht, ob ich darauf eingehen soll.

    Aber jetzt schreib ich schon wieder viel zu lang von mir. Und von meinen vergleichsweise kleinen Problemen. Wie geht es dir? Dass du jetzt noch ein Jahr in unserer alten Schule absitzen musst, ist echt blöd. Aber im Mai machst du die Matura und vielleicht kannst du ja dann auch nach Wien kommen.

    Immerhin ist ja alles noch halbwegs gut ausgegangen, oder? Hauptsache ist doch, dass die leidige Geschichte mit eurem Bleiberecht nun geklärt ist. Hoffentlich gehts deiner Mutter jetzt etwas besser! Du wirst sehen, es wird alles gut.

    Was schreiben Sie, Fräulein Lisa? fragte der Herr Roch.

    Nichts Interessantes, sagte sie. Etwas für die Uni, log sie.

    Tatsächlich sollte sie etwas für die Uni schreiben. Aber immer, wenn sie dazu ansetzte, verlor sie schon nach wenigen Sätzen den Faden.

    Dann tippte sie unversehens ganz etwas anderes. Manchmal einfach nur, was sie an so einem langen Vormittag im Café Klee hörte und sah. Wie draußen der Regen rauschte. Wie die Pendeluhr tickte. Wie der Luster mit den Krakenarmen zitterte, wenn ein schweres Auto vorbeifuhr.

    Etwas für die Uni also, sagte der Herr Roch.

    Mit seinen trockenen Lippen lächelte er.

    Er lächelte, als ob er ihr nicht glaubte – oder lächelte er, als ob er wüsste?

    Dieser Herr Roch ging ihr manchmal ganz schön auf die Nerven.

    Schon weil er sie permanent mit Fräulein anredete. Das ist doch, sagte sie, eine Anrede von vorgestern. Schon möglich, sagte er, vielleicht bin ich auch von vorgestern. Aber sehen Sie, es gibt mich noch immer.

    Fräulein Lisa, sagte er. Liebes Fräulein Lisa! Haben Sie sich mein Angebot durch den Kopf gehen lassen? Was zögern Sie noch? Was ist das Problem? Zwei Euro pro Seite. Können Sie die nicht brauchen?

    Ja, warum zögerte sie noch? – Also zuerst, sagte sie später, war da so ein Bauchgefühl. Einmal abgesehen davon, dass der Typ sie nervte. Eine Ahnung, dass sie sich damit etwas einbrocken würde. Eine Suppe, die sie vielleicht nicht so gern auslöffeln wollte.

    Und dann war da sein Gerede von diesem Roman. Manchmal nannte er diesen Roman sogar seinen Jahrhundertroman. War das sein Ernst? Erwartete er, dass sie das ernst nahm? War das nicht geradezu ein Indiz dafür, dass sowohl mit dem Mann als auch mit dem Manuskript, von dem er sprach, etwas nicht stimmte?

    Okay, wenn er sie dafür bezahlte, hätte sie, ohne lang zu fragen, auch das Telefonbuch abtippen können. Seine schriftstellerische Kompetenz konnte ihr doch egal sein. Aber schließlich hatte sie Germanistik inskribiert, weil sie ein gewisses Interesse an Literatur hatte. Und das war ihr nach den ersten sechs, sieben Wochen Uni noch nicht ganz vergangen.

    Ist der Herr Roch ein Autor? fragte sie die Chefin.

    Der? Ein Autor? – Hören Sie zu, Lisa: Dieser Herr ist vor allem ein Dampfplauderer!

    Nun schloss ja das eine das andere vielleicht gar nicht aus. Und Dampfplauderer – das klang ja beinahe harmlos.

    Doch die Frau Resch fügte diesem Urteil noch etwas hinzu:

    Passen Sie auf, Lisa, lassen Sie sich von dem nicht einwickeln!

    Und dann erhob sie ganz ungewohnt laut ihre Stimme:

    Das wollte ich Ihnen ohnehin schon längst sagen, Lisa, der Herr Roch ist ein Stammgast und es ist gut, wenn Sie angemessen freundlich zu ihm sind, aber es ist besser, wenn Sie dabei eine gewisse Distanz wahren!

    Eben. Obwohl Lisa der Ton, in dem die Chefin das gesagt hatte, etwas übertrieben vorkam, fand sie ihr Bauchgefühl dadurch bestätigt. Doch genau das, die Distanz zu wahren, war ein Problem. Es war ein geringeres Problem, wenn die Frau Resch da war – dann trat sie an den Tisch des Herrn Roch, stellte ihm hin, was er bestellt hatte, lächelte, aber ließ sich auf kein längeres Gespräch ein. Bloß war die Frau Resch bald immer weniger da.

    In den ersten Wochen, die sie im Café Klee aushalf, hatte Lisa sich manchmal gefragt, warum diese Frau sie überhaupt eingestellt hatte. Für das wenige, das im Café Klee zu tun war, wäre keine Aushilfe nötig gewesen. Worum ging es ihr also, der Frau Resch? Ging es ihr darum, nicht ganz den Kontakt zur jüngeren Generation zu verlieren? Schon möglich. Aber nun stellte sich heraus, worum es ihr noch ging.

    Nach zwei, drei Tests, durch die sich erwies, dass sie dem Mädel das spärlich besuchte Lokal für eine gewisse Zeit allein überlassen konnte, blieb sie länger und länger weg. Unternahm nicht nur immer ausgedehntere Shoppingtouren, sondern hatte schon bald Termine bei der Friseurin, bei der Kosmetikerin, im Fitnesscenter, im Bräunungsstudio. Und der Herr Roch bekam das natürlich bald mit. Immer öfter tauchte er gerade dann auf, wenn Frau Resch soeben gegangen war.

    Na, so etwas! sagte er dann etwa, nachdem er an seinem Tisch in der Ecke Platz genommen hatte. Ist Ihre Chefin schon wieder ausgeflogen! Na ja, sie will sich halt auch noch ein bisschen des Lebens freuen. Solang noch das Lämpchen glüht. Was meinen Sie, Fräulein Lisa – hat sie einen Freund?

    Weiß ich doch nicht, sagte sie. Interessiert mich auch nicht.

    Wirklich nicht? sagte er. Aber das wäre doch hübsch! Na, jedenfalls kann sie sich jetzt etwas mehr entfalten. Seit Sie, Fräulein Lisa, da sind. Das ist ja ein Glück!

    Nicht nur ein Glück für die Frau Resch – auch und besonders für die Gäste. Speziell vom ästhetischen Standpunkt aus betrachtet. Bedauerlicherweise sehe ich ein bisschen schlecht. Aber dafür hab ich trotzdem einen Blick.

    Er nahm die Brille ab und putzte sie. Zwinkerte mit seinen Maulwurfsaugen. Fräulein Lisa. Sie sind ein Sonnenstrahl! Vor Ihnen haben nur alte Weiber hier ausgeholfen.

    Jetzt hören Sie aber auf! sagte sie. Ihre zweifelhaften Komplimente können Sie sich sparen. Überhaupt Komplimente! Die kommen in meiner Generation nicht mehr an.

    Tatsächlich? sagte er. Das ist aber auch ein bisschen schade, oder?

    Was weiß ich?! sagte sie. Sie fand diese Bemerkung ärgerlich.

    Ja, er nutzte diese Stunden, der Herr Roch. Nicht nur, um sie anzubraten, sondern auch für etwas anderes. Wenn sie an ihrem Tisch vor dem Laptop saß und tippte, hörte sie ihn in den Zeitungen blättern. Manchmal blätterte er sanft, manchmal blätterte er heftig, aber ab und zu hörte sie auch das leise Geräusch, das er verursachte, wenn er eine Seite herausriss.

    Manchmal tat er das auch, wenn Frau Resch da war. Aber dann ging er dabei behutsamer vor. Langsam, langsam, gewissermaßen in Zeitlupe. Wenn nur Lisa da war, glaubte er offenbar, er müsse sich nicht so sehr zurückhalten.

    Oder er hatte es darauf angelegt, dass sie davon Notiz nahm und irgendwann einmal darauf zu sprechen kam. Eine Weile versuchte sie es noch zu ignorieren. Aber dann, eines Donnerstagnachmittags, als Frau Resch wie üblich in der Bräunungsröhre lag und daher kaum vor fünf zu erwarten war, ging sie ihm doch auf den Leim.

    Sie brauchen nicht zu glauben, dass ich das nicht merke! sagte sie.

    Glaub ich auch nicht, sagte er. Aber Sie werden mich nicht verraten.

    Nein, sagte sie. Das ist nicht meine Art. Aber warum tun Sie das?

    Wenn Sie sich zu mir setzen, sagte er, werde ich es Ihnen erklären.

    Also, die Sache ist die, sagte er und dämpfte die Stimme, obwohl niemand sonst im Raum war. Mein Jahrhundertroman ist ja ein Roman, der in der Vergangenheit, nämlich vor hundert Jahren, beginnt, aber in der Gegenwart endet. Und nun ist es so: Was die Vergangenheit angeht, so hat man ja alle möglichen Quellen. Aber was die Gegenwart betrifft, die ich ja auch irgendwie einfangen will, ja, muss, denn ich will ja diese beiden Zeitebenen zueinander in Beziehung setzen, brauche ich dazu natürlich auch gewisse Materialien.

    Verstehe, sagte sie, zum Beispiel Zeitungsartikel.

    Das habe ich mir gedacht, sagte er, dass Sie mich verstehen – Sie schreiben ja auch.

    Wie kommen Sie darauf? sagte sie.

    Aber das merke ich doch! sagte er. Ich bin zwar etwas kurzsichtig, aber nicht blind.

    Wenn Sie da drüben sitzen, nur ein paar Meter von mir entfernt, und tippen … Wie Sie dabei dreinsehen, wie Sie atmen, wie Sie manchmal die Zungenspitze zwischen die Lippen schieben … Das macht auf mich nicht den Eindruck, als ob Sie wirklich was für die Uni schreiben würden, sondern …

    Das geht Sie nichts an, sagte sie, stand auf und zog sich hinter die Theke zurück.

    Sie schreiben doch manchmal Gedichte, habe ich recht?

    Rasch klickte sie den Text, an dem sie gerade geschrieben hatte, weg.

    Gedichte? Wie kommen Sie denn auf diese Idee?

    Gehör, sagte er. Ich höre die Länge und Kürze der Zeilen.

    Nun war Lisas Laptop zwar wirklich nicht mehr der jüngste. (In ihrer gegenwärtigen Situation konnte sie sich keinen neuen leisten.) Und die Tastatur war schon ein bisschen klapprig. Aber Herr Roch hatte erstaunlich feine Ohren.

    Sein Gehör hatte durch den Schlaganfall offenbar nicht gelitten.

    Gedichte also, sagte er, geben Sie’s zu.

    Wenn er lächelte, hing sein rechter Mundwinkel ein bisschen schief.

    Ach was! sagte sie. Ich mache halt viele Absätze.

    Ist mir doch ganz egal, ob das, was ich da ab und zu tippe, Prosa ist oder Lyrik. Prosaische Lyrik oder lyrische Prosa, was weiß ich. Stimmt, ich habe etwas davon bei diesem Poetry-Slam vorgelesen. Aber das war Ronnies Idee! Ich hätte mir das nicht einreden lassen sollen.

    Hi, Mira! Du fragst, wie das gelaufen ist. Was soll ich dir sagen / schreiben? Blöd ist es gelaufen! Kaum waren wir dort, im Hinterzimmer eines mir gleich unsympathischen Lokals, hab ich mich schon fehl am Platz gefühlt. Mein erster Impuls war, wieder umzudrehen, aber Ronnie hat mich zurückgehalten.

    Dabei kann ich gar nicht sagen, warum ich mich unter den anderen, die dort hinkamen, so wenig wohlfühlte. Bis auf wenige Ausnahmen, lauter Leute in unserem Alter. Ein paar davon hatte ich, glaube ich, schon an der Uni gesehen. Vielleicht lag es ja auch an mir, an meiner eigenen Unsicherheit, aber so war das eben.

    Dort aufzutreten war schlicht und einfach nicht meins. Einmoderiert von diesem Blödmann, der sich aufführte wie ein DJ. Den meisten Applaus hatten die, die rappten oder sonst irgendeine Show abzogen. Ich las meinen Text vom Blatt. Nur Ronnie applaudierte.

    Deine Performance, sagte er, war halt nicht gerade mitreißend. Wie er das Wort Performance sagte, dafür könnt ich ihn schon ohrfeigen. Übrigens ist er jetzt mit Tina zusammen. Die studiert nicht nur Germanistik, sondern auch Anglistik und Komparatistik, ist aber trotzdem eine blöde Kuh.

    Erzählen Sie etwas von sich, sagte der Herr Roch – aber was sollte sie ihm denn groß erzählen? Dass sie Ende Mai die Matura gemacht hatte, trotz allem, was sie von der Vorbereitung auf diese sogenannte Reifeprüfung (Reife / Wofür denn?) abgehalten, was ihre Konzentration darauf erschwert hatte? Und dass sie gleich anschließend ihren Koffer gepackt hatte, nicht um mit ihrer Klasse auf Maturareise zu fahren, sondern um von zu Hause auszuziehen (zu Hause / Wo war das)? Aus dem Haus, in dem sie eine überbehütete und viel zu lange Kindheit verbracht hatte, und dann zwei oder drei Jahre des Zweifels?

    Aus der Kindheit war sie herausgefallen wie aus einem allzu schönen Traum. Einem Traum, aus dem ihre Eltern ihren um zwei Jahre jüngeren Bruder Jakob und sie nicht aufwachen lassen wollten. Dieser Traum spielte in einem großen, alten, aber selbstverständlich den Bedürfnissen einer wohlhabenden Familie von heute angepassten Haus mit adrett eingerichteten Zimmern, einem weitläufigen Garten mit prächtigen, alten Bäumen, Biotop und Pool und einer hohen Mauer rundherum. Und manche Sequenzen dieses Traums spielten in noch absurder von der Außenwelt abgeschirmten Ferienressorts.

    Sollte sie das erzählen? Nein, das war peinlich. Für sich hatte sie es notiert, in ihr Tagebuch (Nachtbuch). Sobald sie erwachsen genug dazu gewesen war. Um sich klarzumachen, was sie gehasst hatte (vorerst noch uneingestanden, aber nachhaltig):

    Diese sowohl in den Ferien als auch daheim, wo es ja doch am schönsten sein sollte, aufgenommenen Videos, die wir immer wieder ansehen mussten.

    Diese demonstrative Innigkeit zwischen Papa und Mama.

    Dieses Glück, das vor allem uns Kids zum Strahlen brachte.

    Mimik, Gestik, alles war auf die Darstellung unseres komfortablen Glücks programmiert.

    Auch wenn es uns manchmal schon ein bisschen langweilte.

    Strahlend gückliche Kinder glücklicher Eltern.

    In Papas Videoclips spielten wir unsere Rollen perfekt.

    Den Verdacht, dass das alles nicht stimmte, hatte ich allerdings schon länger gehabt. Den Verdacht, dass die Wirklichkeit nicht so kitschig schön wäre. Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich vor dem Spiegel stand und zum ersten Mal die Pickel auf meiner Stirn wahrnahm. Ich drückte sie aus und es blutete und das war hässlich. Aber das war die Wahrheit und sie zu sehen hatte etwas Befreiendes. Und ich verspürte Lust, das zu demonstrieren. So schlug ich die Tür meines Teenagerzimmers, das im ersten Stock lag, hinter mir zu, schritt die Treppe hinunter in unseren sogenannten Salon, wo schon alle bei Tisch saßen und auf mich warteten (Vater, Mutter, Bruder, Hund und Katz, die natürlich auch glücklich zusammenlebten), und zeigte mich. Aber Mama sprang sofort auf und kam mit Wattepads aus dem Bad zurück, Papa schüttelte nur den Kopf und Jakob (Bruder Jakob / Bruder Jakob / schläfst du noch?) zuckte die Achseln, und dann aßen wir Lachs und den Kaviar, den ein dankbarer Patient meines Vaters aus St. Petersburg geschickt hatte.

    Sollte sie das erzählen? Nein, dazu hatte sie keine Lust. Und schon gar nicht wollte sie erzählen, wie dieser Film dann gerissen war. Kurz bevor sie nach La Réunion fliegen sollten – einmal was anderes, auf den Kanaren hatten sie ja schon alle Inseln durch. Aber das Flugzeug flog dann eben ohne sie, denn in der Nacht davor war Papas Verhältnis mit seiner Ordinationshilfe aufgeflogen und von diesem Morgen an war alles ganz anders.

    Zuerst der monatelange Streit meiner Eltern und dann die Stille, als sie endlich ausgestritten hatten. Unterbrochen von den Telefonaten, die meine Mutter mit ihrer Anwältin führte. Zwischendurch heulte sie auch, die liebe Mama. Aber wenn sie mit der Anwältin die Konditionen der Scheidung besprach, streute sie zwischendurch immer wieder Gehässigkeiten gegen Papa ein, und da verging mir das Mitleid gründlich. So viel war schon wahr, dass sich mein Vater, der seine um zwanzig Jahre jüngere Ordinationshilfe nicht nur vögelte, sondern auch die Absicht hatte, ein neues Leben mit ihr zu beginnen, damit als echtes Arschloch erwies. Jedenfalls ihr, unserer armen Mama, gegenüber. Aber dass sie ihn, wie sie der Anwältin wiederholt und mit am Telefon fast überschnappender Stimme sagte, nun zugrunde richten wollte – sie werde es ihm heimzahlen, er sollte zahlen, zahlen und noch einmal zahlen … das konnte ich nicht mehr hören. Mein Bruder zog sich in sein Zimmer zurück, verschanzte sich hinter dem Bildschirm und schoss auf alles, was sich bewegte. Mich aber trieb es aus dem Haus.

    Dann ließ ich mich treiben. Weg aus dem blöden Villenviertel und der Schrebergartenöde. Durch den kleinen Wald und über die große Wiese. Und weiter und weiter, vorbei am Soldatenfriedhof und am Kreuzweg. Und dann, das ergab sich, hatte ich es nicht mehr weit zum Haus des Großvaters.

    Um Missverständisse zu vermeiden: Es war nicht so, dass ich eine besondere Beziehung zu ihm hatte. Solange er gesund gewesen war, waren Besuche bei ihm eher eine Pflichtübung. Das galt auch für meine Eltern und meinen Bruder. Längere Besuche beim Opa gab es nur zu Weihnachten und zu seinem Geburtstag.

    Sonst kamen wir eher nur auf einen Sprung. Er war ein alter Mann, der sich bemühte, zu uns Kindern freundlich zu sein, aber man merkte ihm die Mühe an. Er fragte, wie es uns in der Schule gehe, er schenkte uns große Tafeln Schokolade, von denen er immer einen Vorrat im Haus hatte, weil er selbst gern naschte. Er streichelte uns, solange wir klein waren, über den Kopf, was wir nicht wirklich

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