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Bullen Blues: ein New Orleans Krimi
Bullen Blues: ein New Orleans Krimi
Bullen Blues: ein New Orleans Krimi
eBook295 Seiten3 Stunden

Bullen Blues: ein New Orleans Krimi

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Über dieses E-Book

Connor Roony, der Sohn von EX-Senator John Roony ist spurlos aus Portland, Oregon, verschwunden. Roony jr. sollte in einem Prozess gegen Sean O'Rourke, einer lokalen Gangstergröße von der Westküste aussagen. Carl Sullivan, ein ehemaliger Cop und Pubbesitzer in Portland, der für Freunde auch mal etwas speziellere Gefallen erledigt, wird vom EX-Senator unter Druck gesetzt um dessen Sohn wiederzufinden. Sullivan stellt sich die Frage, ob Connor Roony entführt wurde, um ihn an der Aussage zu hindern, oder bekam er am Ende nur kalte Füße und ist deswegen untergetaucht? Der Prozess soll in wenigen Tagen beginnen. Sullivan läuft die Zeit davon.
Die Spur scheint nach New Orleans zu führen. Carl Sullivan macht sich auf den Weg in seine Geburtsstadt, die er und sein Vater vor vielen Jahren verlassen mussten.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum5. Mai 2020
ISBN9783752948332
Bullen Blues: ein New Orleans Krimi

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    Buchvorschau

    Bullen Blues - U. Gowski

    1.

    Die letzten Septembertage brachten endlich die lang ersehnte Abkühlung. Rauer Wind wehte vom Pazifik über die zerklüftete Küste Oregons. Das Laub der Eichen, Pappeln und Ahornbäume hatte sich gelb gefärbt. In die herbstlichen Farben mischten sich vereinzelte grüne Tupfer der dazwischen stehenden Küstenmammutbäume, Fichten und Kiefern. Oberhalb des Strandes von Depoe Bay, einem kleinen Örtchen nördlich von Newport in Lincoln County, stand ein großes, hellblau gestrichenes Holzhaus mit einer weißen Veranda. Am Verandadach hing eine mit Stahlseilen befestigte breite Holzschaukel. Auf ihr saß ein Mann und trank Bier. Er ignorierte das Klingeln des Telefons, das aus dem Haus drang. Mit der Flasche Bier in der Hand starrte er auf den Pazifik. Eine kleine Familie Grauwale, eine Mutter mit ihrem wenige Monate alten Kalb, tummelte sich keine zweihundert Meter von seinem Haus entfernt im Pazifik. Es klingelte wieder. Er nahm einen Schluck aus der Flasche Rogue IPA. Wieder klingelte es. Das Gesicht des Mannes verfinsterte sich, das klingeln fing an zu nerven. Die breite Holzschaukel bot Platz für drei normal gebaute Menschen. Manchmal überkam ihn der Wunsch, sie wäre voll besetzt. Drei Männer, die Bier tranken, sich zuprosteten und gegenseitig Anekdoten erzählten. Ein unsinniger Gedanke, wie er wieder einmal feststellte. Er war nicht gerade bekannt für seine Geselligkeit. Die ersten Versuche der beiden unmittelbaren Nachbarn, ihn einzuladen, scheiterten. Danach blieben weitere aus. Er war sich sicher, dieser Zustand würde sich auch nicht mehr ändern. Meistens kam er damit klar. Das Klingeln hielt hartnäckig an. Er warf einen genervten Blick zur offenen, mit einem Fliegengitter versperrten Tür. Neben der Tür auf dem Fenstersims stand ein altes Zeiss Fernglas, was er manchmal benutzte, um Orcas zu beobachten. Sie kamen selten dicht an die Küste heran. Er hatte vor Wochen vergessen, es mit hineinzunehmen. Wieder klingelte das Telefon. Ihm würde wohl nichts anderes übrig bleiben, als ranzugehen. Es kannten nicht viele diese Nummer. Er stand auf und sah noch mal kurz zu den Grauwalen hin, dann stellte er die halbvolle Bierflasche auf der Armlehne der Bank ab und ging hinein. Das Telefon stand auf einem zierlichen, zerbrechlich wirkenden Tischchen im Flur, zwei Schritte von der Verandatür entfernt. Es war eines dieser Telefone im altmodischen Nostalgiedesign, die man aus den Filmen der 40er Jahre kannte. Er nahm den Hörer von der Gabel und ging ran: »Johnson«, meldete er sich kurz angebunden.

    »Wie steht es um die Angelegenheit, um die ich Sie gebeten habe?«, sagte eine kratzige Stimme ohne sich vorzustellen. Das war auch nicht notwendig. Johnson wusste, mit wem er es zu tun hatte.

    »Mister O’Rourke, Sie müssen sich keine Sorgen machen. Es ist alles eingeleitet.«

    »Keine Sorgen machen?«, höhnte der Mann am anderen Ende des Telefons. »Wenn Sie das nicht geregelt bekommen, verbringe ich vermutlich die nächsten dreißig Jahre im Knast. Sie wissen, was das bedeutet!«

    Ja, Brian Johnson wusste, was es bedeutete. Sean O’Rourke war jetzt Ende sechzig. Die Wahrscheinlichkeit, dass O’Rourke nach dreißig Jahren Gefängnis noch einmal einen Starbucks Kaffee in Freiheit genießen würde, wäre sehr gering. Die Stimme am anderen Ende der Leitung riss ihn aus den Gedanken.

    »Brian, ich muss Sie nicht darauf aufmerksam machen, dass Sie meine Verurteilung nicht lange überleben werden.«

    O’Rourke legte theatralisch eine Kunstpause ein.

    »Um es deutlich zu sagen, Brian, wandere ich in den Knast, wandern Sie in die Kiste. Sie verstehen das sicherlich. Es ist nichts Persönliches.«

    O’Rourke lachte heiser und legte er auf.

    Johnson stand noch einen kurzen Moment schweigend mit dem Hörer in der Hand da und verfluchte wieder einmal den Tag, an dem er sich mit dem Iren eingelassen hatte. Er schüttelte sich und legte den Hörer auf. Nachdenklich ging er auf die Veranda und setzte sich wieder auf die breite Sitzbank, dabei das Bier von der Lehne nehmend. Nichts Persönliches, dachte Johnson. So einen Scheiß kann auch nur ein Ire von sich geben, der zu viele Mafiafilme gesehen hat. Er sah hinaus auf den Pazifik. Die kleine Walfamilie tummelte sich immer noch dort. Er mochte Wale. Sie hatten Stärke, sie hatten etwas Beruhigendes. Eine Fontäne spritzte auf. Mit dem Beobachten der Wale kam auch sein Frieden zurück. Genau aus diesem Grunde hatte er dieses Haus gekauft. Hier fand er ihn. Es wird schon alles klappen, sagte er sich. Inzwischen waren die Wale weiter auf den Pazifik hinausgeschwommen. In ein paar Minuten würden sie nur noch kleine schwarze Punkte auf der glitzernden Oberfläche des Meeres sein, bis sie dann ganz verschwunden waren.

    ***

    Clarisse Morgan sah wieder auf die Uhr. Sie wirkte nervös.

    »Was schaust du eigentlich immer auf die Uhr, Schatz. Hast du noch etwas vor?«, fragte Connor Rooney und sah dabei seine Freundin fragend an.

    »Nein, nichts. Oder doch«, verbesserte sie sich gleich wieder. »Ich wollte noch etwas shoppen gehen.«

    Er runzelte die Stirn, dann zuckte ein kurzes Lächeln in seinen Mundwinkeln auf. »Okay, ich komme mit.«

    »Wirklich?« Sie rümpfte skeptisch ihre sommersprossige Stupsnase. »Du hasst shoppen. Willst du nicht lieber hier warten?«

    »Nein, ich komme mit«, erwiderte er nachdrücklich.

    »Wirklich?« Sie sah ihn unsicher an.

    Er lachte. »Ich bringe dich damit scheinbar aus der Fassung.«

    Er umfasste ihre schlanke Taille und zog sie dicht zu sich heran. Dann gab er ihr einen sanften Kuss, den sie erwiderte.

    Plötzlich stieß sie ihn leicht von sich und sagte lachend: »Na, dann los.«

    Er griff sich die elektronische Zimmerkarte vom Tisch. Sie hatten die Suite im ›The Nines‹ in Portland für eine Woche gebucht, ein Fünf Sterne Hotel mit einem Restaurant in der obersten Etage und angeschlossener Dachterrasse. Connor Roony hatte sie beide unter falschem Namen eingecheckt, was ihn bei dem Herrn mit dem schmalen Oberlippenbart an der Rezeption ein nicht unerhebliches zusätzliches Sümmchen gekostet hatte. Er hoffte, dass sich die Angelegenheit, wegen der er sich unter falschem Namen in diesem Hotel eingemietet hatte, in einer, spätestens aber in zwei Wochen erledigt hatte. Bis dahin wollte er es so luxuriös wie möglich haben. Und dann war da noch Clarisse.

    »Dann wollen wir mal. Wo möchtest du hin?«, fragte er.

    »Wir könnten die Morrison oder die SW 5th Avenue hinunterlaufen. Da soll es einige gute Geschäfte geben.«

    Er hob die Augenbrauen. »Sagt wer?«

    »Eine Freundin.«

    »Hört sich kostspielig an.«

    Sie verzog ihre rot geschminkten Lippen zu einem Schmollmund.

    »Okay, ich steck genug Geld ein«, sagte er lachend und ging zum Safe, der im Wandschrank versteckt untergebracht war, und nahm ein Bündel Geldscheine heraus.

    »Wir können doch die Kreditkarten nehmen.« Sie sah ihren Freund erstaunt an.

    »Nur Bares ist Wahres«, antwortete er ihr ausweichend. Sie zuckte gleichgültig mit der Schulter. Was für ein blöder Spruch. Eigentlich war es ihr egal, womit er ihre Ausgaben beglich. Und wenn es für ihn Bargeld sein soll, dann war es eben so. Sie drehte sich beschwingt um und öffnete die Zimmertür.

    Nach einer Stunde und zwei Geschäften hatte Connor Roony die Nase voll. Er musste zugeben, Clarisse hatte recht gehabt. Er hasste shoppen. Er ging zu Clarisse, die sich gerade ein dünnes Kleid vor ihren schlanken Körper hielt und sagte: »Schatz, ich hoffe, du hast nichts dagegen...«

    »Du willst schon gehen?«, unterbrach sie ihn. Ihre Augen blitzten.

    »Ja, ich muss noch ein paar Telefonate erledigen«, log er. Sie konnte es ihm an der Nasenspitze ansehen. Er zog das Bündel Geldscheine aus der Hosentasche und reichte es ihr.

    »Das dürfte für eine vergnügliche Shoppingtour reichen.«

    Sie jauchzte auf, nahm das Geld und stopfte es in ihre kleine, mit Perlen besetzte Handtasche. Dann schlang sie die Arme um seinen Hals und küsste ihn.

    »Ich werd nach den Telefonaten in der Bar im Hotel auf dich warten, mir dort ein, zwei Drinks genehmigen.«

    »Es ist erst Mittag.«

    »Bis du zurück bist nicht mehr«, lachte er und löste sich von ihr. Sie entließ ihn mit einem koketten Augenaufschlag.

    Als er den Laden verließ, drehte er sich noch einmal zu ihr um. Sie stand schon beim nächsten Kleid und ließ den leichten Stoff durch ihre Finger gleiten. Lächelnd trat er auf die Morrison Street. Es war ein sonniger Tag. Er starrte kurz mit zusammengekniffenen Augen in den strahlendblauen Himmel, dann sah er die Straße hinauf. Er stellte fest, dass sie wirklich nicht weit gekommen waren. Gerade mal zwei Blocks. Gemächlich schlenderte er im Schatten der Bäume dem Hotel entgegen. Er freute sich auf einen kühlen Drink. An der nächsten Kreuzung musste er kurz stehen bleiben, bis die Fußgängerampel auf Go schaltete. Eine Trimet Bahn fuhr an ihm vorbei. Er fragte sich, in wie viele Geschäften Clarisse wohl noch einkehren würde. Er musste schmunzeln. Wie immer würde sie erst ins Hotel zurückkommen, wenn alles Geld ausgegeben war. So war sie einfach. Er hatte damit kein Problem. Sein Vater besaß genug Geld. Die Ampel schaltete um. Er ging über die Straße. Es waren nur noch wenige Meter. Vor dem Hotel bemerkte er einen Mann mit grauen Haarstoppeln, der eine Zigarette im Mundwinkel stecken hatte und nervös seine Jackentaschen abklopfte. Scheinbar suchte er sein Feuerzeug und fand es nicht. Connor Roony trat auf ihn zu, holte sein Zippo aus der Jacketttasche und reichte es ihm. Der Mann nahm es mit einem dankbaren Lächeln und ließ das Zippo klicken. Die Flamme hielt er an seine Zigarette. Während er an ihr zog, glimmte sie auf. Zufrieden nahm der Mann einen ersten Zug und blies den Rauch in die Luft. Connor Roony hielt seine Hand hin, um das Zippo entgegenzunehmen. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr, einen dunklen Schatten. Er wollte sich umdrehen, doch dazu kam er nicht mehr. Ihm wurde plötzlich schwarz vor Augen. Dann fühlte er nichts mehr.

    ***

    Connor Roony wachte mit schwerem Schädel auf. Sein Kopf schmerzte. Ihm war heiß und er schwitzte. Der Raum war dunkel. Es drang nur spärliches Licht durch die Ritzen des heruntergelassenen Fensterrollos. Erst langsam gewöhnten sich seine Augen an die Umgebung. Das Zimmer war kahl. Es beherbergte nur das Bett, auf dem er lag. Langsam erinnerte er sich. An den Mann mit dem hageren Gesicht und der Zigarette im Mund. Er hatte ihm sein Feuerzeug gereicht, dann war ihm schwarz vor Augen geworden. Und jetzt lag er hier. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Wie lange war er schon hier? Seine Zunge fuhr über die trockenen Lippen, den pelzigen Geschmack wurde er dadurch nicht los. Plötzlich hörte er es knarren. Es kam nicht aus dem Zimmer. Er vermutete, es waren die Fußbodendielen im Flur. Scheinbar ein altes Haus. Er sah zur Tür, in der Erwartung, dass sie sich öffnen würde. Das tat sie auch. Ein Mann betrat das Zimmer und betätigte den Lichtschalter. Connor Roony blinzelte. Das Licht der nackten Glühlampe, die an der Decke hing, blendete ihn. Es dauerte einen Moment, bis er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Ein Mann mit einer Clownsmaske hatte den Raum betreten. Er war untersetzt, kräftig gebaut und dunkel gekleidet. Schwarze Hose, dunkelblauer Rollkragenpullover. Connor dachte unwillkürlich, der muss doch schwitzen bei der Wärme. Der Mann blieb in der Tür stehen. Dumpf kam es unter der Maske hervor: »Und, ausgeschlafen?«

    Connor antwortete nicht darauf. Er sah zu dem Mann hin und fragte: »Wo ist Clarisse?«

    »Du meinst das hübsche Ding«, stellte der Clown fest. »Ihr geht es gut, keine Angst.«

    Connor Roony sah zweifelnd in die grauen Augen hinter der Clownsmaske.

    »Du glaubst mir nicht? Tot nützt sie uns nicht. Sie ist wieder zu Hause bei ihren Eltern, nachdem du sie verlassen hast.«

    »Ich hab sie nicht verlassen«, erwiderte Connor matt.

    »Das hat dein Schätzchen wohl nach dem Lesen deines Abschiedsbriefes im Hotel anders empfunden.«

    Roony jr. sah die Clownsmaske verwirrt an.

    »Was für ein Brief?«

    Der Clown antwortete nicht. Die dunklen Augen hinter der Maske musterten ihn interessiert.

    »Sei froh, dass sie lebt. Wenn alles sauber über die Bühne gegangen ist, kannst du ihr alles erklären und jede Menge Kinder mit ihr machen. Wenn nicht…«

    Der Mann musste es nicht aussprechen. Connor Roony konnte sich vorstellen, was dann passieren würde.

    »Wie lange bin ich schon hier?«, fragte er.

    »Einen halben Tag.«

    Connor nickte, er fühlte sich schwach und hungrig. »Warum bin ich hier?«

    Der Clown machte einen kleinen Schritt in den Raum.

    »Wie gesagt, noch ein paar Tage. Wenn alles klappt und du dich brav verhältst, lassen wir dich gehen. Vorher müssen wir noch in eine andere Stadt umziehen, in einen anderen Bundesstaat. Die Fahrt wird drei, vielleicht vier Tage dauern. Aber Portland ist für uns und dich nicht sicher.«

    »Wollen Sie dabei die Clownsmaske aufbehalten?«, fragte Connor Roony und versuchte zu lächeln.

    »Nein, den Transport mit dir werden andere übernehmen. Mein Part ist erfüllt.«

    2.

    Carl Sullivan stand im ›Pints‹ hinter dem Tresen und spülte Gläser. Der Pub befand sich in einem alten zweistöckigen Backsteingebäude in Portlands Old Town, unweit der 1896 eröffneten Union Station. Der bei Touristen beliebte Pearl-District mit seinen umgebauten Lagerhäusern und den vielen kleinen hippen Geschäften, war nur ein paar Blocks entfernt. Doch es verirrten sich nur selten Touristen ins ›Pints‹. Über dem Pub hatten zwei Rechtsanwälte und ein Häusermakler ihre Büros bezogen. Es war 15.30 Uhr. In einer halben Stunde würde er den Pub öffnen. Das ›Pints‹ hatte Sonntag bis Freitag immer von 16.00 Uhr bis 21.00 Uhr geöffnet. Sullivan fand, genau die richtige Zeit für die nach einem Feierabendbier dürstenden Angestellten der umliegenden Büros und Geschäfte. Nicht selten ließen sie nach einem schnellen Bier ihre Growler befüllen, wenn sie einen weiten Heimweg hatten. Nicht alle konnten es sich leisten, hier in der näheren Umgebung zu wohnen. Samstags war Open End. Es ging aber selten länger als bis drei Uhr.

    Die herbstliche Nachmittagssonne zeigte sich als milchiger runder Fleck zwischen grauen Wolken. Es nieselte. Sullivan fragte sich gerade insgeheim, ob er die Eingangstür wieder abgeschlossen hatte, als die Frage beantwortet wurde. Die Tür öffnete sich und eine schmächtige Person betrat den Raum. Im Gegenlicht war von der Gestalt nicht viel zu erkennen. Sullivan blinzelte. Erst als sich die Tür wieder schloss und das Tageslicht aussperrte, konnte er in dem schummrigen Licht besser sehen. Da stand ein alter Mann. Sullivan schätzte ihn um die achtzig oder drüber. Dünn, weißhaarig und er legte nicht viel Wert auf akkurat sitzende Anzüge. Der des Alten war jedenfalls ein, zwei Nummern zu groß. Vielleicht hatte er ihm mal in jüngeren Jahren gepasst. Der Alte sah sich unsicher um. Er schien sich nicht entscheiden zu können, an welchen der Tische er sich setzen sollte. Keiner war durch andere Gäste besetzt. Wie auch, Sullivan hatte den Pub ja gerade erst aufgeschlossen. Eigentlich wäre es Barts Aufgabe gewesen, doch montags konnte man bei Bart nie wissen, wann er auftauchen würde.

    Carl Sullivan stand abwartend am Tresen und kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. Zu seinem Verdruss lichteten sich seine blonden Haare dort schon etwas. Er musterte den alten Mann, darauf wartend, welche Entscheidung er treffen würde. Der Alte schlurfte mit müden Schritten in den hinteren Raum. Wenig später hörte Sullivan eine Sitzbank knarren. Es gab nur eine Bank, die so knarrte. Er hatte Bart gebeten, sie zu reparieren. Das war jetzt fast ein Jahr her. Sie stand in der hintersten Ecke des Pubs vor der uralten kleinen Bierbrauanlage, die er dort als Deko hatte stehen lassen. Gemächlich trat Sullivan hinter dem Tresen hervor und ging zu dem Tisch, an den sich der alte Mann gesetzt hatte. Er trat an den Tisch und sah auf den Gast hinunter. Das Gesicht, von unzähligen großen und kleinen tiefen Falten zerfurcht, kam ihm bekannt vor. Eine jüngere Version mit noch nicht ganz so tiefen Furchen geisterte durch seine neblige Erinnerung. Aber er bekam es nicht zu fassen. Der alte Mann sah stur geradeaus.

    »Was kann ich für Sie tun?«, fragte Sullivan.

    Leise, mit brüchiger Stimme, ohne Sullivan dabei anzusehen antwortete der Alte: »Sully, ich habe Ihren Vater gekannt.« Erst da sah er Carl Sullivan direkt ins Gesicht.

    Der musterte ihn gleichgültig.

    »Schön, ich auch.« Es sollte witzig sein. Dann wurde Sullivan ernst. »Aber nur Freunde nennen mich Sully.«

    Der Alte schwieg. Nach einer kurzen Pause sagte er: »Es regnet.«

    »Irgendwo regnet es immer«, erwiderte Sullivan. Der Alte war ihm ein Rätsel.

    »Immer? Irgendwo? Sie meinen in Seattle.« Sein Lachen war ein rasselnder Husten. »Vermutlich gibt es deswegen dort keine Biergärten. Man weiß nie, wann der nächste Regen kommt.«

    Sullivan verzog seinen Mund zu einem müden Lächeln. »Sie wissen also, wie mich Freunde nennen und kannten meinen Vater.« Er musterte den Alten spöttisch. »Schön, und weiter?«

    Der Alte reagierte nicht.

    Sullivan wartete, dann sagte er: »Mein Vater war ein Cop. Den haben viele gekannt.«

    Der alte Mann nickte. »Genau wie Sie, bis Sie dann das Handtuch geschmissen haben, um lieber Bier zu brauen und diesen Pub zu betreiben.«

    »Die beste Entscheidung meines Lebens.«

    »Ich habe gehört, dass Sie Freunden auch mal einen Gefallen tun.«

    Auf einmal konnte Carl Sullivan das Gesicht zuordnen. Senator John Roony. Oder besser Ex-Senator. Er war mit den Gewerkschaften Anfang der 60er Jahre groß geworden. Und dann, mit knapp Anfang dreißig, in die Politik gewechselt. Wie viele vor ihm und nach ihm. Die Honigtöpfe riefen und nur die wenigsten konnten widerstehen. Roony gehörte nicht dazu. Wie alt dürfte er jetzt sein? Mitte, Ende 80? Oder doch schon 90?

    »Wie Sie schon sagten, Senator, Freunden tue ich mal einen Gefallen und die dürfen mich auch Sully nennen. Für Sie heiße ich Mister Sullivan.«

    »Was ja nicht ist, kann ja noch werden.«

    »Glaub ich kaum.«

    Der alte Mann sah Carl kalt an. Die blassgrauen Augen unter den buschigen Brauen wirkten leblos wie Steine, trotz der leicht geröteten Augenlider.

    »Na gut, wenn nicht ich, dann Pete, Ihr Musikerfreund.«

    »Was hat Pete damit zu tun?«, fragte Sullivan unruhig. Etwas in dem Tonfall des Senators hatte ihn nervös gemacht.

    »Eigentlich nicht viel«, entgegnete John Roony. »Außer, Sie helfen mir nicht. Dann wäre es das Ende für seine Musikerkarriere. Ohne Zunge und Hände wird es schwierig.«

    Die kalten Augen des Alten hatten einen verträumten Blick bekommen.

    Sullivan musterte ihn finster. »Was ist das für ein kranker Scheiß, Senator!«

    Der Alte hielt Carls Blick ohne eine Regung stand.

    »Sie sind wirklich ein alter kranker Mann«, wiederholte Sullivan.

    »Mag sein, aber das ändert nichts an der Situation.«

    »Die Top Ten der Hitparaden interessieren ihn nicht«, sagte Sullivan. Es war ein hilfloser Versuch.

    Der Alte quittierte ihn mit einem geringschätzigen Lächeln, was Carl klar machte, das hier war kein Scherz. Es beunruhigte ihn mehr, als ihm lieb war. Er und Pete waren schon sehr lange befreundet. Ihre gemeinsamen Herkunft hatte sie in Portland zusammen geführt. Beide stammten aus New Orleans.  Pete hatte einen deutschen Nachnamen. Fichte, die deutsche Bezeichnung einen Nadelbaum, den es auch hier im Nordwesten gab. Und in Maine, Vermont und im Osten Kanadas. Petes Urgroßeltern stammten aus Bremen, einer Hafenstadt in Deutschland. Während Carls Vorfahr, sein Ururgroßvater Fionnbharr O’Sullivan, ein irischer Landarbeiter gewesen war, der die Heimat während der großen Hungersnot 1847 verlassen hatte. Bei der Einbürgerung ging das O verloren und aus Fionnbharr wurde Finn. Seitdem sind noch Franzosen und Deutsche zum weit verzweigten Familienstammbaum der Sullivans hinzugekommen. Alles gläubige Katholiken. Aber es war schon lange her, dass Carl Sullivan in eine Kirche gegangen war. Carls Vater, Liam Sullivan, war mit ihm aus New Orleans weggezogen. Er hatte gegen korrupte Cops ausgesagt und war nur knapp einem Anschlag entgangen. Liam Sullivan musste feststellen, dass er nicht mehr sehr beliebt in seiner Stadt war, schon gar nicht bei den Kollegen des 8. Districts im French Quarter. Seine zweite Ehe zerbrach darüber. Carl ging mit seinem Vater nach Portland. Zu diesem Zeitpunkt war er 16 Jahre alt. Kurz vor seinem Tod sagte sein Vater zu ihm: »Der Hurrikan Katrina war nicht das Schlimmste, was New Orleans

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