Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Der Nihilist: Ein Bericht
Der Nihilist: Ein Bericht
Der Nihilist: Ein Bericht
eBook237 Seiten2 Stunden

Der Nihilist: Ein Bericht

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Wo landet man, wenn man sich von allem frei macht? Nach Elena Landauers Roman "Der Nihilist" am Ende in der Praxis einer Psychotherapeutin. Dort hockt der Held ihres Romans nach dem Selbstmord seiner Freundin und "versenkt sein Leben im Grab eines professionellen Zuhörers". Dabei endet das Leben Bertolds, so nennt sie ihren notorischen Selbstbefreiungskünstler, nach bürgerlichen Maßstäben durchaus erfolgreich in einer kleinen Villa in Hamburg. Dahin hat er es aus einem kleinen katholischen Dorf über die Stationen Lektorat, Journalismus und Schriftstellerei gebracht.
Was sein Leben bestimmt hat, war das Streben nach Freiheit. Er befreit sich von den Banden seiner religiösen Erziehung und den politischen Konventionen der Epoche, vor allem aber meidet er jede Bindung an eine Frau. Landauers Protagonist ist ein atheistischer Moralist, der seinen eigenen Weg im ideologischen Durcheinander der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sucht.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum6. Dez. 2014
ISBN9783738008944
Der Nihilist: Ein Bericht

Ähnlich wie Der Nihilist

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Der Nihilist

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Der Nihilist - Elena Landauer

    Vorwort

    Im Frühjahr 2001 meldete sich in meiner Praxis ein 59jähriger Mann und fragte, ob ich Zeit für ihn hätte. Ich fragte zurück, was sein Anliegen sei. Er wolle reden, sagte er. Ich gab ihm einen Termin für ein Erstgespräch.

    Er erschien pünktlich zum verabredeten Zeitpunkt. Er war ein groß gewachsener, sportlich schlanker Mann, der unter Berücksichtigung seines fortgeschrittenen Alters attraktiv aussah. Man konnte vermuten, dass er in jüngeren Jahren auf Frauen Eindruck gemacht hatte. Ich fragte ihn, wie ich ihm helfen könne. Er fragte zurück, ob ich bereit sei zuzuhören. Ich bin es gewohnt, dass meine Patienten mit ihrem Problem herausplatzen, mit ihrer Klaustrophobie, ihren Schwierigkeiten in der Partnerschaft, ihrer Entscheidungsunfähigkeit oder was auch immer. Sein entschiedener Wille, nichts dergleichen zu nennen, reizte mich. Ich wollte ihn ein wenig provozieren und sagte, ich wäre bereit, ihm zuzuhören, wenn er bereit wäre, gut zu zahlen. Das war für ihn kein Problem.

    Er sagte, er habe viel zu erzählen, er wolle sein Leben auskotzen und es im Grab eines professionellen Zuhörers versenken. Hilfe erwarte er nicht. Ich nahm ihn als Patienten an. Die Gespräche fanden einmal wöchentlich statt und zogen sich über ein halbes Jahr hin. Es herrschte durchweg eine entspannte Atmosphäre. Es waren eher freundschaftliche Unterhaltungen als Therapiesitzungen.

    Ich fragte ihn, ob ich ein Band mitlaufen lassen und mir Notizen machen dürfe. Er hatte keine Einwände. Gegen Ende unserer Begegnungen im Herbst 2001 fragte ich ihn, ob ich bei Veröffentlichungen auch auf seinen Fall Bezug nehmen könne, natürlich unter Abänderung der Namen und Örtlichkeiten. Er sagte, ich könne sein ganzes Leben veröffentlichen, wenn ich es für mitteilenswert hielte, allerdings erst posthum. Es sei ihm sogar ein Trost, in irgendeiner wissenschaftlichen Zeitschrift als Fall weiterexistieren zu können.

    Er, ich nenne ihn Bertold, starb im Sommer 2007 durch Selbstmord. Er schoss sich in die Schläfe. Obwohl aus seinem Abschiedsbrief das Motiv klar hervorging - bei Bertold war Alzheimer diagnostiziert worden -, stellte die Polizei doch Nachforschungen an und kam so auf mich.

    Bertolds Lebensgeschichte ist für mich ein Zeitdokument. Sie zeigt die Probleme von Menschen, die keine moralischen Normen außer den selbstgesetzten gelten lassen. Bei aller Sympathie für Bertold will ich sein Leben nicht glorifizieren noch will ich sein Verhalten verurteilen. Ich enthalte mich einer Wertung. Ich gebe nur möglichst genau wieder, was er mir erzählt hat, mit den Schwerpunkten, die er gesetzt, und mit den Wertungen, die er vorgenommen hat.

    Elena Landauer

    1

    „Ich bin Nihilist", waren die ersten Worte Bertolds nach der Begrüßung. Er sage dies, begründete er, um mich zu warnen. Falls ich also Angst um meinen Seelenfrieden hätte, könne ich auch die Therapie verweigern. Ich sagte ihm, Nihilisten seien mir immer noch lieber als Mörder, und auch die säßen mir gelegentlich gegenüber. Nein, Mörder sei er nicht, beruhigte mich Bertold, jedenfalls nicht im juristischen Sinne. Er könne wortwörtlich sogar keiner Fliege was zuleide tun und öffne das Fenster, wenn eine vergeblich versuche durch die Scheibe ins Freie zu kommen. Um so weniger könne er einen Menschen leiden sehen, und wenn er Tierfilme anschaue, was er gerne tue, schalte er schnell um, wenn ein Raubtier sich über seine Beute hermache. Er sei also ausgesprochen sentimental, was wahrscheinlich ein kümmerliches Relikt seiner religiösen Erziehung sei.

    Das aber bedeute nicht, dass er nicht doch alles für sinnlos halte. Immer wenn er höre, dass irgendetwas von ewigem Wert sei, sträubten sich ihm die Haare, egal ob es um Goethes Faust oder Mozarts Kleine Nachtmusik gehe, oder, was noch lächerlicher sei, um einen Geschwindigkeitsweltrekord, der doch einige Zeit später sowieso übertroffen werde, oder gar um ein Fußballtor, das manche Reporter sich nicht scheuten als ein Tor für die Ewigkeit zu bezeichnen, an das sich aber drei Monate später kaum noch jemand erinnern könne, und das alles, wo doch Astronomen inzwischen recht genau vorhersagen könnten, wann die Erde von der Sonne verschluckt und alles Leben vernichtet werde, sogar das der Insekten, woraufhin dann definitiv sich niemand mehr an ein schönes Tor und noch nicht einmal an Goethe und Mozart erinnern werde. Aber wahrscheinlich müsse man gar nicht so lange warten, bis die Sonne alles in heißer Glut verschlungen habe. Wahrscheinlicher sei, dass irgendein riesiger Meteorit, von dessen Existenz wir noch gar nichts wüssten, weil er Lichtjahre entfernt sei, sich mit an Lichtgeschwindigkeit grenzender Eile der Erde nähere und sie zertrümmere, oder dass ein Vulkanausbruch wie in der Vergangenheit die Erde in schwarze Wolken hülle, unter der alles Leben zugrunde gehe, mal abgesehen davon, dass die Menschen vielleicht vorher schon selbst die Erde unbewohnbar gemacht hätten. Es sei eben alles vergänglich und nichts ewig außer den Gesetzen der Mathematik, von denen aber niemand leben könne. Und selbst, wenn man den Blick nicht so weit schweifen lasse und nur ein paar Jahrzehnte ins Auge fasse, sei die Vergeblichkeit allen Bemühens unübersehbar. Da rackere sich einer sein Leben lang ab oder zeige Mut, Tapferkeit und Nächstenliebe; der Tod aber überantworte ihn trotzdem dem Vergessen. Da kümmerten sich Eltern liebevoll um ihre Kinder, die wenige Jahre später nur auf das Erbe schielten und sich gegenseitig mit Prozessen überzögen, und kaum habe eine schöne Frau die Blüte ihrer Jahre erreicht, zeigten sich schon die ersten Falten und wenige Jahre später schleppe sie sich als krumme Alte durch die Straßen, wenn sie sich nicht schon vorher umbringe.

    Vielleicht hatte Berthold gedacht, ich würde mich auf eine Diskussion über seine nihilistische Weltanschauung einlassen und den Versuch machen, ihm das Leben als sinnvoll darzustellen. Es hätte ihm sicher Spaß gemacht, mir zu beweisen, dass ich mit diesem Versuch bei ihm scheitern würde. Mich interessierte an seiner Tirade aber nur, warum er das Bedürfnis hatte, sie mir sozusagen ins Gesicht zu klatschen. Welchen Schmerz und welches Schuldgefühl übererdeckte er mit seiner langen Rede? Ich nutzte sein momentanes Schweigen, ihn zu fragen, wer sich denn umgebracht habe. Bertold schaute mich einen Moment verblüfft an und erzählte dann von seiner Freundin Mona, deren Selbstmord ihn geschockt habe, und von seinen Schuldgefühlen. Warum hatte er nicht die Zeichen der Verzweiflung in ihrem Verhalten erkannt? Natürlich hatte er gewusst, dass sie litt, obwohl sie es zu verstecken versuchte. Sie litt darunter, dass er nur verliebt war in sie, sie aber ihrer Meinung nach nicht liebte. Liebe bedeute abhängig werden, und er sei nicht abhängig gewesen, jedenfalls nicht, solange sie gelebt habe. Jetzt, wo sie nicht mehr lebte, wo sie sich sogar seinetwegen umgebracht habe, war er maßlos traurig. Er trauerte mehr, als sie sich hätte vorstellen können. Er fühlte sich allein gelassen. Schließlich war sie seine beste und einzige Freundin gewesen, eine kluge, stolze und schöne Frau, die ihn liebte, wie er war. Er war gerne mit ihr zusammen gewesen, seit sie vor fünf Jahren zu Hause ausgezogen war und sich eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in Eimsbüttel genommen hatte. Sie waren regelmäßig zusammen essen gegangen, hatten nächtelang diskutiert, sie waren zusammen ins Kino, in die Oper, ins Theater gegangen, sie hatten zusammen Freunde besucht, sie waren auch meist zusammen in Urlaub gefahren.

    Treu war er nicht gewesen. Das war auch nicht vereinbart. Sie ließen einander jede Freiheit. Er hatte seine Affären: Schauspielerinnen, Studentinnen, Verkäuferinnen und so weiter. Sie hatte ihm daraus nie einen Vorwurf gemacht. Beklagt hatte sie sich lediglich darüber, dass er mit ihr nicht die „Schweinereien" - sie nannte es tatsächlich so - machte, die sie ihm bei anderen Frauen unterstellte. Zwar war es für ihn immer von besonderem Reiz gewesen, eine Frau zum Objekt seiner sexuellen Lust zu machen, bei ihr aber tat er es nicht. Er versuchte immer so etwas wie Förmlichkeit in ihrer Beziehung zu wahren, nicht zuletzt aus Selbstschutz. Er war immer in Gefahr, sich an diese Frau zu verlieren.

    Dass seine Affären meist deutlich jünger waren als sie, nahm sie als natürlichen Vorzug der Jugend hin. Ihm vorzuhalten, dass er sich an jüngeren Frauen vergreife, weil er sich an erfahrenere Frauen nicht herantraue, kam ihr nicht in den Sinn. Sie war zu klug, um an diesen albernen Vorhalt älterer Frauen zu glauben. Sie wusste, dass ältere Frauen ihm nachliefen und dass er um die jüngeren Frauen, die sich ihrer Attraktivität bewusst waren, eher kämpfen musste, je mehr er in die Jahre kam.

    Von ihrem Selbstmord war er überrascht. Selbstmord war eigentlich zu pathetisch für sie, die alles Pathetische hasste. In den Worten ihres Abschiedsbriefes erkannte er aber eine gestische Angewohnheit, die sie in der letzten Zeit gekennzeichnet hatte: ein plötzliches Emporreißen des Kopfes, wenn sie nach und nach in sich zusammengesunken war oder leicht gebeugt daherkam. Dann leuchtete er wieder auf, der Stolz in ihrer Haltung und ihrem Blick. Nach außen hin hatte sie bis zuletzt funktioniert. Ihre schulischen Verpflichtungen als Oberstudienrätin für Deutsch und Kunst hatte sie mit Leichtigkeit erledigt. Offenbar war sie sehr beliebt gewesen. Seit Jahren war sie Vertrauenslehrerin an ihrer Schule. In den Abibüchern, die doch manchmal von Gehässigkeiten strotzten, wurde ihr immer ein liebevolles und anerkennendes Abschiedslied gesungen.

    Er erinnerte sich an ihre erste Begegnung. Es war auf einer Vernissage in Ottensen. Die Galeristin hatte ihn eingeladen. Die Ausstellung war nicht weit von seinem Haus entfernt, so ging er hin. Der Künstler, der da präsentiert wurde, beantwortete Fragen, die ihm gestellt oder auch nicht gestellt wurden. Er litt unter verbaler Diarrhö; so sahen auch seine großformatigen Bilder aus: Als hätte er sein Mittagessen hingekotzt oder auf andere Art ausgeschieden. Anorganisches und Organisches durcheinander gerührt unter dem Obertitel „The day after. Sollte es wirklich so aussehen an diesem Tag, war es besser, ihn nicht zu erleben. Schockierend oder gar aufrüttelnd fand Bertold die Bilder aber nicht, nur hässlich und unappetitlich. Wahrscheinlich fehlte dem Künstler die Fähigkeit, den „Day before zu malen. Trotzdem tat Bertold so, als wolle er die Botschaft der Bilder verstehen, näherte sich ihnen auf Riechweite und ging dann zurück, um vielleicht doch etwas zu erkennen. Es war nichts zu erkennen außer Kotze.

    Da stieß er sie an, als er einen zu schnellen Rückwärtsschritt machte. Er entschuldigte sich. Es war aber nichts passiert. Sie hielt das Sektglas noch in der Hand, ihr himmelblaues Kleid hatte offenbar nichts abbekommen und es gab keine Pfütze auf dem Boden.

    „Haben Sie die Botschaft verstanden? Sie geben sich ja sichtbar Mühe," fragte sie.

    „Vielleicht können Sie mir helfen. Ich bin etwas begriffsstutzig."

    „Was ich Ihnen sagen könnte, würde Sie nur enttäuschen."

    „Und das wäre."

    „The day after."

    „Es sieht nicht schön aus."

    „Darauf soll es ja nicht ankommen."

    „Bevor wir uns weiter in die Geheimnisse der modernen Kunst vertiefen – darf ich mich vorstellen?"

    „Nicht nötig, Sie sind mir bekannt. Ich habe Sie in Ihrer Rolle als Präsident in „Kabale und Liebe gesehen. Ich bin Mona Mehrkens. Aber wollen Sie nicht auch ein Glas Sekt trinken? Sie haben es sich doch nach Ihren intensiven Studien verdient.

    Er nahm sich ein Glas vom Tisch. Sie folgte ihm. Man prostete sich zu und nahm auf einem der Sofas Platz.

    „Was führt Sie hierher?"

    „Ich bin mit der Galeristin befreundet. Und Sie?", fragte sie.

    „Ich bin eingeladen."

    „Sie werden sicher des Öfteren eingeladen."

    „Nun ja."

    „Gehen Sie immer hin, wenn Sie eingeladen werden?"

    „Unser Gespräch entwickelt sich zu einem Verhör."

    „Das war meine Absicht, als ich mich hinter sie gestellt habe, um von Ihnen angerempelt zu werden."

    Die Frechheit imponierte ihm.

    „Und was machen Sie, wenn Sie mal nicht im Weg stehen?"

    „Jetzt soll also das Verhör in die entgegengesetzte Richtung laufen? Ich unterrichte an einem Gymnasium Deutsch und Kunst."

    „Dann sind Sie also vom Fach und können mir sicher etwas über diese Kunstwerke hier sagen."

    „Ich finde sie ekelhaft und in der Aussage so plump und banal, dass es schon peinlich ist."

    „Wenn Sie das als Fachfrau sagen, dann freue ich mich über mein eigenes Urteil. Wussten Sie, was Sie hier erwartet?"

    „Nein, dann wäre ich nicht gekommen, und das wäre natürlich schade."

    „Wieso?"

    „Sie sind ganz schön eitel. Was soll ich wohl darauf sagen?"

    „Dasselbe wie ich. Man geht hin auf gut Glück, vielleicht gibt es ja was Interessantes zu sehen und vielleicht lernt man auch einen interessanten Menschen kennen."

    „Darum gehen Sie also auf Vernissagen?"

    „Natürlich auch wegen des Sekts und der Appetithäppchen. Und man lernt dabei immer wieder schöne und kluge Frauen kennen."

    „Danke für das Kompliment. Ist Kommissar Brandsen Ihr alter Ego?"

    „Sie kennen meine Krimis?"

    „Einige. Ihre Rolle als Präsident hätte mich nicht dazu verleitet, mich Ihnen in den Weg zu stellen.

    Der Schriftsteller interessiert mich mehr. Also, ist Brandsen Ihr alter Ego?"

    Susi, die Galeristin, kam hinzu, machte einige freundliche und anzügliche Bemerkungen, wobei sie nicht vergaß zu erwähnen, dass Mona glücklich verheiratet und Bertold ein notorischer Verführer sei, fragte nach, was sie von den ausgestellten Kunstwerken hielten, woraufhin ihr bestätigt wurde, dass sie bemerkenswert seien, und beendete das traute Zwiegespräch, weil sie die beiden unbedingt einigen weiteren Personen vorstellen musste.

    Aber man traf sich wieder. „Ich würde gerne mal in Ruhe mit Ihnen einen Kaffee trinken, sagte sie im Vorbeigehen." Drei Tage später rief er sie an.

    Jetzt war sie tot. Warum konnte er sich nicht verlieben, richtig verlieben? Den Boden unter den Füßen verlieren? Haus und Hof und alles andere, was er hatte und nicht hatte, dieser Frau zu Füßen werfen? Als die Schuldgefühle und die Trauer ihm den Magen zuschnürten, hatte er sich im Telefonbuch eine Psychotherapeutin gesucht, mich. Er wollte einfach nur erzählen. Befreiung von den Schuldgefühlen erhoffte er sich angeblich nicht.

    2

    Bertold war in einem sehr kleinen und sehr katholischen Dorf im Rheinland aufgewachsen. An seine Kindheit konnte er sich nur bruchstückhaft erinnern. Sie fiel in die Nachkriegszeit und war von Armut bestimmt. Hauptziel seiner Eltern war, die Familie satt zu bekommen. Er hatte vier Schwestern, zwei ältere und zwei jüngere. Sein Vater hatte die beiden älteren Schwestern mit in die Ehe gebracht. Deren Mutter war bei der Geburt ihres dritten Kindes zusammen mit diesem gestorben. Als Bertold zehn war, bekam er noch einen kleinen Bruder, der allerdings nur ein halbes Jahr lebte. Woran er gestorben war, wusste Bertold nicht. Er erinnerte sich aber genau an die zwiespältigen Gefühle, die er bei der Beerdigung hatte: Einerseits war es traurig, als der kleine weiße Sarg mit seinem Bruder aus dem Haus getragen wurde, andererseits war Bertold auch erleichtert, auch wenn er sich ein bisschen dafür schämte. Denn der Kleine hatte seiner Mutter nicht nur viel Arbeit und Sorgen gemacht, er hatte auch dauernd geschrien. Das Schlimmste aber war, dass seine Mutter ihn Kunibert genannt hatte. So hieß doch keiner im Dorf, außer einem der Dorfdeppen, der zwar offensichtlich fromm war, weil er jeden Sonntag mit schief gelegtem Kopf durch die Kirche zur Kommunion eilte, ansonsten aber ein Depp war. Damit war der Name eine Schande für die Familie, jedenfalls für Bertold, dessen Freunde ihn wegen des Namens seines Bruders aufzogen. Außerdem wohnten im Haus noch seine Oma, die Mutter seiner Mutter, die unter Rheuma litt und, solange er denken konnte, immer in ihrem Zimmer in einem Sessel gesessen hatte, und eine Schwester seiner Oma, Tante Berta, die seit einem Unfall geistesgestört war und alljährlich mindestens einen Selbstmordversuch unternahm, für den sie sich nachher entschuldigte.

    Wenn Bertold fünfzig Jahre später an seine Kindheit zurückdachte, kam es ihm vor, als sei er im Mittelalter aufgewachsen. Wenn er einen Film sah, der in alter Zeit auf dem Land spielte, stellte er fest, dass alles fast genau so aussah wie in seiner Kindheit. Die Atmosphäre und die Lebensumstände seiner Kindheit unterschieden sich kaum von den Verhältnissen fünfzig oder fünfhundert Jahre vorher, waren mit den Verhältnissen fünfzig Jahre später aber kaum zu vergleichen. Zwar gab es in seiner Kindheit elektrisches Licht, es gab einige Traktoren und zwei Autos im Dorf, der Rest aber war mittelalterlich. Die Dorfstraßen waren nicht asphaltiert, einige hatten Kopfsteinpflaster, die übrigen waren Schotterstraßen. Die alten Fachwerkhäuser waren so krumm, wie sie vor Jahrhunderten gebaut worden waren. Nur die Kirche und ein paar Häuser oberhalb des Dorfes waren neueren Datums und aus massivem Stein. Vor nahezu jedem Haus war ein Misthaufen mit einer Jauchegrube daneben. Die Jauche wurde im Herbst auf die Felder gebracht. Wenn die Grube vorher voll war, wurde die Jauche auf die Straße gekippt. Sie lief dann durch das Dorf hinunter zum Fluss. Wer keinen Streit mit den Nachbarn haben wollte, leerte die Grube bei Regen. Wenn jemand aber diese Gelegenheit verpasst hatte oder wenn es lange Zeit nicht geregnet hatte, lief die Jauche auch an sonnigen Tagen durch die Straßen und verbreitete, passend zur mittelalterlichen Architektur, mittelalterliches Aroma. Filme, die im Dreißigjährigen Krieg spielten, hätte man ohne künstliche Kulissen im Dorf drehen können.

    Und jährlich kam der Fluss, meist im späten Winter zur Zeit der Schneeschmelze, aber auch schon mal im Herbst, wenn es stark regnete, und auch schon mal im Winter, wenn es starken Frost gegeben hatte und der Fluss zugefroren war und sich danach bei Tauwetter die Eisschollen an den Flussengen verkeilten und das Wasser aufstauten. Dann blieb kaum Zeit, Hab und Gut zu retten; sonst ging es ganz langsam, aber unaufhörlich. Das Wasser stieg zehn oder zwanzig Zentimeter die Stunde, aber das tat es ein, zwei oder drei Tage lang. Die Kinder standen in ihren grünen Stiefeln in den Dorfstraßen, markierten den jeweiligen Wasserstand mit Steinen und holten sie wieder aus dem Wasser, um den neuen Wasserstand zu markieren. Die Erwachsenen standen dahinter, schüttelten die Köpfe, erzählten von früheren Überschwemmungen und stellten ihre Mutmaßungen darüber an, wie weit das Wasser diesmal steigen würde. Man war es gewohnt, man nahm es ebenso gefasst wie hilflos. Man schützte, was zu schützen war. In den Kellern wurden die Weinfässer gegen die Kellerdecke abgestützt, damit sie nicht im Keller herumtreiben konnten. Die Lebensmittel, die im Keller gelagert waren, vor allem die Kartoffeln, wurden nach oben oder zu höher wohnenden Verwandten gebracht, ebenso alles, was so herumstand.

    Die Keller liefen schon voll, bevor das Wasser die Häuser erreicht hatte. Es sickerte durch die mit Bruchstein gebauten Kellerwände. Es hatte seinen eigenen unterirdischen Weg. Man wusste, wie dieser Weg verlief. Wenn es Bauer A im Keller hatte, wusste Bauer B, dass ihm noch drei oder fünf Stunden blieben, bis das Wasser

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1