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Im Dreiländereck: Einsamkeiten
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eBook355 Seiten5 Stunden

Im Dreiländereck: Einsamkeiten

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Über dieses E-Book

Wolf Strickmann, ein Architekt Anfang 40, mit grossen beruflichen Perspektiven, steigt aus und gründet einen Kurierdienst, der sich auf Frankreich spezialisiert. Anlässlich einer Fahrt nach Paris übernimmt er einen privaten Ermittlungsauftrag, der mit einem Doppelmord endet. Verschiedene intime Beziehungen sind nicht erfolgreich.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum24. März 2021
ISBN9783753183732
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    Buchvorschau

    Im Dreiländereck - Rolf Obergfell

    1

    Im Dreiländereck:

    Einsamkeiten

    Roman

    copyright 2012 Rolf Obergfell

    Vorwort

    Heute würde ich Wolf Strickmann gerne persönlich kennen lernen.

    Das war nicht immer so. Nachdem L. – eine jahrelange Bekannte – mir eines seiner Tagebücher gegeben hatte, rührte ich es zunächst wochenlang nicht an: keine Zeit, keine Motivation. Das Intimleben anderer Leute interessiert mich nicht, ich habe mein eigenes. Außerdem kannte ich diese Frau nur oberflächlich und ich konnte mir nicht erklären, warum sie dieses Tagebuch ausgerechnet mir gegeben hatte.

    Dann kam eine dieser schlaflosen Nächte, die es irgendwie zu überstehen gilt. Es war etwas mühsam, denn ich nehme keine Schlaftabletten und zähle keine Schäfchen. Da ich auch keine ernsthafte Lektüre zur Hand hatte, musste ich mich mit diesem Tagebuch begnügen. Ich begann wahllos, klappte es irgendwo in der Mitte auf und las ein Stück, überblätterte Seiten, fing an einer anderen Stelle von Neuem an. Als ich merkte, dass es kein Text war, der von Banalitäten lebte, nahm ich mir mehr Zeit und versuchte, mich in den Autor einzufühlen. Als ich endlich müde wurde, war es vier Uhr morgens geworden und ich hatte fünf Stunden gelesen.

    Dabei blieb es nicht. Der Text beschäftigte mich, obwohl er große zeitliche Lücken aufwies und ich viele Anspielungen und Bezüge nicht verstand. Mit der Zeit begriff ich, dass da jemand darüber reflektierte, wie er sein Leben lebte – ohne sich etwas vorzumachen, ohne etwas zu beschönigen. Mein Interesse stieg.

    Als Nächstes rief ich L. an und wir verabredeten uns in einem Café bei ihr um die Ecke. Sie redete über alles, nur nicht über dieses Tagebuch. So schnitt eben ich das Thema an, indem ich nach der Anzahl fragte. Wie viele er geschrieben habe, wisse sie nicht. Sie habe 15, lese gerade das achte. Auf meine Frage nach der Bedeutung dieser Tagebücher meinte sie versonnen, dass dieser Wolf ein Leben lebe, wie sie es sich in ihren Jugendträumen ausgemalt habe. Aber das Leben sei anders als Jugendträume und sie sei anders als er. Sie würde das Chaos in seinem Kopf nicht aushalten. Für einen Roman sei dieses Material aber allemal gut. Leider könne sie keine Romane schreiben. Und dann: Warum machst du das nicht?

    Ich wollte nicht mehr wissen – was für eine Beziehung sie hatte zu ihm oder wie sie es mit der Vertraulichkeit in Bezug auf diese Tagebücher halten wollte. Es wären nur Scheingefechte geworden. Innerlich war ich bereit, diesen Roman zu schreiben, konnte es mir nur noch nicht eingestehen.

    Als ich nach seinem Aussehen fragte, wich sie mir aus: unauffällig sei er, ein Gesicht in der Menge, wie du und ich. Zwar gelang es mir noch, ihr zu entlocken, dass er schwarzhaarig ist und eher groß. Das war aber auch schon alles – nach einem Foto habe ich nicht einmal zu fragen gewagt. Aus dem Tagebuch ging außerdem hervor, dass er Brillenträger ist, schlank und ohne Bart. Mit diesen Angaben lässt sich nicht gerade eine detaillierte Personen-beschreibung anfertigen und wahrscheinlich wäre er auf der Straße ein Fremder für mich. Von da an entwickelten sich die Dinge mit einer gewissen Zwangsläufigkeit. Ich sah Bilder zu diesen Texten, versah ich mit Stichwörtern und ordnete sie chronologisch. Das war etwa der Zeitpunkt, an dem ich mein Leben neu organisierte. Ich musste entscheiden, woher die Zeit kommen sollte, die ich für diese Geschichte brauchen würde. Am Anfang war es schmerzhaft, bestimmte Gewohnheiten aufzugeben. Mein Fernsehgerät, zum Beispiel, ist schon lange nicht mehr in Betrieb. Ich weiß nicht einmal, ob es noch funktioniert.

    Meine Bekannte unterstützt mich bei meiner Arbeit, wann immer ich ihre Hilfe brauche. Aber eine Namensliste mit den Freunden Strickmanns hat sie mir nicht gegeben, einen Kontakt von mir zu ihm verhindert sie konsequent, nicht einmal seinen Wohnort kenne ich. Sie hat mir das Versprechen abgenommen, das auch nicht zu recherchieren. Ich vermute, dass sie mir nicht einmal seinen richtigen Namen offenbart hat. Die entsprechenden Angaben im Text habe ich deswegen so ergänzt, dass sie in die Geschichte passen.

    Was das Interesse von L. an diesem Roman ist, weiß ich immer noch nicht, es ist für mich auch nicht wichtig. Ich schreibe diesen Roman aus meinem eigenen Interesse an Wolf Strickmann.

    Die Nacht war kalt und klar, mit Kristallen von Raureif auf der Straße und auf der Windschutzscheibe. Die fahle Sichel des abnehmenden Mondes hing wie nachträglich angeklebt am schwarzen Himmel, scharfkantig und schön. Die Sterne sandten ihr Licht als lange Folge von Pfeilen, ohne Schaden zwar, aber auch nicht freundlich. Da oben in der Verlassenheit des Alls und hier unten auf der Straße war niemand, mit dem er hätte ein Wort sprechen können.

    Wolf Strickmann war allein und unterwegs mit seinem ersten Ermittlungsauftrag. Nach einer langwierigen Entwicklung, die seinen Freunden chaotisch und ziellos vorgekommen war, hatte er sein Leben radikal verändert. Er konnte nicht sagen, was er suchte oder wo er hinwollte, und hatte auch nicht ernsthaft erwartet, dass sich seine Freunde dafür wirklich interessierten. Aber nicht ein Einziger? Als er einige von ihnen danach gefragt hatte, worin sie den Sinn ihrer täglichen Routine sahen und ob sie sich nach etwas anderem sehnten, da waren sie schweigsam geworden. Solche Fragen stellte man nicht. Manche wechselten sofort das Thema.

    Da war zum Beispiel M., der ihm bisher ein verlässlicher Freund gewesen war. Strickmann hatte mit ihm über jedes Problem reden können. Selbst als er vor ein paar Jahren eine kurze Phase gehabt hatte, in der ihm jegliches Interesse an Sex abhandengekommen war, konnte er sich ihm anvertrauen. M. hatte mit so etwas zwar keine Erfahrung, aber er war ein ernsthafter Gesprächspartner gewesen, auch wenn er immer wieder sein Erstaunen geäußert hatte. Wie man keine Lust mehr haben konnte, sich eine Nacht lang mit einer schönen Frau auszuleben und es ihr so zu besorgen, dass sie es später noch einmal haben wollte, das konnte er nicht verstehen. Er hatte gemeint, sein Problem bestünde darin, dass die Weiber ihn nicht mehr freigaben. Sie erschienen in seinem Leben wie das Gras im Frühling und verwandelten sich dann zu Kletten, die er nicht mehr loswurde. Aber nicht mehr geil zu sein, keinen Ständer mehr zu haben, nicht einmal mehr Lust, es sich selbst zu machen – mit solchen Vorstellungen war er überfordert.

    Es war ein gutes Gespräch gewesen damals und es hatte Nähe und Verständnis geschaffen zwischen ihnen beiden, obwohl ihre Standpunkte sehr unterschiedlich gewesen waren. Ein Ergebnis davon war, dass sie einander nichts mehr vorzumachen brauchten. Sie konnten von da ab die Dinge beim Namen nennen. Und jeder nahm sich Zeit, wenn wieder einmal ein solches Gespräch anstand.

    Bis Strickmann allmählich darauf kam, dass M. es meisterhaft verstand, sich in diesen Gesprächen selbst darzustellen. Er war der Typ, dem die Frauen nachliefen, der keine Mühe hatte, einen neuen Job zu finden, der Beziehungen hatte und der sich in der Welt auskannte. Es lief einfach bei ihm. Und das alles sah er natürlich als seine eigene Leistung an. Der Gedanke, dass auch Informatiker Konjunkturzyklen unterworfen sind und dass der Markt sich drehen kann, hätte ihn nur zu ungläubigem Staunen veranlasst. Dabei hatte er durchaus seine Probleme – seine Frau hatte ihn verlassen und mit seinem Herzen war etwas nicht in Ordnung. Aber darüber sprach er nicht. Hauptsache, er war nicht träge geworden oder spießig vor lauter Geld. Er hatte viele Interessen und war beliebt, nicht nur bei den Frauen. Kein Wunder, dass er die Frage, was das alles sollte, schon von vornherein für völlig absurd hielt. Er genoss sein Leben, es ging ihm gut – was wollte er mehr? Mit Wolkenschiebereien wie der Suche nach einem Sinn konnte er nichts anfangen. Aber beantworten konnte er die Frage auch nicht. Sie war ihm offensichtlich unangenehm, zog zu viel an seinem bisherigen Leben in Zweifel. Strickmann fand ihn ein bisschen zwanghaft, hatte den Eindruck, dass er vor etwas davonlief und nicht zur Ruhe kommen wollte, weil er sonst hätte nachdenken müssen über sich. Das war der Grund, warum sein Freund keine Nacht allein sein konnte und warum er keine Bücher las. M. wiederum fand Wolf langweilig, eigenbrötlerisch, idealistisch, naiv. Er interessierte sich nicht dafür, welche Stadt gerade angesagt war, konnte einen Ferrari nicht von einem Lamborghini unterscheiden, kaufte seine Kleider im Schlussverkauf und benutzte nicht einmal ein Rasierwasser. Im Wilden Mann, einem Szenelokal am Alten Marktplatz in Lörrach, hatten ihn seine Freunde schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Viele hatten bereits aufgehört, nach ihm zu fragen. Aber M. musste zugeben, dass Strickmann klar strukturiert denken und scharfsinnig analysieren konnte. Es hatte bisher noch kein Problem gegeben, bei dem er ihm nicht auf die eine oder andere Weise hatte weiterhelfen können. Er hatte eine Menge gesehen in seinem Leben und kannte außer dem Telefonverzeichnis noch ein paar andere Bücher, las immer zwei oder drei parallel. Er verstand es nur nicht, dem Leben seine schönen Seiten abzugewinnen. Lieber wälzte er seltsame Fragen, die nicht weiterbrachten, selbst wenn man eine Antwort gefunden hätte darauf.

    Da ließ Strickmann es bleiben, denn er wollte die Leute, die sich seine Freunde nannten, nicht verunsichern. Er redete nur noch mit wenigen von ihnen ernsthaft, zog sich in sich selbst zurück und blieb allein mit seinen Gefühlen und seinen Ideen. Er ging immer seltener in den Wilden Mann und wäre stattdessen im Trämli zu finden gewesen, einer nostalgischen Kneipe in der Fußgängerzone mit großen Fotos der grünen Straßenbahnen, die Lörrach bis 1967 mit Basel verbunden hatten. Dieses Verhalten verstärkte sich, nachdem mehrere Beziehungen zu interessanten Frauen bereits nach kurzer Zeit wieder auseinandergegangen waren. Wie er all das verarbeitete, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, was konkret alles geschehen war, bis er die Brocken schließlich hinwarf. Auf jeden Fall genügte es ihm nicht, nur zu funktionieren, nur Teil einer riesigen Maschinerie zu sein. Er wollte etwas anderes.

    Jetzt hatte er etwas anderes und er war froh darüber: Von Beruf war er Architekt gewesen und hatte nun die Routine von 15 Jahren Großraumbüro hinter sich gelassen. Er hatte sein Studium interessant gefunden und sich hineingekniet, hatte mehrere Semester in Frankreich studiert und ein zusätzliches Praktikum in den USA absolviert. Aber nach ein paar Jahren empfand er seine Arbeit als mechanisch und leblos. Auf die Dauer war es nicht spannend, Grundrisse zu entwerfen, die Tragfähigkeit von Decken zu berechnen oder die Pünktlichkeit von Bauhandwerkern anzumahnen. Was anderen als Berufserfahrung willkommen war, bedeutete ihm zunächst langweilige Routine und schließlich stumpfsinnige Wiederholung. Dabei stieg der Arbeitsaufwand kontinuierlich. Meistens arbeitete er inzwischen an drei oder vier Projekten gleichzeitig; ein sorgfältiges Arbeiten war nicht mehr möglich, alles sollte schnell gehen. Verdichtung der Arbeit nannten sie das im Kollegenkreis. Damit war das Phänomen zwar benannt, eine Änderung schafften sie aber nicht. Zu wenig Zusammenhalt, zu viel Angst. Als sein Chef dann auch noch mit Optimierungsberechnungen ankam, sah er seine Felle endgültig davonschwimmen. Es genügte nun nicht mehr, eine Lagerhalle auf dem neuesten Stand der Technik zu bauen. Jetzt sollte auch noch berechnet werden, wo diese Halle stehen sollte, damit möglichst wenig Transportaufwand entstand. Was interessierte es Strickmann, ob eine Lebensmittelkette ihre Transportkosten optimieren oder wie eine Schokoladenfabrik ihre Osterhasen am billigsten in Europa verteilen konnte? Er war Architekt, er wollte Wohnungen, Schulen und Krankenhäuser bauen und nicht mathematische Modelle über gefahrene LKW-Kilometer erstellen. Und zu seinem Leidwesen wurden diese Aufträge immer zahlreicher. Auf jeder Party ließ sein Chef Managern gegenüber eine Bemerkung darüber fallen, dass er einem Konkurrenten die Transportkosten um soundso viel Prozent gesenkt habe. Das mussten sie dann natürlich auch haben. Die Aufträge kamen so zahlreich, dass Wartelisten eingerichtet werden mussten und von Auftrag zu Auftrag höhere Preise durchgesetzt werden konnten. Das Geschäft brummte. Aber während andere Geld scheffelten, reduzierte Strickmann seine Arbeitszeit und beschäftigte sich mit der Verbindung von Funktion und Form bei Großbauten. Nachdem er mit einem eigenen Entwurf zum ersten Mal zufrieden gewesen war, nahm er ab und zu an Wettbewerben teil. Dort traf er interessante Leute, deren Nebensätze für ihn Anregung waren, sich eine bestimmte Fragestellung etwas genauer anzusehen. Niemand war allerdings erstaunter als er selbst, als er mit einem Entwurf für ein Kunstmuseum in einer norddeutschen Großstadt einen ersten Preis gewann.

    Das war der Wendepunkt. Er hätte für einige Zeit nach Norddeutschland ziehen und seine berufliche Position ausbauen, seinen Marktwert systematisch erhöhen können. Aber die Sachzwänge, denen er sich hätte unterwerfen müssen, wären Legion gewesen. Seine Arbeit hätte ihn noch mehr bestimmt. Er hätte sich noch weiter entfernt von den existenziellen Bedürfnissen der kleinen Leute, hätte repräsentative Bauwerke erstellen müssen, während es in vielen Teilen der Welt an primitivsten Unterkünften fehlte. Das wollte er nicht. Er beschloss auszusteigen und verkaufte seinen prämierten Wettbewerbsbeitrag an einen unterlegenen Konkurrenten. Als er dann mit viel Geduld eine berufliche Alternative gefunden hatte, kündigte er in seiner Firma. Sein Chef war völlig konsterniert und bot ihm sofort die Hälfte mehr Gehalt. Aber Strickmann lehnte ab und als sich herumsprach, was für ein Angebot er ausgeschlagen hatte, zweifelten seine Kollegen an seinem Verstand. Strickmann dagegen war überzeugt, dass er auf dem richtigen Weg war. Er hatte zum ersten Mal seit Jahren nicht mehr das Gefühl, zu rennen wie ein Hamster in seinem Laufrad, und begann mit einem individualisierten Kurierdienst.

    Er konnte innerhalb einer Viertelstunde losfahren und bevorzugte Ziele in Frankreich. Lörrach erwies sich dabei als günstiger Standort: Es kamen viel mehr Aufträge als erwartet, so dass er eine Auswahl treffen konnte. Seine Kunden schätzten die klaren Absprachen und seine Verfügbarkeit. Dafür waren sie bereit, mehr zu bezahlen, denn er arbeitete nicht billig. Allerdings hatten sie oft keine Wahl. Die allgemeine Beschleunigung des Lebensrhythmus setzte sie derart unter Termindruck, dass schon der kleinste Fehler in ihrer Logistik zu einem Desaster führte. Und dann konnten sie Strickmann anrufen. Das wussten sie und er wusste es auch. Er leistete gute Arbeit und verlangte dafür eine gute Bezahlung.

    Außerdem wollte er nicht wegziehen. Er liebte Lörrach: die vielen Straßencafés, die dem Provinzstädtchen am südwestlichsten Rand der Republik eine französische Atmosphäre gaben – vor allem am Freitagnachmittag, wenn der bibliobus aus Mulhouse auf dem Alten Marktplatz vorfuhr; dann konnte man meinen, Frankreich beginne unmittelbar vor der eigenen Haustür; er wusste, wo man Boule spielen konnte und in welcher Kneipe sich die Franzosen trafen, die in der Stadt lebten; er liebte die prallgrüne Natur voller Licht und voller Leben in der Umgebung und die Nähe zu Basel und zum Rhein; es gab zwei Universitäten in unmittelbarer Nachbarschaft, eine ganze Reihe erstklassiger Museen und Musikclubs, dazu Theater, Kleinkunstbühnen und hervorragende Programmkinos; in fünf Stunden war man mit dem Auto in Lyon und in sechs in Paris oder in der Provence.

    Es war etwa 20 Uhr, als er zu Hause mit seinem Wohnmobil losfuhr, und schon dunkel. Den Spätherbst mochte er eigentlich nicht besonders. Den Kopf noch voll mit Erinnerungen an die Wärme des Sommers im Dreiländereck zwischen Deutschland, Frankreich und der Schweiz, konnte er sich morgens nur langsam an die Nebelschwaden gewöhnen, die vom Rhein und von der Wiese herüberzogen. Allmählich musste man sich auch auf glatte Straßen und Kälte einstellen und morgens das Eis von den Autoscheiben kratzen. Was ihm auch nicht gefiel war die Tatsache, dass seine Welt kleiner wurde während der kalten Jahreszeit, weil er keinen Wintersport trieb. Das Leben in der Natur, das er so sehr mochte und in den warmen Monaten auf Wandertouren im Schwarzwald und in den Vogesen fand, war nicht mehr möglich. Er hatte angefangen, auf seinen Wanderungen im Freien zu übernachten, und konnte sich mit seiner extrem leichten Ausrüstung schnell ein Nachtlager bauen, selbst bei Regen. Aber an so etwas war im Winter nicht zu denken.

    Und doch war ihm die Umstellung auf den Herbst in diesem Jahr leichter gefallen als sonst. Er hatte einem Winzer bei der Traubenernte geholfen und bei der Lese hatte er begriffen, dass der Sommer vorbei war. Das Markgräflerland, das sich auf der deutschen Seite des Rheins von Basel bis in die Nähe von Freiburg erstreckt, ist ein Weinanbaugebiet, wo es keinen Maulwurfshügel gibt, an dessen Südhang nicht ein paar Reben angepflanzt wären. Er wollte einfach wissen, wie man das macht, Trauben ernten. Im Stillen träumte er von einem mehrwöchigen Aufenthalt bei der Weinlese in der Provence. Und nun hatte sich diese eine Woche ungewohnter körperlicher Arbeit im Weinberg als guter Übergang in die kalten Monate herausgestellt.

    Ursprünglich hatte er sich auf diesen Kurierauftrag nach Frankreich gefreut. Seit den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen im Mai herrschte politischer Stillstand im Land; die Regierung war offensichtlich am Ende mit ihrem Latein. Jetzt, nach der Bundestagswahl und den begonnenen Koalitionsverhandlungen, konnte man die verschiedenen Politikeraussagen davor und danach miteinander vergleichen – das Ergebnis war eine Realsatire, wie sie sich kein Kabarettist besser hätte ausdenken können. Derjenige, der am Zaun des Kanzleramtes gerüttelt hatte, weil er da hineinwollte, saß nun im Aufsichtsrat einer russischen Gasfirma; sie betrieb eine Pipeline nach Westen, für deren Realisierung der Zaunrüttler verantwortlich zeichnete. Aber im Grunde interessierte das niemanden weiter. Und derjenige, der in seinem Auftrag die Arbeitslosenunterstützung reformiert hatte und damit den kleinen Leuten das Geld kürzen sollte, war inzwischen als Personalchef eines Konzerns zurückgetreten, weil er in die Organisation von Luxusreisen für Betriebsratsmitglieder verwickelt war – man hatte sich in den exklusivsten Städten der Welt mit Prostituierten vergnügt. Geld hatte dabei keine Rolle gespielt, bezahlt hatte der Konzern und kein einziger Sozialdemokrat war deswegen rot geworden.

    Strickmann war froh, dass er von solchen Nachrichten eine Weile verschont bleiben würde. Aber nun würde es nichts werden mit dem geplanten Urlaub von der Politik. In Frankreich machte sich die verzweifelte Lage der Jugendlichen nordafrikanischer Abstammung in Gewaltakten großen Stils Luft. In vielen Vorstädten brannten nachts Autos. Wie das werden würde, war noch nicht klar.

    Wenig später überquerte er den Rhein – den Großen Fließenden der Kelten – und war im Nachbarland. Trotz aller Probleme musste er lächeln, als er daran dachte, wie sehr er dieses Land liebte und dass es einmal als Erbfeind gegolten hatte. Dann tauchten Erinnerungen an Gespräche mit seinem Großvater auf, der im Ersten Weltkrieg in den Schützengräben vor Verdun hatte kämpfen müssen. Schon als Kind hatte Strickmann die vage Vermutung gehabt, dass sein Großvater erlebt haben müsste, was in den Geschichtsbüchern stand; er bräuchte ihn nur danach zu fragen. Und manchmal tat der ihm den Gefallen und erzählte. Eine Geschichte war ihm besonders lebhaft in Erinnerung: Weißt du, hatte er begonnen, wir kleinen Leute wollten den Krieg nicht. Wir wussten, dass die französischen Soldaten zu Hause auch Frauen und Kinder hatten – wie wir. Und der Krieg war endlos und wir langweilten uns in den Schützengräben und hatten Angst. Auf dem Weg in die Büsche zum Pinkeln begegneten wir manchmal französischen Soldaten. So entstanden die ersten Kontakte. Es gab Verabredungen und es gab Rufe, die vor einem bevorstehenden Angriff warnten. Dann ergab eines das andere und wir trafen uns mit den Franzosen regelmäßig zwischen den Linien. Später besuchten wir einander in den Schützengräben, spielten Schach und redeten miteinander. An Weihnachten schmückten wir gemeinsam einen Baum, sangen Weihnachtslieder und beschenkten uns gegenseitig mit Kleinigkeiten. Wir wollten nicht aufeinander schießen. Leider kamen die Offiziere dahinter, was wir da trieben, und machten es unmöglich. Wir konnten aber noch vereinbaren, dass wir in Zukunft immer zu hoch zielen würden. Und so haben wir das auch gemacht.

    Nun, der Großvater war ein gottesfürchtiger Mann gewesen und hatte noch an das Gute im Menschen geglaubt. Den Dreck und die Kälte in den Schützengräben, den Artilleriebeschuss und das tödliche Gas erwähnte er nicht. Und auch nicht, dass sie von ihren Generälen zu Tausenden in die Maschinengewehrsalven des Gegners hineingetrieben wurden und dabei fielen wie das Gras unter der Sense des Schnitters: Bauernopfer im Kampf der Großen um die Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen Interessen. Viele Kleine begriffen damals nicht, was mit ihnen geschah, nicht nur der Großvater. Und vielleicht hatte er die Fotos von den Eisenbahnzügen nicht gekannt, die man damals als Truppentransporter einsetzte und die die Aufschrift trugen Auf Wiedersehen in Paris! Und darum herum sah man nur strahlende Gesichter von kleinen Leuten.

    Trotzdem tat es gut zu hören, dass damals nicht alle vom Krieg überzeugt waren. Und er hatte auch Glück gehabt, der Großvater. Irgendwann traf ihn dann doch eine Kugel aus einem französischen Karabiner in den Bauch. Im Lazarett stellte sich heraus, dass sein Körper das Blei allmählich abkapselte. Er hatte keine weiteren inneren Verletzungen und die Wunde infizierte sich nicht. Trotzdem war damit der Krieg für ihn zu Ende und er starb 60 Jahre später an Altersschwäche.

    Die Geschichte, die Strickmanns Großvater ihm als Kind erzählt hat, entspricht den historischen Tatsachen. Inzwischen – nach fast 100 Jahren – hat auch die offizielle Geschichtsschreibung diesen Aspekt des Ersten Weltkrieges entdeckt und es gibt nicht nur die ersten Bücher darüber, sondern auch einen Spielfilm¹.

    In Strickmanns Tagebüchern kommen immer wieder solche Situationen vor, in denen ein scheinbar belangloses Wort zu einem Auslöser wird für eine ganze Kette von Assoziationen wie hier das Wort Frankreich.

    Dann versuchte er, sich wieder auf den Weg zu konzentrieren. Kurz hinter St. Louis stand ein Mann an der Straße und machte die charakteristische Handbewegung eines Autostoppers. Das kam ihm gerade recht. Sie könnten sich gegenseitig Geschichten erzählen und die Fahrt würde weniger langweilig werden. Er hatte kein Gepäck und war dunkel gekleidet.

    Strickmann reagierte spät, bremste und fuhr ein Stück zurück. Der Mann war eine Frau. Sie stellte sich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung an die Beifahrertür und er öffnete das Fenster:

    Hallo. Wohin möchten Sie?

    Wohin fährst du?

    Er musste grinsen und deutete mit der Hand Richtung Westen:

    Nach da.

    Sie lächelte gequält:

    Gut. Genau da möchte ich hin.

    Er öffnete die Beifahrertür ein Stück. Als die Frau sie ganz aufzog, fiel ihr die Handtasche hinunter, die sie über ihre linke Schulter hängen hatte:

    "Merde alors: Jetzt ist alles nass!"

    Sie sammelte ihre Sachen zusammen und stieg ein. Da sie beim Sprechen nur undeutlich artikulierte, hatte er am Anfang Schwierigkeiten zu verstehen, was sie sagte. Als sie sich anschnallte, sah er, dass ihre Finger weiß waren vor Kälte. Er stellte die Heizung höher.

    "Das ist nett von dir. Merci."

    Sie war vielleicht Anfang 30, hübsch und redete nicht wie eine Einheimische. Aber er kannte die verschiedenen französischen Dialekte nicht so gut, dass er hätte sagen können, wo sie aufgewachsen war. Er fuhr los. Der Ort war zu Ende, kein Auto unterwegs. Vor ihnen war nur die dunkle Straße, die sich durch die Nacht Richtung Paris schlängelte. Es störte ihn, dass sie ihn wie selbstverständlich duzte. Überhaupt störte ihn die Situation. Er hätte sie stehen lassen müssen, denn sie hatte ihm kein konkretes Ziel genannt.

    Es war ihm schon passiert, dass sich solche Autostopper an ihn gehängt hatten, überhaupt nicht mehr aussteigen wollten. Gründe dafür gab es viele: schlechtes Wetter, Geldmangel, Einsamkeit, Verzweiflung. Und einer davon reichte bereits vollkommen aus für ein Problem. Solchen Leuten war es egal, ob ein Auto sie nach Norden oder nach Süden mitnahm. Sie hatten keine Vorstellung davon, wie es weitergehen sollte. Da genügte ein bisschen Wärme, eine freundliche Geste, eine Frage, die Interesse signalisierte. Er wusste das und hatte sie trotzdem mitgenommen. Was also war los mit ihm? Warum hatte er sich nicht besser abgrenzen können gegen diese Frau? Was brauchte er von ihr? Fühlte er sich so allein, dass er schon bereit war, jeden und jede mitzunehmen?

    Als sie jetzt neben ihm saß, sah er, dass ihr linkes Auge blau war, und an der Wange hatte sie eine offene Wunde. Sie war zwar nicht groß, aber sie blutete. Er würde ihr nachher ein Pflaster anbieten. Oder lieber nicht? Unsinn, eine Wunde gehört versorgt. Beim ersten Stopp würde er sich darum kümmern. Trotzdem: Diese Frau wollte nicht irgendwo hin, diese Frau wollte irgendwo weg.

    Hast du ein Taschentuch für mich?

    Im Handschuhfach ist Toilettenpapier.

    Sie war überrascht, riss aber ein langes Stück von der Rolle ab, schnäuzte sich und steckte den Rest in die Tasche ihrer Jeans. Strickmann entspannte sich etwas, wenn er sich auch ausgenutzt fühlte. Immerhin, sie hatte eine Vorstellung von einer Situation nach dieser Fahrt und nahm, was sie bekommen konnte. Damit konnte er umgehen.

    Darf ich eine rauchen?

    Er deutete auf das Armaturenbrett vor ihr:

    Da ist Tabak. Können Sie drehen?

    Wortlos öffnete sie zuerst das Handschuhfach und danach das Tabakpäckchen und atmete das Aroma tief ein. Dann nahm sie ein Blättchen Papier, füllte es mit den fein geschnittenen Tabakstreifen und begann, es zwischen Daumen und Zeigefinger beider Hände zu drehen. Das Blättchen zerriss. Offensichtlich waren ihre Finger immer noch zu steif von der Kälte. Wer weiß, wie lange sie da an der Straße gestanden hatte.

    "Haben Sie lange auf den lift warten müssen?"

    Worauf?

    Englisch sprach sie auf jeden Fall nicht.

    Auf ein Auto.

    Vielleicht 15, 20 Minuten. Um diese Zeit ist nicht mehr viel los.

    Sie bewegte ihre Finger, schloss die Hände ein paar Mal und öffnete sie wieder, um ihre Muskeln aufzuwärmen. Schließlich hielt sie sie abwechselnd eine Weile in den warmen Luftstrom der Heizung. Dann spuckte sie auf den Tabak:

    Der ist schon ziemlich ausgetrocknet.

    Sie verteilte den Speichel und rollte das Papier ein paar Mal hin und her. Es war wie ein Ritual. Anschließend kramte sie ein Feuerzeug aus ihrer Hose und zündete die fertige Zigarette an. Sie war geübt, es war ein gleichmäßig dickes Stäbchen geworden. Die schlanken Beine übereinandergeschlagen, das Kinn auf ihre linke Hand gestützt, inhalierte sie den Rauch und blickte versonnen in die Nacht. Dann griff sie ganz selbstverständlich noch einmal zu den Blättchen. Wollte sie sich jetzt noch eine auf Vorrat drehen für später?

    Ich dreh dir auch eine.

    Nein, danke. Ich möchte keine.

    Rauchst du nicht?

    "Nein. Manchmal stecke ich

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