MORIGNONE: Roman
Von Volker Lüdecke
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Über dieses E-Book
Heute würde die Erforschung der Ursachen andere Prioritäten setzen, denn die jüngeren Generationen erkennen zunehmend, welche Folgen die Erderwärmung für ihre Lebensperspektive hat.
Der vorliegende Roman erzählt über mehrere Bände eine fiktive Handlung von Liebe, Radikalisierung, Scheitern und wieder Aufstehen vor dem historischen Hintergrund der Bergkatastrophe von Morignone.
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Buchvorschau
MORIGNONE - Volker Lüdecke
1. Gefährliches Terrain
Im Schweizer Wallis, unterhalb des „Großen Aletsch", einem gewaltigen Gletscher, ein Wanderer mit Rucksack, von gedrungener Gestalt.
Langsam erklimmt er einen Berghang, kommt näher, von Weitem erscheint er nicht größer als ein Punkt. Der Pfad, dem er seit dem Morgengrauen folgt, ist bei Wanderern wenig beliebt. An manchen Stellen droht Steinschlag, anspruchsvolle Klettersteig Passagen wechseln mit Etappen hügeligem Einerleis, eine Tour, die Bergsteiger nicht reizt.
Ungeübten Wanderern stellt dieser Bergpfad schier unüberwindliche Hindernisse in den Weg, so dass die meisten schon nach wenigen Kilometern aufgeben und einen einfacheren und besser ausgewiesenen Weg wählen.
Wer die Einsamkeit sucht, oder sie aus irgendwelchen Gründen zu finden hat, wählt ihn wegen seiner Abgeschiedenheit.
Der Rucksackwanderer, der inzwischen größer als ein Punkt ist, hält an, da er plötzlich, nach einer längeren Passage durch dichtes Berberitzengebüsch, vor einem massiven Drahtzaun steht, der quer über den Weg gezogen ist. Ein gelbes Warnschild mit schwarzer Aufschrift prangt in Augenhöhe.
LEBENSGEFAHR, DURCHGANG VERBOTEN!
Eine ernste Warnung, untereinander in den vier Schweizer Sprachen Deutsch, Italienisch, Rätoromanisch und Französisch.
Der Bergwanderer, ein Mann zwischen vierzig und fünfzig Jahren mit dem Namen Gaspard, spuckt verächtlich aus und versucht, den Maschendraht zwischen zwei Pfosten anzuheben. Als es ihm nicht gelingt, folgt er dem Zaun ein Stück bergauf, bis er an eine Stelle kommt, wo der Untergrund einen knietiefen Riss bildet und er mit einem Ast einen Hebel ansetzt, das Drahtgeflecht hochzudrücken.
Offenbar lässt sich dieser Mann durch kein Hindernis aufhalten. Zuerst schiebt er vorsichtig seinen Rucksack hindurch, dann zwängt er den kräftigen Körper erstaunlich behände aufs verbotene Terrain.
Je weiter er auf dem überwucherten Pfad vorankommt, desto vorsichtiger achtet er auf die knietiefen Risse im Boden, die von Berberidion überwuchert sind. Er hält inne, schaut sich um und zu den Bergkuppen hinauf, wischt sich Schweißperlen aus dem Gesicht und trinkt in kleinen Schlucken aus einer Wasserflasche.
Die Gefahr, die ihm hier droht, wenn aus einer höher gelegenen Geröllhalde Felsen herabstürzen, ist deutlich erkennbar. Mehrmals haben dicke Brocken den Pfad schon gekreuzt und mit brachialer Gewalt Schneisen in den angrenzenden Bergmischwald geschlagen, Äste zerdrückt und ganze Bäume niedergewalzt. Das verletzte Holz weist frische Spuren.
Dennoch setzt er unverdrossen seinen Weg fort, bis er um eine Biegung in ein Seitental gelangt, in dessen Mündung sich ein verlassenes Bergdorf schmiegt.
Die Gebäude der kleinen Siedlung sind zumeist eingestürzte Ruinen, teils halbwegs erhaltene Bauernhäuser. Er betrachtet die verbarrikadierten Fenster und Türen, doch schon nach einem kurzen Moment spürt er Blicke in seinem Nacken, fühlt sich beobachtet. Er schaut sich um, aber niemand zeigt sich.
Über die am Boden verstreut liegenden roten Ziegel einer teils eingestürzten Mauer steigt er spontan, vor Entdeckung Schutz suchend, in einen verwilderten Garten ein.
Als sich weiterhin niemand zeigt, wählt er dort im Schatten eines Obstbaumes einen Platz zum Rasten. Ein rostiger Metallstuhl, mit abblätternder weißer Farbe neben einem aus spanischem Rohr geflochtenen Gartentisch, bietet sich dafür an. Als wäre an diesem Ort eines Tages die Zeit stehen geblieben, liegen Gartengeräte herum, als wären sie gerade in Benutzung. Die Tischplatte ist von Löchern übersät.
Aus seinen dunklen Augen betrachtet der Fremde ein paar weiße Wolken am strahlend blauen Himmel, von denen sich nichts Übles erwarten lässt. Der Stand der Sonne zeigt an, es ist Mittag.
Immerzu misstrauisch beobachtet er sein Umfeld aus den Augenwinkeln, lauscht in das verbarrikadierte Haus hinein, dessen oberen Wände aus dunkelbraunem Holz gezimmert sind. Der Sockel besteht aus gemauertem Granitstein, lawinenfest.
Ein Sonnenstrahl findet eine Lücke im Blattwerk, so dass ihm explosionsartig Schweißperlen unter seinem dichten, halblangen Haar hervorquellen. Schnell rückt er wieder in den Schatten.
Nach einer ganzen Weile erst zieht er endlich eine Flasche Wein aus dem Rucksack, dazu ein belegtes Baguette. Er verspeist es mit großem Appetit und trinkt genüsslich Wein. Sein südländisches Gesicht mit den freundlichen Falten drückt aus, dass er sein Leben zu genießen weiß.
Das Summen von zahlreichen Fliegen stört ihn nicht, er wird erst aufmerksam, als eine graue Hauskatze in weiten Sätzen durchs hohe Gras der Gartenwiese pflügt.
Mit der Flasche Rotwein in einer Hand spaziert er am Haus entlang, nimmt gelegentlich einen Schluck und versucht, durch die geschlossenen und mit Brettern vernagelten Fensterläden ins Innere des Hauses zu schauen. Das gleißende Licht der Sonne dringt von außen kaum in die Zimmer hinein, durch einen Spalt im Holz erkennt er einen staubigen Dielenboden.
Er schlendert zurück zum Platz im Schatten, wo er wohlig gähnt und die Augen schließt. Als er sich ausgeruht hat, schaut er sich wieder um und sinnt darüber nach, wer hier früher gelebt hat.
„Keine armen Leute. Porco dio!"
Als die Weinflasche halb leer ist, steht er wieder auf und rüttelt an einem der Fensterläden. Ein Holzbalken fällt von oben herab und streift ihn an der Schulter. Wütend über die Falle stößt er mit dem Balken fest gegen die eisernen Scharniere des Fensterladens. Die Köpfe der verrosteten Schrauben springen ab, er hängt schief. Vorsichtig schaut er sich um, horcht nach verdächtigen Geräuschen.
„Eigentlich zu früh für ein Nachtlager, aber Möglichkeiten verpflichten."
Als er zum nächsten Hieb ansetzt, ertönt der Gesang einer weiblichen Stimme. Eilends verstaut er die Weinflasche in seinem Rucksack und schnallt sich sein Gepäckstück wieder auf den Rücken. Dann verlässt er den fremden Garten.
2. Die Pflanzenretterin
Oberhalb des verlassenen Dorfes kraxelt eine Frau mittleren Alters, in ihren Händen eine Grünpflanze samt erdigem Wurzelballen, den mit Rissen und Setzungen durchzogenen Berghang hinab.
Ihr Gesang dringt mal leiser mal lauter in die engen Gassen zwischen den Mauern der Ruinen und Häuser, je nachdem, ob sie auf ihrem Weg in einer Senke verschwindet oder auf einer Geröllhalde wieder auftaucht.
Als sie die erste Ruine erreicht, erkennt Gaspard in seinem Versteck hinter einem Stapel modrigen Kaminholzes ihre Gestalt deutlich. Er sieht eine hagere Frau mit grauen Haaren.
Offenbar fühlt sie sich ungezwungen und allein in dem Dorf, denn sie setzt unbekümmert und singend ihren Weg durch die alte Siedlung fort. Gaspard schließt daraus, dass die sportlich gekleidete Frau eine ehemalige Bewohnerin des Dorfes ist.
Mary ahnt nichts von seiner Anwesenheit. Seit sie vor zwölf Jahren mit Kind und Mann in einer dramatischen Aktion der Behörden aus ihrem Heim evakuiert wurde, kehrt sie regelmäßig an diesen verwunschenen Ort zurück.
Ihr Mann Ronald und ihre Tochter Maria hatten sich damals vehement gegen die Evakuierung gewehrt, aber die Bergwacht berief sich auf neue Messungen, die keine Zugeständnisse zuließen, weil angeblich Lebensgefahr drohte. Mit Schaudern erinnert sie sich an diesen Wendepunkt in ihrem Leben zurück.
Zwölf Jahre später sind die Erdbewegungen zwar weitestgehend zum Stillstand gekommen, aber trotz mehrerer Einsprüche wird ihnen die Rückkehr verwehrt.
Ihre kleinen Ausflüge gegen das Verbot begreift Mary als zivilen Ungehorsam. Außerdem ist sie als Biologin fasziniert davon, wie sich die Natur