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Libellenfeuer
Libellenfeuer
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eBook299 Seiten4 Stunden

Libellenfeuer

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Über dieses E-Book

Kein guter Tag für Robin: Frisch aus dem Gefängnis entlassen, muss er sich als Tellerwäscher in einem der nobelsten Restaurants Londons wieder in die Gesellschaft einfügen. Doch die Launen seines charakterlosen Chefs sind nichts, im Vergleich zu dessen lästigem Sohn Oliver.
Aber schon bald merkt Robin, dass sich hinter der Fassade des reichen Restauranterben ein ganz anderer Mann verbirgt. Und es gibt eine Sache, die sie sehr wohl miteinander verbindet.
Doch ihre zarte Affäre steht unter keinem guten Stern.
SpracheDeutsch
Herausgeberdead soft verlag
Erscheinungsdatum1. Sept. 2015
ISBN9783944737911
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    Buchvorschau

    Libellenfeuer - Stefanie Herbst

    Libellenfeuer

    von Stefanie Herbst und Juna Brock

    Impressum

    © dead soft verlag

    Mettingen 2011

    http://www.deadsoft.de

    Alle Rechte vorbehalten

    © die Autoren

    Cover: Irene Repp

    http://daylinart.webnode.com/

    Bilder:

    Gay Couple: © wtamas – fotolia.com

    2. Auflage 2014

    ISBN 978-3-934442-82-5

    ISBN 978-3-944737-90-1(epub)

    Besuchen Sie uns im Internet auf http://www.deadsoft.de

     Hakuna Matata

    Kapitel 1

    Der Himmel über London war schwarz. Blitze zuckten durch die Wolkendecke, und es regnete so heftig, dass einen selbst der größte Schirm nicht vor den Fluten hätte bewahren können.

    Robin stand mit verwaschener Jeans und T-Shirt bekleidet in der Viktoria Street, nahm einen letzten Zug von seiner Kippe und ließ sie auf den Boden fallen. Er bog den Kopf zurück und genoss die prasselnden Tropfen auf seinem Gesicht. Donner grollte. Robin atmete tief ein, ehe er sich umdrehte und die Tür zum Starbucks Café öffnete.

    Warme Luft strömte ihm entgegen, die nach gemahlenen Kaffeebohnen und frischem Kuchen roch. Er fuhr sich mit den Fingern durch die nassen Haare, versuchte sie, so gut es ging, ordentlich zu kämmen und blickte sich um. Er wusste nicht, wie Mr. Johnson aussah, hatte gestern Abend lediglich mit ihm telefoniert und diesen Treffpunkt ausgemacht. Wenn es nach Robin ginge, wäre er gar nicht erst erschienen. Aber er hatte in den letzten zweieinhalb Jahren gelernt, dass es besser war, sich an Regeln zu halten.

    „Robin? Ich bin hier drüben."

    Zwei Tische neben sich entdeckte er einen Mann, der ihn auf den ersten Blick an Will Smith erinnerte, nur älter; viel älter. Robin quetschte sich an einigen Sesseln vorbei und bemerkte, dass jeder seiner Schritte so klang, als würde er durch Matsch laufen. Seine Converse waren eben nicht wasserdicht. Er wischte sich die rechte Hand an der feuchten Jeans ab und streckte sie dem Mann entgegen. Ein fester Griff. Weiß auf schwarz.

    „Bei Gott, Junge, ist dir nicht kalt? Bist ja nass wie ein Schwamm. Setz dich."

    Robin zuckte mit den Achseln, zog einen Stuhl heran, drehte ihn um und setzte sich breitbeinig darauf; die Arme auf der Lehne abgestützt. Sein Gegenüber hob eine Augenbraue, schwieg zu seiner Erleichterung aber. Robin hatte eine lange Zeit Anweisungen folgen müssen. Endlich war er wieder sein eigener Herr und konnte über sein Leben bestimmen – zumindest zum größten Teil.

    Der alte Will schob eine Visitenkarte über den Tisch. Robin warf einen kurzen Blick darauf, Adam Johnson, Bewährungshelfer, und steckte sie in seine Hosentasche. Er räusperte sich und tippte mit der Fußspitze rhythmisch auf den Boden.

    „Ich freue mich, dich kennenzulernen, Robin. Ich treffe mich mit meinen Klienten immer hier. Ist angenehmer als in einem dunklen, muffigen Büro. Findest du nicht?"

    Robin war klar, dass er diesen Mann nun eine Weile an der Backe kleben hatte. Es war immerhin besser, als ein weiteres halbes Jahr abzusitzen.

    „Denke schon", sagte er und fummelte an dem Lederarmband herum, das er um das rechte Handgelenk trug – etwas, das er immer tat, wenn er nervös war.

    „Der erste Tag in Freiheit muss aufregend sein, was? Bist du zufrieden mit deiner Unterkunft? Sollte für den Anfang reichen, oder?"

    Robin blickte auf und sah seinem Bewährungshelfer zum ersten Mal in die Augen. Er schien nicht unfreundlich zu sein, so wie die Amtspersonen, denen er im Knast begegnet war. Johnsons Tonfall erinnerte ihn an einen Geschichtenerzähler aus dem Radio, dessen Sendung er in seiner Zelle oft gehört hatte.

    Seine neue Unterkunft war in der Tat passabel: ein möbliertes Zimmer unter dem Dach. Die Gegend jedoch war grauenhaft: Harlesden, im Nordwesten der Stadt, in dem sich der Abschaum der Gesellschaft eingenistet hatte.

    „Ist okay da. Nicht gerade meine Traumwohnung … ohne Kohle werde ich mir erst mal nichts anderes leisten können."

    Johnson strahlte plötzlich über das ganze Gesicht, griff in seine Aktentasche und holte einen Stapel Papiere heraus. Robin seufzte. Es sah danach aus, als ob es eine längere Aktion werden würde. Er knabberte an seinen ohnehin schon viel zu kurzen Fingernägeln und sehnte sich nach einer Zigarette.

    „Du kannst dich glücklich schätzen, Junge. Ich habe einen super Job für dich und du kannst gleich anfangen. Sagt dir das Dragonfly etwas?"

    „Schon mal von gehört."

    „Die Inhaber suchen eine Aushilfskraft und haben sich bereit erklärt, dich aufzunehmen. Natürlich müssten wir gemeinsam hinfahren, dich vorstellen und sie davon überzeugen, dass du ..."

    sie nicht gleich mit dem nächsten Beil abschlachtest.

    „… der Richtige für diese Stelle bist. Nach deinen Unterlagen zu urteilen, sehe ich da kein Problem. Scheinst dich ja recht anständig benommen zu haben. Johnson ließ seinen Finger über einen eng beschriebenen Text gleiten, murmelte zusammenhanglose Worte und nickte. „Sieht gut aus. Wenn du magst, können wir sofort losfahren.

    Robin schluckte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Johnson Nägel mit Köpfen machte, und sah skeptisch an sich herunter. Seine Klamotten tropften und um den Stuhl herum hatte sich eine kleine Wasserlache gebildet. Johnson allerdings schien bestens vorbereitet zu sein, griff neben sich und überreichte Robin eine Plastiktüte. Ein Blick hinein verriet: vornehme Kleidung, die Robin jetzt schon hasste, aber er verstand ihre Notwendigkeit.

    Er verschwand auf die Toiletten um sich umzuziehen, und als er wieder heraustrat, hatte er das Gefühl, von allen Leuten angegafft zu werden. Seine Schuhe waren das Einzige, was ihm von seinem alten Stil geblieben war. Das neue Hemd kratzte am Hals, die langen Ärmel der Anzugjacke waren zu warm und die Hose schmiegte sich deutlich zu stramm um seinen Hintern. Er hätte sich die Teile am liebsten gleich wieder vom Körper gerissen.

    Johnson wartete auf einen Gehstock gestützt am Café-Ausgang und pfiff anerkennend, als Robin auf ihn zuging. „So wie du aussiehst, mein Freund, hast du den Job so gut wie in der Tasche."

    Johnson drehte ihm den Rücken zu und Robin rollte mit den Augen. Nett, wie der Kerl versuchte, ihm Mut zu machen. Schade nur, dass seine Mühen umsonst sein würden. Robins Leben war schon so in den Dreck gefahren, da gab es nichts mehr zu retten. Dennoch wollte er dem Mann die Illusion nicht nehmen und ihn seinen Job machen lassen.

    Er beobachtete, wie Johnson schwerfällig nach draußen humpelte, und fragte sich, wie er zu seinem verkrüppelten Bein gekommen war. Ein Taxi hielt am Straßenrand, Robin wollte nicht unhöflich sein und öffnete ihm die Wagentür. Er ließ ihn einsteigen und nahm neben ihm auf der Rückbank Platz.

    Der Regen hatte aufgehört und den Straßenverkehr im Chaos hinterlassen. Autos hupten, der Taxifahrer hinter dem Steuer fluchte, Johnson summte gelassen vor sich hin.

    Robin hatte ihm nicht gesagt, dass er das Dragonfly gut kannte. Es war eines der berühmtesten Restaurants der Stadt und Lucius, sein bester Freund aus dem Knast, hatte ihm immer von dem guten Essen vorgeschwärmt, sich aber über die hochnäsigen Schnösel, die dort einkehrten, lustig gemacht. Absolut nicht Robins Welt, das wusste er jetzt schon. Doch wenn er überhaupt etwas aus seinem Leben machen wollte, müsste er nehmen, was er bekommen konnte.

    Zwanzig Minuten später hielt das Taxi an. Robin wischte mit dem Ärmel eine kleine Stelle auf der beschlagenen Scheibe frei. Er konnte mit einem Blick erkennen, dass er früher öfter in dieser Gegend gewesen war. Damals hatten sich er und die Gang auf das Knacken von Autos spezialisiert. Was war in jenen Tagen verlockender gewesen, als all die Bentleys, Aston Martins und BMWs ihrer Jungfräulichkeit zu berauben? Ihre Scheiben einzuschlagen, die Radios zu klauen und das Leder der Sitze mit Graffiti zu beschmieren?

    „Willst du nicht aussteigen?", fragte Johnson.

    Robin blinzelte. Reglos hatte er da gesessen; zurückkatapultiert in seine Vergangenheit. „Hm."

    Er öffnete die Tür, griff nach der Plastiktüte mit seinen Klamotten und verließ den Wagen. Johnson brauchte ein wenig länger, und als Robin zu ihm blickte, steckte dieser seine Brieftasche bereits zurück. Schuldbewusst fuhr Robin mit der Hand an seine Hosentasche; doch in der geliehenen Anzughose hätte er sein Geld ohnehin nicht gefunden.

    „Schon gut. Das ist beim ersten Mal inbegriffen", sagte Johnson, hob das Kinn und schaute in den bleiernen Himmel. Erneut hatte ein widerwärtiger Nieselregen eingesetzt.

    Mit dem Finger deutete er geradeaus. Das Taxi hatte sie direkt vor dem Restaurant abgesetzt und fädelte sich wieder in den Verkehr ein. Robin spürte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete und er sah den roten Rücklichtern sehnsüchtig nach.

    „Du wirst das schon schaukeln, Robin. Ich bin bei dir optimistisch."

    „Sagen Sie das zu all Ihren Frischlingen?"

    „Ja."

    Merkwürdigerweise beruhigte Robin diese ehrliche Antwort. Er ging voran und hielt Johnson wieder die Tür auf. Das Interieur des Restaurants bestand aus dunklen Holzvertäfelungen, die ein gediegenes Ambiente bildeten. Bar und Tische dagegen waren mit Glas und schrägen Mustern verziert – sie waren zu gewollt modern. An den Wänden hingen zahlreiche Fotografien hinter silbernen Rahmen in akribisch geraden Reihen. Robin kannte kaum eine Person auf ihnen, sie sahen aber ziemlich wichtig aus. Nur einige Darsteller aus Seifenopern, Popsänger oder Nachrichtenmoderatoren waren ihm geläufig. Scheinbar kehrten sie hier alle ein. Es roch nach dem Leder der Stühle und entfernt nach Zitronen-Reinigungsmittel. Ein riesiges Aquarium bildete eine Abgrenzung, hinter der es zu den Toiletten und der Garderobe ging. Er war froh, dass hier keine lebenden Hummer auf ihr baldiges Ende warteten, sobald ein Gast mit dem Finger auf sie zeigte.

    Ein Mann in den Fünfzigern blickte von seinen Unterlagen auf, an denen er in einer Nische gearbeitet hatte. Er erhob sich und kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu. „Ah, Sie müssen Mr. Johnson sein?"

    „Ganz recht, Mr. Kingston, schön, Sie kennenzulernen."

    „Und Sie sind bestimmt …"

    „Robin, sagte dieser und gab dem kleineren Mann einen festen Händedruck, den dieser zu übertreffen versuchte. Ein erwartungsvoller Ausdruck lag auf Kingstons Gesicht. ‚Draußen‘ war Robin nicht mehr nur unter seinem Vornamen oder seiner Nummer bekannt. „Waterman, sagte er ergänzend und mühte sich ein Lächeln ab.

    „Schön, schön." Kingston machte eine einladende Geste zu einem der Tische.

    Sie setzten sich. Johnson zog seine Unterlagen hervor. Er ließ Kingston einige Dokumente lesen und anschließend unterschreiben. Dann wurde über die aktuelle Wirtschaftslage der Stadt gesprochen. Robin blieb stumm. Er hatte genug damit zu tun, sich unter dem Kragen zu kratzen und die schwitzigen Hände im Schoß zu kneten. Sein Unwohlsein würde nicht einfach verschwinden, er musste es durchstehen. Allerdings war er im Durchstehen ein Profi geworden.

    Die Verhandlungen waren abgeschlossen. Robin begleitete Johnson zur Tür. Ein Hauch von Melancholie machte sich in ihm breit, weil ihm klar wurde, dass Johnson sowohl von seiner Vorgeschichte als auch von seinen Fortschritten im Gefängnis wusste. Er war einer der wenigen Menschen, die ihn kannten, wenn man es so bezeichnen wollte.

    Robin räusperte sich und hielt den Kopf gesenkt. „Ich danke Ihnen."

    Johnson klopfte ihm auf den Oberarm. „Hab’ ich gern gemacht. Wirklich, sonst wäre ich nicht in diesem Job. Er zögerte. „Lass die anderen über dich reden und dich ansehen, so viel sie wollen. Das müssen sie, damit ihre kleine, heile Welt nicht aus den Fugen gerät. Mach nur keine Dummheiten. Der alte Mann grinste. „Du hast meine Nummer. Ruf mich an, wenn du Panik bekommst." Mit diesen Worten stützte sich Johnson auf seinen Gehstock und humpelte nach draußen, in den nicht enden wollenden Sommerregen.

    Als Robin sich umdrehte, blickte er geradewegs in Kingstons Gesicht. „Also gut, hier sind die Regeln. Du bist eine Aushilfskraft, nichts weiter. Mir egal, welche tollen sozialen Eingliederungsmaßnahmen du dir vorgestellt hast, die wirst du dir abschminken können. Du wirst Putzfrau sein, Hausmeister, Tellerwäscher oder Klempner; was auch immer ich benötige, du bist dafür da, dass es keine Beschwerden gibt. Du wirst dich hier vorne im Restaurant nicht blicken lassen, außer du kommst zur Arbeit oder gehst. Du wirst dich ausschließlich in den Lagerräumen, der Vorratskammer und der Küche aufhalten. Du arbeitest in wöchentlich wechselnden Schichten. Du sprichst mit meinem Personal nur das Nötigste; mit den Gästen nicht mal das. Wenn du ein Problem hast – und ich bin mir sicher, ein Bastard wie du wird früher oder später immer Probleme bekommen – wendest du dich an meinen Sohn. Er wird dich gleich herumführen. Irgendwelche Fragen?"

    Robin entspannte mit schierer Willensstärke die Gesichtsmuskeln und lockerte seine zusammengezogenen Augenbrauen, dann lächelte er und sagte: „Nein, Mr. Kingston, alles verstanden. Haben Sie vielen Dank, dass Sie mir die Möglichkeit geben, zu …" Kingston winkte ab und begab sich in seine Nische.

    Robin wusste nicht, wohin er sollte. Das Restaurant hatte offiziell noch geschlossen. Niemand war zu sehen. Unschlüssig stand er im Eingangsbereich und drehte an seinem Armband. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen; Robin konnte hören, wie der Regen draußen auf den Bürgersteig plätscherte. Ein junger Mann trat ein, blickte auf, als er Robins Gestalt sah, fuhr sich über das nasse Gesicht und ging an ihm vorbei. Hinter ihm trottete ein schwarzes, vierbeiniges Etwas mit weißen Pfoten her, das kurz stehen blieb, an Robins Hosenbein schnüffelte und dann seinem Herrchen nachlief.

    „Hey Dad", hörte er den Mann sagen.

    Das musste der Sohn sein. Immer noch stand Robin unbeholfen vor der Tür, sah dem Jungen dabei zu, wie er Rucksack und Windjacke auszog, und mit einem Handtuch den Hund abrubbelte. Anschließend befahl er dem Tier, in seinem Korb hinter der Theke Platz zu machen.

    „Wo ist …", begann er und Kingston deutete stumm mit dem Finger in Robins Richtung.

    Der junge Mann kam zurück zum Eingang und gab Robin die Hand. Seine intensiv blauen Augen standen im starken Kontrast zu dem schwarzen Haar, von dem ihm einige Strähnen in die Stirn fielen.

    „Hi, herzlich willkommen. Ich bin Oliver."

    „Robin. Waterman."

    „Komm mit, Robin Waterman, ich zeig’ dir alles." Oliver ging voran und Robin folgte ihm durch das weitläufige Restaurant zu einer Tür, auf der das Schild ‚Privat’ angebracht war.

    Tief inhalierte Robin den Rauch seiner Zigarette; er stand mit geschlossenen Augen auf dem Hinterhof des Dragonfly an eine Ziegelmauer gelehnt. Es war fast 17 Uhr und das Restaurant würde gleich öffnen.

    Robin war so müde wie schon lange nicht mehr. Oliver hatte ihm mit Ausdauer den ganzen Nachmittag zur Seite gestanden und ihm alle wichtigen Handgriffe gezeigt und Abläufe erklärt, die Robin morgen drauf haben musste.

    Meine Güte, kann der Junge quatschen.

    Er glaubte, dass Olivers Stimme in seinem Kopf widerhallte. Am Filter ziehend, genoss er das kaum mehr wahrnehmbare Beißen in der Lunge. Neben ihm ging die Hintertür auf. Oliver trat hinaus, gefolgt von seinem Border Collie. Das Tier kam auf Robin zu, leckte über seine Hand, die dieser ruckartig wegzog, und durchstöberte dann mit der Rute wedelnd die Ecken des Hofes.

    Oliver stellte sich Robin gegenüber an die Wand neben die Regentonne. „Eigentlich mag sie keine Fremden", sagte er und deutete auf den Hund.

    „Da sind wir uns ähnlich."

    „Ich wette, dich kotzt die Arbeit jetzt schon an."

    „Was? Nein. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, dass ich …"

    „Ist okay. Ich habe diesen Teil des Jobs auch immer gehasst. Kannst es ruhig zugeben", sagte Oliver.

    „Ich bin dankbar für die Chance, das ist alles."

    „Verstehe."

    Robin blickte skeptisch von der Marlboro auf. Er bezweifelte, dass Oliver nachempfinden konnte, was er durchgemacht hatte. „Sicher", sagte er leise und musterte ihn zum ersten Mal bewusst.

    Oliver war vielleicht gerade mal achtzehn, also fünf Jahre jünger als er selbst. Sein Kleidungsstil passte zur Gegend, zum Restaurant, zu all dem, wozu Robin nie gehören würde und niemals gehören wollte. Oliver trug eine schwarze Stoffhose, ein weißes Hemd mit silbernen Manschettenknöpfen und eine Krawatte, die mit Sicherheit aus echter Seide war, dazu teuer aussehende Schnürschuhe.

    Robin sah auf; die blauen Augen starrten ihn an. „Was?", fragte Robin etwas zu gereizt.

    „Ich frage mich, wie lange du gesessen hast."

    „Zu lange."

    „Oh. Und wofür?"

    Robin ließ seine Kippe fallen und trat sie in einer Pfütze aus. Er öffnete die Tür, drehte sich aber noch einmal um. „Du willst doch keine Albträume bekommen, oder?", sagte er dunkel und ging hinein. Es fühlte sich gut an, an Olivers perfekter Welt gerüttelt zu haben.

    Kapitel 2

    Um 19 Uhr waren alle Tische des Dragonfly belegt. Durch die großen Frontscheiben des Restaurants lugten neugierige Passanten hinein und beobachteten die High Society beim Abendessen.

    Oliver stand am Empfang, gleich hinter der Eingangstür, hatte ein strahlendes Lächeln aufgesetzt und bat die hereinkommenden Besucher, eine Reservierung zu tätigen. In zwei oder drei Monaten wäre etwas frei; das Dragonfly war so beliebt, dass sich die Kingstons vor Buchungen nicht retten konnten.

    Vor Oliver lag ein Terminkalender, in den alle Namen der Gäste von Hand eingetragen wurden. Bereits vor langer Zeit hatte Oliver seinen Vater gebeten, einen Computer anzuschaffen, doch davon hielt der Alte nichts. Seit der Gründung des Restaurants wurden Reservierungen mit königsblauer Tinte in den Kalender eingetragen und so würde es bleiben.

    „Ende September könnte ich Ihnen einen Tisch für vier Personen anbieten", teilte Oliver dem greisen Herrn mit, der vor ihm stand, die Stirn in Falten gelegt hatte und die Hand hinter sein Ohr klemmte.

    „Wann sagten Sie? Im Oktober?"

    Oliver beugte sich weiter vor und erhob seine Stimme, um die Musik der Liveband im Hintergrund zu übertönen. „Nein. Im September."

    „Hm? Wann?"

    Die Augen rollend, wurde Oliver noch lauter. „Im Sep-tem…"

    Weiter kam er nicht. Eine kräftige Hand legte sich schwer auf seine Schulter; die kühlen Finger meinte Oliver selbst durch das Jackett spüren zu können. Er drehte sich um und sah in das Gesicht seines Vaters, das im matten Licht des Restaurants von Schatten verdeckt wurde. Oliver schluckte seine Überraschung herunter und atmete auf, als die Hand von seiner Schulter glitt.

    „Dad? Ich bin gerade im Gespräch mit …"

    Sein Vater ließ ihn nicht aussprechen, nahm ihm den Füller aus der Hand und drängte sich an den Empfangstresen. Dann sagte er so leise, dass ihn niemand außer Oliver hören konnte: „Wenn du noch einmal in solch einem Ton mit einem unserer Gäste sprichst, Oliver, setzt es was."

    Oliver schüttelte den Kopf, weil er die Worte seines Vaters nicht glauben konnte. Er öffnete den Mund, schloss ihn aber im nächsten Atemzug, weil er genau wusste, dass sein Vater keinen Widerspruch duldete.

    „Du wirst bei der Bedienung gebraucht. Worauf wartest du?", hörte er seinen Alten sagen. Dessen Gesicht war mit falscher Freundlichkeit überzogen, als er sich dem wartenden Gast zuwandte und für seinen Sohn entschuldigte.

    Olivers Finger ballten sich so fest zu Fäusten, dass seine Nägel in die Haut schnitten. Erbost starrte er auf die gebeugte Figur seines Vaters, überlegte, wie schön es wäre, ihm in den Hintern zu treten, doch besann sich. Er würde es ihm niemals recht machen können. Das würde sich nicht ändern, und Oliver fragte sich, warum es ihn immer noch schmerzte.

    Er ging durch die Tischreihen in Richtung Küche. Unterwegs wurde er von Gästen angehalten, die Zeigefinger und Daumen zu Kreisen formten und das vorzügliche Essen lobten. Hier und dort blieb er stehen, unterhielt sich mit dem Inhaber eines nah gelegenen Juweliergeschäftes und scherzte mit den Kindern des Vorstandsvorsitzenden der Bank of England. Oliver bereitete seine Arbeit Spaß; er liebte den Umgang mit Menschen, stand gerne im Mittelpunkt und freute sich, wenn das Geschäft gut lief. Doch unter der strengen Hand seines Vaters hatte all das einen bitteren Beigeschmack, den selbst die Süße des Erfolgs nicht überdecken konnte. Der Gitarrist umrundete Oliver mit seiner Gitarre, als dieser an der Band vorbei in Richtung Küche ging.

    Jedes Mal, wenn Oliver in diesen Bereich des Restaurants trat, fühlte er sich, als wäre er in einer anderen Welt. Die Musik und die Unterhaltungen der Gäste wurden vom Klappern der Teller, Klirren von Besteck und Schreien des Chefkochs übertönt. Oliver huschte an der Wand entlang; er durfte die Choreografie der Köche nicht stören und holte aus dem Materialschrank neben der Kühlkammer seine Schürze, das Portemonnaie und den Notizblock. Der Duft von frischgebackenen Keksen, wie sie nur ein bestimmter Mensch zubereiten konnte, stieg ihm in die Nase und lockte ihn wie eine Fährte in den Nebenraum.

    „Hey, Mum", sagte er, als er seine Mutter vor einer der meterlangen Küchenzeilen sah und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

    „Oli, begrüßte sie ihn mit einem freundlichen Lächeln und strich ihm mit ihrer Hand, an der etwas Mehl haftete, über die Wange. Olivers Mutter war die Einzige, die ihn bei diesem Spitznamen nennen durfte. „Bist du zur Bedienung eingeteilt?

    „Uh-hu. Ist brechend voll da draußen. Dad sagt, dass die Kellner es alleine nicht schaffen und unbedingt meine Hilfe brauchen." Oliver kratzte ein Stück Teigrest von der Arbeitsplatte ab, steckte es sich in den Mund und schielte zu seiner Mutter, die seine Lüge nicht bemerkt hatte. Sie lächelte noch immer, doch ihre Augen spiegelten eine niemals endende Leere.

    „Schoko-Nuss?", fragte Oliver, bückte sich und blickte in den hell erleuchteten Backofen.

    Er spürte die warme Hand seiner Mutter auf dem Rücken. „Deine Liebsten. Ich habe schon ein Tablett fertig gemacht. Das musst du dir aber mit Julie teilen. Und nicht wieder streiten, hörst du?"

    Oliver richtete sich bei den Worten auf und schloss seine plötzlich brennenden Augen. Die Geräusche um ihn herum wurden dumpf, als hätte er einen Wattebausch in den Ohren stecken. Langsam wanderten seine Finger zu seinem Hals, tasteten über die dünne Kette, die er trug, und rutschten bis zu dem glatten Anhänger, in Form einer Walflosse. Als wäre es etwas Lebendiges streichelte er darüber und steckte ihn zurück unter das Hemd.

    Mit weichen Knien blickte er zu seiner Mutter, die konzentriert einen neuen Teigball knetete. Früher hätte er versucht, ihr die Wahrheit bewusst zu machen, doch das hatte er vor unbestimmter Zeit aufgegeben. Er seufzte.

    „Oli." Seine Mutter drehte sich zu ihm und lächelte, als hätte sie ihren Sohn gerade erst bemerkt.

    „Hey, Mum", erwiderte er und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

    „Wurdest du zur Bedienung eingeteilt?"

    Oliver senkte den Blick und nickte. Ohne seine Mutter

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