Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Bittersüßes Leben
Bittersüßes Leben
Bittersüßes Leben
eBook321 Seiten4 Stunden

Bittersüßes Leben

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Der Roman spielt im Jahr 2006. Er umfasst drei Teile.
Teil eins hat im Wesentlichen den G8-Gipfel im Juni zum Inhalt. Parallel entwickelt sich eine Kriminalgeschichte.
Die Protagonisten Clara, Paul und Andreas sind vom Alter her etwa 10 Jahre jünger als die 68er Generation. Sie sind Mitte der 70er Jahre politisiert worden und wurden geprägt durch das Scheitern der 68er Bewegung in dieser Zeit. Ende der 70er Jahre haben sie zusammen in einer Wohngemeinschaft gelebt. Sie zogen unterschiedliche Konsequenzen aus diesen Erfahrungen. 2006 haben sie immer noch oder wieder Kontakt zueinander. Clara lebt mit Andreas zusammen und hat eine Tochter, die zu den Demos gegen den G8-Gipfel nach Rostock fährt.
Robert Glowacki ist Hauptkommissar bei der Berlin Mordkommission. Diese Figur wird im Laufe des ersten Teils entwickelt. Er ist ca. 10 Jahre jünger als die o. g. Personen und kennt sie vom Tangotanzen. Er ist unzufrieden mit seiner Lebenssituation.
Weitere Erzählstränge behandeln das Thema Integration, sowie den Tod der Mutter von Daniel, dem Liebhaber von Clara.
Paul ist in eine türkische Frau verliebt, die in einem Café arbeitet und sich in einem Verein zur Unterstützung von Migrantinnen engagiert, indem auch die Lebensgefährtin von Daniel arbeitet.
Eine Rolle in der Kriminalgeschichte spielen zwei türkische junge Männer ohne Schulabschluss, denen die Integration misslungen ist.
Alle Personen sind miteinander verbunden und leben in Kreuzkölln (Friedrichshain-Kreuzberg, Neukölln).


HWMeyer
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum19. Okt. 2014
ISBN9783847617044
Bittersüßes Leben

Ähnlich wie Bittersüßes Leben

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Bittersüßes Leben

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Bittersüßes Leben - Hans-Wilhelm Meyer

    Erster Teil

    Aus der Nacht der Bewusstlosigkeit zum Leben erwacht findet der Wille sich als Individuum, in einer end- und gränzenlosen Welt, unter zahllosen Individuen, alle strebend, leidend, irrend; und wie durch einen bangen Traum eilt er zurück zur alten Bewusstlosigkeit.

    Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. DB Sonderband: Meisterwerke deutscher Dichter und Denker, S. 44450

    Paul schreckt hoch, das Telefon klingelt. Er schaut auf die Uhr. Zwölf! Er hat schon wieder zu lange gepennt, eigentlich wollte er um elf aufstehen. Er hat Kopfschmerzen, die Flasche Wein, die er in der Nacht alleine austrank war wohl zu viel.

    Das Telefon klingelt immer noch, Paul stemmt sich aus dem Bett, in eine Sitzposition, schlüpft in seine Latschen, atmet aus und ein, dann steht er auf, geht ins andere Zimmer, hebt den Telefonhörer ab.

    „Hallo"

    „Hallo Paul, hast du noch geschlafen?"

    „Guten Morgen Clara, gut dass du anrufst, wer weiß wie lange ich sonst noch im Bett gelegen hätte, eigentlich müsste ich schon längst am Schreibtisch sitzen, was gibt es Neues?"

    „Einiges. Was machst du heute Nachmittag? Ich habe heute frei und wenn du willst können wir uns mal wieder auf einen Kaffee treffen, um mal wieder etwas länger miteinander zu reden."

    „Heute Nachmittag? Da müsste ich mal nachdenken. Was heißt für dich Nachmittag?"

    „So gegen fünf Uhr."

    „Ja, da habe ich Zeit. Was hältst du vom Kranich? Da wollte ich heute sowieso hin."

    „Etwa immer noch wegen der Frau, die dort arbeitet?"

    „Na ja, sie ist eben meine heimliche Liebe".

    „O.k. treffen wir uns dort um fünf Uhr, abgemacht?"

    „Ja, bis dann."

    „Warte, ich wollte dich noch um einen Gefallen bitten, kannst du mal bei Daniel anrufen? Ich versuche schon seit Tagen, ihn zu erreichen, ein Handy hat er nicht, und im Festnetz ist nur die automatische Durchsage zu hören: Dieser Anschluss ist vorübergehend nicht zu erreichen, versuchen sie es später noch einmal oder so ähnlich. Wir waren am Samstag verabredet, er ist nicht gekommen und hat sich auch nicht gemeldet. Er ist sonst immer zuverlässig, ich mache mir langsam Sorgen."

    „Und warum soll ich dann anrufen? Ich habe seine Nummer gar nicht."

    „Die Nummer gebe ich dir, ich will da nicht noch mal anrufen, weil seine Freundin in letzter Zeit misstrauisch geworden ist, ich will die Beziehung der Beiden nicht gefährden. Es passt nicht zu ihm, dass er Verabredungen nicht einhält und auch nicht absagt, da stimmt irgendetwas nicht."

    „Vielleicht musste er dringend verreisen. Was soll ich denn sagen, wenn jemand ans Telefon geht?"

    „Wenn er verreist wäre, hätte er es mir gesagt, frag nach Daniel, wenn sie rangeht, vielleicht ist ihm ja etwas passiert."

    „Also ich würde da noch etwas abwarten, was soll denn passiert sein? Aber ich kann ja mal anrufen. Ich habe doch seine Nummer, ist mir gerade eingefallen. Er hat sie mir mal gegeben, als wir über Drogen gesprochen haben. Er hat da wohl irgendwelche Insiderinformationen und wollte mir für einen Artikel Material besorgen. Ich bin dem Thema dann aber nicht weiter nachgegangen. Wenn er rangeht, sage ich ihm, er möchte sich bei dir melden. Einverstanden?"

    „Ja, dir fällt schon was ein"

    „Dann bis nachher, im Kranich, ich freue mich, da können wir dann weiterreden."

    „ O.k., bis dann, ciao."

    „Ciao".

    Sein erster Impuls ist, wieder ins Bett zu kriechen, dann aber geht er ins Bad.

    Paul Suwe ist 51 Jahre alt, Politologe, ohne feste Arbeit, ab und zu mal einen Job, oft durch Kontakte, die schon seit Jahren bestehen, das Geld ist immer knapp. Er lebt allein. Früher wohnte er meistens in Wohngemeinschaften, auch mal drei Jahre mit Clara, ihrem jetzigen Lebenspartner Andreas, mit Peter, dem Vater von ihrem Kind und zwei anderen Frauen. Abgesehen von Clara, wechselten die Frauen in der WG öfters. Mit einigen war er zusammen, aber eine dauerhafte Beziehung hat sich nicht ergeben. Seit 10 Jahren lebt er jetzt allein.

    Nachdem er sich eine Kanne Tee gekocht hat, setzt er sich an den Tisch in der Küche, überlegt, was heute zu tun ist. Zunächst will er frühstücken gehen, da er mal wieder vergessen hat, Brot einzukaufen, am besten ins Café Wunderbar, dort kann er auch die aktuellen Tageszeitungen lesen.

    Dann muss er sich dringend um seine Finanzen kümmern. Einen Artikel für eine Zeitung, der fast fertig ist, zum Thema bedingungsloses Grundeinkommen, sollte er heute noch rausschicken, vielleicht wird er ja noch in der Samstagsausgabe veröffentlicht. Außerdem muss er bei einer anderen Zeitung, für die er ab und zu schreibt, anrufen. Da steht noch eine Zahlung für den letzten Artikel aus, damit könnte er seine Miete für den nächsten Monat bezahlen.

    Der G8-Gipfel in Heiligendamm steht vor der Tür, auch im nächsten Monat. Vielleicht findet er auch noch einen Abnehmer für eine aktuelle Darstellung der auf dem Gipfel zu behandelnden Themen und zu den zu erwartenden Protesten. Obwohl er sich da keine großen Hoffnungen macht. Leider ist es ihm nicht gelungen, einen Presseausweis zu bekommen und damit in Heiligendamm Zugang zum eigens eingerichteten Pressezentrum zu erhalten. Er überlegt, ob er trotzdem hinfahren sollte. Am 2. Juni findet eine Großdemonstration in Rostock statt. Bis dahin sind es noch ein paar Wochen, heute ist erst der 8. Mai. Der 8. Mai, da war doch was? Klar, Ende des 2. Weltkrieges, Ende der Diktatur, leider nicht das Ende der Nazis.

    Dann müsste er auch mal wieder bei dem Sozialforschungsinstitut, für das er schon einige Male gearbeitet hat, vorbeischauen, vielleicht haben sie mal wieder etwas zu tun.

    Er nimmt sich vor, ab morgen wieder etwas früher aus den Federn zu kommen. Er sollte seine Kontakte pflegen, um nicht wieder Arbeitslosengeld beantragen zu müssen.

    Bevor er aus dem Haus geht, ruft er bei Daniel an. „Dieser Anschluss ist vorübergehend nicht zu erreichen, versuchen sie es später noch mal", meldet sich gleich eine Computerstimme.

    Um Punkt fünf sitzt er an einem Tisch vorm Kranich, hat gerade ein großes Alster bei Ayla bestellt. Er schaut den Vorbeigehenden nach, die Sonne scheint. Ein Spatz landet auf dem Tisch, piept seinen Spatzengesang, reckt den Kopf in alle Richtungen und hebt wieder ab. Es ist ein herrlicher Nachmittag, eigentlich viel zu warm für diese Jahreszeit, fast wie im Hochsommer. Die Menschen genießen diesen vorzeitigen Sommer. Dann sieht er Clara, aus der Zossener um die Ecke biegen und auf ihn zukommen.

    „Hallo, du bist schon da, wartest du schon lange?"

    „Nein, kein Problem, es ist herrlich hier in der Sonne zu sitzen und den Leuten nachzuschauen."

    „Vor allem den Frauen, vermute ich mal."

    „Klar, warum nicht, Frauenschönheit fasziniert mich immer noch."

    Ayla kommt mit dem großen Alster, stellt es auf dem Tisch, lächelt wie meistens, schaut Paul an, schaut Clara an.

    „Weißt du schon, was du möchtest?"

    „Ich nehme eine Weißweinschorle."

    „Bring ich dir."

    Sie dreht sich weg, schaut zu den anderen Tischen, wird zu einem gewunken. Für Paul ist sie wunderschön, er sieht ihr nach, am liebsten schaut er ihr in die Augen. Sie zwinkert ihm oft zu, wenn sie in seine Nähe kommt. Er lächelt dann zurück.

    „Na hol dich mal wieder ein, da merkt ja ein Blinder mit dem Krückstock, dass du auf die Frau abfährst. Warum sprichst du sie nicht mal an?"

    „Ich habe sie angesprochen, aber das ist auch schon wieder 3 Jahre her. Damals habe ich sie gefragt, ob sie sich mal mit mir verabredet. Sie sagte, sie habe einen Freund, der das bestimmt nicht gerne sehen würde. Trotzdem bin ich zum Bezahlen ins Café gegangen, um ihr noch zu sagen, dass ich sie als einen sehr sympathischen Menschen wahrnehme und dass sie für mich eine wunderschöne Frau ist. Sie lächelte und bedankte sich bei mir. Ich wusste damals nicht, ob sie sich für meine Worte bedankte oder für das Trinkgeld, dass ich ihr gab. Ich war, als ich die Worte sagte und auch noch einen Moment später, wie in einem Tunnel und ziemlich aufgeregt. Erst als ich draußen darüber nachdachte, wurde mir richtig bewusst, wie sehr mir diese Frau gefällt.

    Aber dann habe ich sie mal mit ihrem Freund am Paul-Linke-Ufer gesehen, ein junger gutaussehender Typ. Da war mir klar, dass ich alter Sack keine Chancen mehr habe. Mir bleibt nur die kleine Freude, dieser wunderbaren Frau ab und zu mal zu begegnen und ein Lächeln von ihr zu erhaschen. Das empfinde ich nicht nur als professionell, also beruflich motiviert, ich glaube sie mag mich auch."

    „Ich glaube eher, du willst dich nicht wirklich einlassen, ich kenne dich schließlich ganz gut."

    „Vielleicht will ich mich nicht einlassen, weil ich keine wirkliche Möglichkeit sehe. Nach dem Maßstab dieser Gesellschaft bin ich ein Nichts, ein Aussteiger. Natürlich habe ich Lust mit dieser Frau ins Bett zu gehen, aber das ist nicht mehr ganz so wichtig wie früher. Das ist eine Folge des Alters, es macht gelassener, ich komme auch alleine sehr gut klar. Sie ist noch jung, ich schätze sie so auf die 35 Jahre und wahrscheinlich ist sie gerade in dem Alter, wo sie endlich Kinder will, bevor die Zeit dafür abläuft."

    „Aber das sind doch alles Spekulationen, vielleicht hat sie ihre Kinder schon, ist jenseits davon und sucht jemand mit dem man alt werden kann, obwohl ich Tanja auch in dem Alter bekommen habe."

    Sie senkt ihre Stimme, Ayla bringt die Weißweinschorle, stellt sie vor Clara, sie schaut Paul an und lächelt, geht dann.

    „Jemanden zum Altwerden und weil man nicht alleine bleiben will, sucht man in unserem Alter. Du hast dich doch auch gleich nach der Trennung von Peter wieder Andreas zugewendet. Du bist doch mit ihm zusammen, weil du nicht allein sein kannst und hast dann noch, nebenbei, deine Sachen mit jüngeren Männer laufen, wie mit Daniel."

    „Das ist keine Frage des Alters, ich habe immer jemanden gehabt mit dem ich zusammen sein konnte, darüber will ich jetzt nicht mit dir reden, du bist da doch manchmal ziemlich verbohrt. Und was Andreas betrifft, da weißt du ganz genau, dass uns sehr viel verbindet. Aber ich will auf jeden Fall nicht allein sein, das ist schon richtig."

    „Für mich ist das nur Unehrlichkeit, diese Heimlichtuerei. Andreas war schon damals sehr empfindlich und geht vielleicht davon aus, dass du im Alter ruhiger geworden bist. Gut der Daniel hat dir geschmeichelt, dein Ego gekitzelt."

    „Jetzt fängst du aber an, Mist zu labbern, außerdem ist das meine Sache."

    „Gut, ich will mich nicht mit dir streiten, ich habe übrigens bei Daniel angerufen, da meldet sich nur eine Computerstimme, wie du erzählt hast."

    „Ich war vorhin bei seiner Wohnung und habe geklingelt, die Frau hat sich gemeldet. Ich habe so getan, als wäre ich von der Post. Sie ist also zu Hause, das mit dem Telefon verstehe ich nicht, da muss etwas passiert sein, ich mache mir echt Sorgen."

    „Was kann denn passiert sein?"

    „Keine Ahnung das ist ja das Schlimme, ich weiß nicht, ein Unfall vielleicht, ich glaube, ich werde mal die Krankenhäuser anrufen."

    „Vielleicht musste er kurzfristig verreisen und hatte keine Zeit mehr, sich bei dir zu melden?"

    „Das hätte er auf jeden Fall getan, nein es gibt nur einen Grund, er konnte sich nicht bei mir melden."

    „Na, da können wir hin und her spekulieren. Hat er irgendetwas mit Drogen zu tun? Damals als ich den Artikel über den Drogendeal in der Hasenheide schreiben wollte, hatte ich den Eindruck, als ob er Insiderinformationen hätte."

    „Er hat mal erwähnt, dass er Ärger mit den Dealern dort hat, die da rumhängen, weil er in der Nähe wohnt und es ihn stört, dauernd von ihnen angequatscht zu werden. In seinem Haus wohnt wohl auch einer, den er schon eine ganze Weile beobachtet."

    „Was weißt du von ihm eigentlich wirklich? Wie lange kennst du ihn? „Seit etwa drei Monaten, ich weiß allerdings nicht viel über seine Vergangenheit, nur, dass er mit einer Frau zusammen lebt, er ist eigentlich Fotograf, aber arbeitslos. Im letzten Jahr hatte er vom Arbeitsamt eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in einem Jugendzentrum in Neukölln. Sonst reden wir nicht viel über uns, wir gehen tanzen und amüsieren uns. Er ist ein sehr charmanter Typ. Es bringt Spaß, mit ihm zusammen zu sein.

    „Mir ist er auch sympathisch, vielleicht sollten wir uns mal wieder treffen, wenn sich die Sache hier aufgeklärt hat. Ich denke, das dürfte nicht lange auf sich warten lassen."

    „Ich habe dich ja immer gefragt ob du mit zum Tanzen kommst, ich freue mich immer wenn du dabei bist."

    „Wollen wir noch eine Runde bestellen, Ayla kommt gerade?"

    „Was sagt die Uhr, gleich sechs ja, eine geht noch, um acht bin ich mit Tanja verabredet."

    Sie bestellen noch mal das Gleiche. Paul schaut Ayla in die Augen und fühlt sich gut.

    „Wie geht es Tanja eigentlich, ich habe sie lange nicht mehr gesehen? „Sie hat einen neuen Freund und zurzeit ist sie ziemlich aktiv bei attac wegen dem G8-Gipfel. Ich glaube, es geht ihr gut. Sie hat alles, einen Freund, einen Studienplatz, eine eigene Wohnung, die ihr Vater ihr gekauft hat. Allerdings mache ich mir etwas Sorgen. Sie will mit einer großen Gruppe nach Rostock zur Demo.

    „Ich überlege, ob ich auch hinfahre und vor Ort recherchiere. Ich bräuchte nur noch einen Fotografen. Ich habe noch nicht mal eine Kamera. Vielleicht sollte ich mir so eine moderne Digitalkamera kaufen, allerdings muss man da schon ganz dicht am Geschehen sein, um Bilder zu bekommen, die sich auch gut in einem Artikel machen."

    „Daniel hat eine prima Fotoausrüstung, er fotografiert viel. In den 80er Jahren hat er auf Demos gegen die Räumung von besetzten Häusern eine Menge Bilder geschossen."

    „Vielleicht sollte ich ihn mal fragen, ob er mit mir nach Rostock fährt. „Aber erst mal müssen wir ihn finden.

    „Was Tanja betrifft, denke ich, dass sie das richtig macht. Der beste Schutz vor Übergriffen der Polizei ist eine große Gruppe. Ich finde ihre Aktivitäten bei attac gut. Was attac für die heutige Jugend, im Kampf gegen die sogenannte Globalisierung, ist, war für uns damals der Kampf gegen Imperialismus und Atomkraft. Obwohl Globalisierung nichts Neues ist. Es hat sie immer gegeben. Der Widerstand richtet sich gegen eine Weltordnung, die von den Interessen des Kapitals, vor allem des Finanzkapitals, bestimmt wird, in der sich alles dem Profit unterordnet. Auch bei uns werden die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer."

    Ayla bringt die Getränke. Paul schaut zu ihr hoch.

    „Heute hast du ja einiges zu tun, bedienst du hier draußen alleine?"

    „Um sechs fängt noch eine Kollegin an, ab dann wird es hier richtig voll, da haben wir zu zweit kaum Zeit zum Luftholen. Bei dem schönen Wetter, wird es wohl bis in die späten Abendstunden viel zu tun geben. „Du machst den Job hier ja schon einige Jahre und ich finde du machst ihn richtig gut.

    „Danke, ich verdiene mein Geld damit und heutzutage muss man schon gut sein, die Konkurrenz ist groß. Dich sieht man ja leider nur im Sommer im Winter lässt du dich hier ja nicht blicken."

    „Im Winter kann man nicht draußen sitzen."

    „Wir haben auch ein gutes Restaurant, ich muss weitermachen."

    Sie wird von einem anderen Tisch gerufen, lächelt Paul noch mal zu und widmet sich den anderen Gästen.

    „Ich glaube, die Frau mag dich wirklich, vielleicht solltest du mal etwas offensiver werden."

    „Das Thema hatten wir doch schon, sie ist immer freundlich, das gehört zu ihrer Arbeit, und da kann ich sie nicht noch mal fragen, ob sie sich mal mit mir verabreden will."

    „Vielleicht hast du Recht, es ist schön, hier zu sitzen, beim Thailänder nebenan, ist auch alles besetzt, vielleicht sollten wir da mal zum Essen gehen!"

    „Vielleicht sollten wir im Winter mal hier was essen, am liebsten wenn Ayla da ist."

    „Hör auf mit dem Winter, ich bin froh, dass es nun endlich wieder Sommer wird. Ich denke nicht schon an den nächsten Winter, aber ich merke, dich beschäftigt diese Frau."

    „Ich habe übrigens vorgestern eine türkische Hochzeit bei uns im Haus miterlebt. Nicht selten sieht und hört man ja, eine türkische Hochzeitsgesellschaft lärmend im Autokorso durch die Straßen fahren. Das Brautpaar kam aus dem Haus, in dem ich wohne. Die Autokarawane fuhr unter lautem Gehupe vor, der Brautwagen geschmückt, eine Drei-Mann-Kapelle mit einem Trommler und zwei Flötenspielern, wie sie im Nahen Osten anzutreffen sind, weißt du?"

    „Ja, ich habe so etwas auch schon mal gesehen."

    „Jedenfalls spielte die Truppe lautstark auf und die Hochzeitgesellschaft, die Frauen in schicken Kleidern, die Männer meistens im Anzug, aber nicht alle mit einem Schlips, standen auf dem Bürgersteig, um die Musiker herum. Dann ist die Kapelle ins Haus gegangen, bis in den ersten Stock, wo die türkische Brautfamilie wohnt. Die Musik dröhnte im Hausflur. Da haben sie dann mindestens 15 Minuten lautstark aufgespielt, bis sie mit dem Brautpaar wieder herauskamen. Das Paar wurde zum besonders geschmückten Auto geführt, die Anderen stiegen auch in die wartenden Autos und unter lautstarkem Gehupe ging die Fahrt los. Wie mir mein türkischer Nachbar erzählte, der auch aus dem Fenster schaute, fuhren sie in ein Restaurant, wo dann groß gegessen und gefeiert wird. Ich habe ihn gefragt, ob das Brautpaar in der Moschee getraut wird, wie bei uns in der Kirche. Die Frage konnte er mir aber nicht beantworten oder er hat mich nicht verstanden."

    „Bei uns ist das Heiraten ja auch wieder in, sogar kirchlich, mit schickem Brautkleid und am besten noch eine Hochzeitskutsche. Wenn ich bedenke, wie out so etwas in unserer Generation war."

    „Ja die 68er Bewegung hat zwar viele Veränderungen mit sich gebracht, die damals fast revolutionär waren und heute akzeptiert sind, aber andere Ideen, wie die sogenannte „freie Liebe, die du ja immer noch zu praktizieren versuchst, funktionieren nicht. Genau wie früher wird heimlich betrogen, die Beziehungen zwischen Mann und Frau enden oft in Grabenkämpfen. Die Zweierbeziehung ist wieder ein Hort der Eifersucht und des Wandels von sogenannter Liebe in Hass geworden.

    „Soll das mit dem heimlichen Betrügen jetzt wieder eine Anspielung auf meine Beziehung zu Daniel sein?"

    „Nein das war jetzt nur eine allgemeine Feststellung."

    „Na dann hast du recht. Was die jungen Menschen betrifft, befinden die sich, wie wir früher, auch in einem Gefühlschaos, bevor sie ihren Weg finden. Treue wird groß geschrieben. Ich bin der Meinung, man kann mehreren Menschen treu sein.

    Treue beinhaltet ja auch Zuverlässigkeit und Schutz, man gehört zu jemanden oder zu einer Gruppe, ist nicht allein, da hängt soviel mit zusammen, das ganze Selbstwertgefühl einer Person, das ganze Ich."

    „Na, jetzt wirst du ja philosophisch, jedenfalls ist diese Haltung der heutigen Jugend ganz gewaltig von den Medien bestimmt. Wenn ich an diese Vorabendsendungen im Fernsehen denke, an denen viele Jugendliche hängen, wie Junkies an der Nadel, dann wird mir doch etwas übel. Es geht vor allem um Treue in der Partnerschaft, die natürlich meistens nicht funktioniert, weil sie nur auf eine Person fixiert ist und von dieser Person zu viel erwartet wird. Das wird aber nicht reflektiert. Alles bleibt oberflächlich und banal."

    „Ja, du hast ja Recht, aber ich muss jetzt langsam, lass uns mal zahlen."

    Sie schauen nach Ayla, die Sonne ist hinter den Häusern verschwunden, es ist etwas kühler geworden.

    Ayla kommt an den Tisch.

    Ihr wollt zahlen? Geht das zusammen?

    „Ja, ich lade dich ein", kommt´s von Clara.

    „Zusammen 12,20 Euro."

    „13,--„

    „Danke, ich wünsche euch noch einen schönen Abend."

    „Ich wünsche dir einen schönen Feierabend, tschüs."

    „Danke, mach´s gut Paul"

    „Ciao".

    Die Beiden gehen die Zossener hoch, in Richtung U-Bahn. Clara hat ihr Auto gleich um die Ecke geparkt, Pauls Fahrrad steht am Eingang zur U-Bahn.

    „Danke für die Einladung, grüß Tanja von mir und falls du was von Daniel hörst, ruf mich an."

    „Und du melde dich auch mal, vielleicht hast du ja Lust mal wieder tanzen zu gehen."

    „Vielleicht, tschüs."

    „Ciao".

    Paul geht weiter in Richtung Gneisenaustraße, denkt über Ayla nach.

    Ihm ist klar, dass er damit eigentlich aufhören sollte, aber in letzter Zeit klammert sich sein Gefühl an Hoffnungen und Illusionen. Er ist schon viel zu lange allein. Auch wenn er sich nicht einsam fühlt, fehlt ihm etwas. Eigentlich, kann er gar nicht genau sagen, was das ist. Es ist so eine traurige Leere, die er manchmal verspürt, so eine Hoffnungslosigkeit, dass sich daran jemals etwas ändern könnte. Manchmal, wenn er alleine ist, nimmt er dieses Gefühl deutlich wahr. Auch als er noch mit Clara Tango getanzt hat, spürte er es. Zwar fand er die Berliner Tangoszene zum Abgewöhnen, sie besteht zum großen Teil aus gutsituierten Menschen, die einem neuen Trend folgen. Es kam ihm vor, wie ein Ausverkauf der ursprünglichen Gefühlstiefe, die für ihn durch die Tango-Musik ausgedrückt wurde. Sie handelt vom Scheitern, vom Verlust, der nicht zu vermeiden ist, von Trennung, von Sehnsucht, die sich, wenn der Verstand schweigt, vielleicht in einem Tanz auflöst. Es gab Momente, da spürte er diese Tiefe, in der Musik und im Tanz, aber das passierte eher selten. Zu oft war der Tanz nur eine Aneinanderreihung von gelernten Schritten, ohne jegliche gemeinsame Harmonie. Aber vielleicht sollte er es mal wieder probieren.

    „Du Scheiß-Typ, was hast du dir dabei gedacht? Dass ich das einfach so akzeptiere?"

    Daniel schaut etwas schuldbewusst in Richtung seiner Freundin, die drauf und dran ist noch irgendetwas zu zerdeppern.

    „Nun beruhige dich, ich hab doch gesagt, dass du mir am wichtigsten bist und wenn du willst, gehe ich erst mal nicht mehr zum Tanzen."

    „Ach ja, du pennst mit der erstbesten Frau, die du kennen lernst. Meinst du, dass ich da noch Vertrauen zu dir habe? Wie lange geht das schon so?"

    Rodica Schmith, 41 Jahre alt, lebt seit 15 Jahren zusammen mit dem fünf Jahre älteren Daniel Kofahl. Sie zittert vor Wut und Enttäuschung. Sie hat ihrem Daniel vertraut. Sie gehen schon seit einiger Zeit an den Samstagen eigene Wege. Sie spielt regelmäßig Handball in einer Neuköllner Mannschaft und nach dem Spiel, das meistens am Spätnachmittag stattfindet, sitzen sie noch bis zum späten Abend zusammen und feiern, egal, ob es einen Sieg oder eine Niederlage gab. Sie bilden eine Gruppe von 12 Frauen aus verschiedenen Nationen, zwischen 25 und 43 Jahren, hinzu kommen der Trainer, der schon seit 20 Jahren die Frauenmannschaft des Clubs betreut, seine beiden Assistenten und einige Fans.

    Vor den letzten beiden Spielen dieser Saison stehen sie in der Tabelle zwei Punkte hinter einem Aufstiegsplatz. Rodica ist engagiert, sie spielt im rechten Rückraum, aber in letzter Zeit ist sie nicht mehr ganz so bei der Sache. Seitdem ihr Daniel eigene Wege geht, fühlt sie, dass irgendwas falsch läuft. Sie war froh, als Daniel ihr vor einem Jahr erzählte, dass er Argentinischen Tango lernen will. Seine vorwurfsvollen Blicke an manchen Samstagen, wenn sie ihre Tasche packte, vermittelten ihr das Gefühl, irgendwie schuldig zu sein. Seither geht er regelmäßig tanzen, unter der Woche den einen oder anderen Kurs und am Samstag ins Ballhaus Rixdorf, zum „Schwofen, wie er es nennt, um sie ein wenig zu ärgern. Sie fand das zunächst prima, aber mit der Zeit spürte sie, dass sie sich voneinander entfernten. Sie hat diese Gefühle zunächst beiseitegeschoben. Außerdem hat sie zurzeit mal wieder einen Job von der Agentur für Arbeit, eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, bei dem Verein „Menschen mit Migrationshintergrund e. V., der eine Anlaufstelle für ausländische Frauen und Mädchen eingerichtet hat. Eine Arbeit, die ihr liegt. Sie selbst hat auch einen Migrationshintergrund, sie kommt aus Bozen, hat die italienische Staatsbürgerschaft. Als Südtirolerin beherrscht sie die deutsche Sprache von Kind an. Ihre Familie gehört zu dem Teil Südtirols, der schon immer Deutsch sprach. Sie lebt seit 20 Jahre in Berlin und fühlt sich eigentlich nicht als Ausländerin. Aber die Tatsache, dass sie Italienerin ist und dass sie Erfahrungen mit Migranten besitzt, in ihrem letzten Job hat sie türkischen und arabischen Migrantenkindern bei den Schularbeiten geholfen, hat ihr diese, für ein Jahr befristete Stelle, bei dem Verein eingebracht. Außerdem war sie mit Janina befreundet, einer der festangestellten Aktivistinnen. Sie spielt auch in der Handballmannschaft.

    Rodicas Aufgabe ist es, vor allem das Büro, das als Anlaufstelle für Mädchen und Frauen gedacht ist, so lange wie möglich zu öffnen und die meistens ehrenamtlichen Frauen, die die eigentliche Betreuungsarbeit machen, zu unterstützen und vor allem, den anfallenden Verwaltungskram zu erledigen. Sie hatte in den letzten Monaten also kaum Zeit mit Daniel verbringen können.

    Daniel hat dann, nach einem Dreivierteljahr Tanzerfahrung, Clara kennengelernt, schon nach kurzer Zeit waren sie so vertraut miteinander, dass es sich einfach so ergab. Zuerst tauschten sie nur Zärtlichkeiten auf der Tanzfläche aus, sie waren jetzt keine Fremden mehr, die sich für 3 Minuten zusammentaten, um gemeinsam ihre Sehnsucht tänzerisch auszudrücken.

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1