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Die Therapeutin und er: Eine Geschichte aus der Latte-Macchiato-Zeit
Die Therapeutin und er: Eine Geschichte aus der Latte-Macchiato-Zeit
Die Therapeutin und er: Eine Geschichte aus der Latte-Macchiato-Zeit
eBook349 Seiten4 Stunden

Die Therapeutin und er: Eine Geschichte aus der Latte-Macchiato-Zeit

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Über dieses E-Book

Die Rahmenhandlung des Romans ist eine wenig mehr als ein Jahr währende Beziehung zweier Menschen Mitte fünfzig in den Nullerjahren, unterbrochen von situationsbedingten Assoziationen und Rückblicken des Ich-Erzählers auf dessen Biografie und damit einhergehenden Zeitbetrachtungen.
Die Partnerin, Therapeutin, ironiefrei, bestimmend, sensibel, impulsiv, unternehmungslustig, hedonistisch, mental und intellektuell geprägt von der Studentenrevolte und deren Nachfolgebewegungen, der Ich-Erzähler hingegen eher skeptisch gegenüber den Zeitströmungen. Dessen weitgehende Weigerung, ihren Wünschen und Forderungen nachzukommen, führt schließlich zum Ende der Beziehung.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum23. Aug. 2015
ISBN9783738037890
Die Therapeutin und er: Eine Geschichte aus der Latte-Macchiato-Zeit

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    Buchvorschau

    Die Therapeutin und er - Gunther Dederichs

    1

    Alles Vergängliche

    Ist nur ein Gleichnis;

    Das Unzulängliche,

    Hier wird’s Ereignis.

    Goethe, Faust

    Die Seele geht nicht mit ins Büro;

    Die Seele schlägt draußen irgendwo

    Im dämmernden Heidekraute

    Die Laute.

    Erich Weinert

    Wer weiß, wozu das gut war.

    Volksmund

    Ein Mann beklagt sich über seine Frau und erhält am Ende die Antwort: »Da haben Sie recht.« Als die Frau sich anschließend über ihren Mann beschwert, bekommt sie dieselbe Antwort. Daraufhin wendet ein Außenstehender ein, es könnten nicht beide recht haben. »Da haben Sie auch recht«, wird ihm erwidert.

    In mehreren Variationen (Ehepaar erscheint bei einem Rabbi(ner) / vor dem Scheidungsrichter) verbreiteter einschlägiger Witz.

    Ich habe die Deutschen durch ihre Sprache kennengelernt. Begriffe wie Beziehungsarbeit, Trauerarbeit oder Selbstüberwindung haben mich gelehrt: Die Deutschen machen sich das Leben gerne schwer.

    Hamed Abdel-Samad

    Kein einziger Tag war vergeblich.

    Antwort seiner Mutter auf seine Bemerkung, bei einem Klassenkameraden, der mit zwölf Jahren tödlich verunglückte, sei eigentlich alles vergeblich gewesen.

    Ich möchte zu deiner Vergangenheit gehören, dann würdest du dich endlich mit mir beschäftigen.

    Seine geschiedene Frau

    Der Raum im hinteren Teil des Cafés war mit voluminösen Sesseln, Sofas und niedrigen Tischen vollgestellt, die in den späten Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts modern gewesen waren und wahrscheinlich bei Wohnungsauflösungen vor der Entsorgung als Sperrmüll bewahrt oder zumindest günstig erstanden wurden, weil man das Zeug auf irgendeine Weise loswerden wollte. Mochten diese Stücke in ihrer früheren Umgebung auf Menschen wie ihn ebenso deprimierend gewirkt haben wie deren ehemalige Besitzer oder wie Stiefmütterchen und einsame Kakteen hinter Häkelgar­dinen, so hatten sie an diesem Ort den beinahe gegenteiligen Effekt. Hier waren sie sozusagen nicht ernst gemeint, waren gewisserma­ßen selbstironisierend – wie die altmodischen Oma-Män­tel, in denen die einstigen Kommunarden Ende der Sechzigerjahre herumliefen, sich in geckenhafter Pose fotografieren ließen –, sei es durch ihre jedem Raumgefühl spottende Anhäufung, wie man es sonst nur auf unzureichenden Ausstellungsflächen von Möbelhäusern findet, sei es, weil deren Arrangeure eine Klientel anvisiert hatten, von der sie mit guten Gründen annehmen konnten, dass sie diese Ironisierung eines vergangenen Mittel­standsmas­sengeschmacks durchschauen, dass ihr solch ein Interieur – wäre es tatsächlich ohne innere Distanz dazu dort aufgestellt worden – ebenfalls als Inbegriff kleinbürgerlichen Spießertums betrachten und dieses Mobiliar in ei­ner normalen Wohnung keinen Tag lang ertragen würde.

    Zudem war ein Großteil der Wände mit vollgestopften Bücherregalen dekoriert, wie man es in Antiquariaten fin­det, was die offenkundig auch beabsichtigte Atmosphäre des Abgenutzten und Verwohnten noch un­terstrich.

    In einer Ecke des Raumes stand ein Flügel, auf dem hin und wieder gejazzt wurde, in einer anderen wurde zu festgesetzten Zeiten ein Büffet aufgebaut.

    Er hatte ihr vorgeschlagen, zusammen hierhin zu gehen, obwohl er damit rechnen musste, dass eventuell kein Platz frei sein wird, was nicht selten vorkam.

    Sie hatten sich für den frühen Nachmittag in der Nähe des Cafés verabredet. Er war bereits ein paar Minuten vorher dort und hatte nicht lange auf sie warten müssen. Seine leichte Unsicherheit war bald verschwunden, nachdem sie sich begrüßt hatten.

    Nach kurzem Überlegen setzten sie sich in der Mitte des Raumes an den letzten freien Tisch. Er hatte sich vorgenommen, sie nicht unentwegt anzusehen, da er befürchtete, sie da­mit nur zu verunsichern. Sie machte jedoch einen recht souveränen Eindruck.

    Er ist sich ziemlich sicher, dass er sich häufiger Menschen anschaut als allgemein üblich, in jedem Fall weniger von anderen beobachtet wird als er das seinerseits tut – ein asymmetrischer Krieg, wenn man so will.

    Was ihm sogleich an ihr auffiel war ihr sensibler Mund, der zumeist ein wenig offen stand, wobei die Lippen leicht zitterten, selbst wenn sie nur einfach dasaß und keinerlei Anstalten machte, das Wort zu ergreifen. Er konnte sich nicht erinnern, das schon einmal bei jemand anderem beobachtet zu haben.

    Zu seiner Erleichterung entwickelte sich sehr schnell ein Gespräch, vielleicht auch deshalb, weil er sich erst gar nicht vorgenommen hatte, ihr das Intelligenteste und Beeindruckendste zu sagen, was je einem Menschen in den Sinn gekommen ist.

    Die Unterhaltung verlief im Großen und Ganzen wie häufig zwischen Männern und Frauen: Er sprach weniger und überwiegend über unpersönliche Themen, sie, die mehr zu berichten wusste, vor allem von sich.

    In irgendeinem Zusammenhang stellte sie fest, er sei eine Mischung aus Heinz Rühmann und Anthony Perkins, womit er jedoch nicht sehr viel anfangen konnte.

    Zwar gehört er einer Generation an, der der Name des Ersteren noch ohne weiteres geläufig ist, der zweite Name sagte ihm jedoch nichts. Er ging aber davon aus, dass es sich ebenfalls um einen Schauspieler handelt, vermut­lich um einen amerikanischen.

    Normalerweise kann er sich Namen von Schauspielern ebenso wenig merken wie die von Blumen oder irgendwelchen Farben, die nicht zu den Spektralfarben gehören oder in seinem Tuschkasten waren, den er als Kind besaß. Er weiß einfach nicht, welche Farben sich hinter bestimmten Wörtern verbergen – genauer: er will es auch gar nicht wissen. Das Wort Mauve etwa findet er dermaßen blöd, dass er sich von vornherein verbietet, auch noch dessen Bedeutung zu kennen. Seiner Meinung nach sollte es vollauf genügen, wenn solche Be­griffe irgendwelchen überschminkten und unterbeschäftigten Frauen geläufig sind, deren Lebensinhalt überwiegend darin besteht, sich in überteuerten Schickimickiboutiquen weit über das vernünftige Maß mit irgendwelchem kurzlebigen, effektheischenden Fummel einzudecken.

    Was den erahnten amerikanischen Schauspieler betrifft, stellte sich bei späteren Recherchen im Internet heraus, dass es sich um den Hauptdarsteller des Thriller-Klassikers Psycho – zumindest den Film hatte er gesehen – handelt, dem der zweifelhafte Ruf anhaftet, der bekannteste gemütsgestörte Schauspieler zu sein, […] der schüchterne, große Junge, der zu glaubhaft und zu furchteinflößend [...] den Part des neurotischen, verklemmten Muttersöhnchens mimte.

    Den Titel dieses Films hatte er zum ersten Mal gehört, als Stunkie, ein ehemaliger Kommilitone, – stets ein fröhlich-iro­nisch wieherndes Meine liiieeeben Freunde! zur Begrüßung auf den Lippen – sich einst darüber beklagt hatte, dass sich seine intellektuell quasi nicht satisfaktionswürdigen Mitschüler im Internat – sie hatten sich einmal in der Woche einen von ihnen ausgewählten Film ansehen dürfen – zu seinem Leidwesen trotz aller mit Herzblut und Verve vorgetragener Überzeugungsarbeit ausnahmslos für einen anderen entschieden hatten. Überflüssig, zu betonen, dass Stunkie auch die ehemaligen Mitschüler gut und gern zwanzig IQ unter seinem Niveau eingestuft haben dürfte.

    Wer es verschmäht, sich dem schnöden Mainstream anzudienen, wird immer irgendeinen Preis dafür zu zahlen haben.

    Als sie seine vermeintliche Ähnlichkeit mit dem besagten Schauspieler erwähnte, konnte sie seine Mutter natürlich noch nicht kennen, über die er bis dahin auch kaum mehr als eine beiläufige Bemerkung gemacht ha­ben dürfte.

    Das Frappierende an der Sache ist, dass sie ihre Charakterisierung seiner Person einige Monate später sogar mit einer aus ihrer Sicht überzeugenden Be­grün­dung hätte vortragen können.

    So weit aber war es damals noch nicht.

    Die Assoziation, wenn auch nicht direkt mit An­tho­ny Perkins, so doch allgemein mit in irgendeiner Weise Abgründigem, Abartigem, Zwielichtigem, Heimlichtuerischem, hatte Jahrzehnte zuvor schon Stunkie ihm gegenüber gehabt, was unter anderem darauf gründete, dass er regelmäßig gegen Abend allein im nahegelegenen Park spazieren ging, die meiste Zeit – damals selbst unter Studenten noch unüblich – unrasiert war und eine Zeitlang in einem blutroten und – da von ihm aus Unwissenheit zu heiß gewaschenen – hautengen Frotteepullover rumlief, seinem, wie Stunkie es nannte, Kinderschänder- beziehungsweise Mörder-Haarmann-Pullover, in Anspielung auf jenen homosexuellen Serienmörder, den Vampir / Werwolf von Hannover, der in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg mehr als zwanzig Jungen und junge Männer durch Bisse in den Hals tötete und anschließend zerstückelte.

    Jedenfalls machte sich Stunkie eine Zeitlang einen Spaß daraus, ihn mit der großteils – aber eben nur großteils! – gespielten Vermutung zu konfrontieren, er suche den Park nur deshalb auf, um auf den dortigen Spielplätzen kleinen Jungen nachzustellen. Warum in dem Zusammenhang nie von kleinen Mädchen die Rede war, entzieht sich seiner Kenntnis, vermutlich aber, weil Stunkie das als weniger abartig betrachtete, da es sich dann zumindest noch um Menschen des anderen Geschlechts gehandelt hätte.

    Er selbst fand das Ganze eher lustig und spielte das Spiel bereitwillig mit.

    Rainer, der ein Jahr nach ihm einzog, übernahm die Stunkiesche Kinderschändertheorie und wurde quasi der dritte Mann im Spiel.

    Als sie in irgendeinem Zusammenhang von einem unschönen Erlebnis in ihrer Kindheit erzählte – er hatte damit gerechnet, dass sie sehr schnell auf ihre Kindheit zu sprechen kommt, hatte vom ersten Moment an diesen Eindruck von ihr gehabt –, begann sie zu weinen. Nach kurzem Zögern ergriff er ihre Hand. Zu seinem Erstaunen bedankte sie sich für diese Geste.

    Nach einer Stunde etwa bekam er das Gefühl, dass sie ihm bereits alles Wesentliche von sich berichtet hatte. Ihre Offenheit und ihr Vertrauen ihm gegenüber fand er zwar sympathisch, er selbst war jedoch anders gestrickt, hatte nicht das Bedürfnis, gleichermaßen detailliert von sich zu berichten.

    Kurz bevor sie gingen, stand ein noch relativ junger Mann zufällig in ihrer Nähe. Er musste etwa Mitte dreißig sein und trug eine bunte gestrickte Hose, wie man sie manchmal bei Leuten sieht, die sich eher der alternativen, esoterischen Szene zuordnen, die hier also durchaus am richtigen Ort waren.

    Sie schaute einen Moment in dessen Richtung, dann wendete sie sich wieder ihm zu und meinte in abschätzigem Ton, sie finde solche Hosen weibisch.

    Er war ein wenig befremdet über ihre Bemerkung, nicht nur wegen der Wahl ihrer Worte, auch über die Vehemenz, mit der sie ihre Ansicht zum Ausdruck brachte. Er selbst empfand ihre Reaktion – zumal gegenüber jemandem, dem sie nichts Konkretes vorzuwerfen hatte – als unangemessen und versuchte vergeblich, das in Einklang zu bringen mit ihrer sensiblen Seite, die er inzwischen auch kennengelernt hatte.

    Es war nicht das erste Mal, dass er Zeuge solch extremer Divergenzen zwischen großer Sensibilität in Bezug auf die eigene Person und der Tendenz zu ausgesprochen negativen Urteilen über andere wurde, was ihm stets unvereinbar schien. Entweder ist man sensibel oder nicht. Entweder neigt man dazu, mehr als gemeinhin üblich über eigene Erlebnisse zu trauern und hat dann konsequenterweise Skrupel, sich in verletzen­der Weise über andere zu äußern, oder man ist grundsätzlich von grobschlächtigerer Art, schreckt also vor solchen Bemerkungen nicht zurück, ist dann aber auch weit davon entfernt, über eigene problematische Erfahrungen in Tränen auszubrechen, zumal wenn sie etliche Jahrzehnte zurückliegen.

    Nach einigem Überlegen entschieden sie sich, zum Wochenmarkt zu gehen, der auf einem recht weitläufigen Platz nur wenige hundert Meter entfernt stattfand, nicht weit von der Wohnung, in der er vorübergehend Unterkunft gefunden hatte, nachdem seine Frau ihn zum ersten Mal ersucht hatte, aus der gemeinsamen Wohnung auszuziehen. Damals aber hatte die Trennung nur einige Wo­chen gedauert. Schließlich hatte sie ihn gebeten, zu ihr zurückzukommen.

    Als sie zum Markt kamen, wurde bereits mit dem Abbauen der Stände begonnen. Nachdem sie dort noch schnell eine Runde gedreht hatten, kaufte er ihr einen voluminösen Blumenstrauß, den sie auf ihren Vorschlag hin sogleich zu ihr nach Haus brachten.

    Ihre Wohnung lag im oberen Stock eines vierstöckigen Gebäudekomplexes aus den Zwanzigerjahren, in einer reinen Wohn- und Schlafgegend, in der es weder Geschäfte noch irgendeine Art öffentlichen Lebens gab, zwar noch im weiteren Sinne zum Stadtzentrum gehörend, das pralle Leben aber fand hier nicht mehr statt. Es war genau die Art von Umfeld, die man, sofern man ein Faible dafür hat, als ruhige Gegend bezeichnet, mit anderen Worten, nicht gerade ihr Leib-und Magenviertel. Auch die Leute dort waren nicht unbedingt nach ihrem Geschmack, wie sie ihm zu verstehen gab.

    Ihre Bemerkung kam für ihn keineswegs überraschend. Er konnte sie sich ohnehin weit besser in einem urbaneren Viertel vorstellen.

    Sie gingen zuerst in die Küche, wo sie eine Kristallvase aus dem Schrank holte, die Vase mit den Blumen, nachdem sie rasch eine Stelle freigeräumt hatte, auf den Tisch stellte und sich sodann an ihrem Espressokocher zu schaffen machte. Sie habe ihn aus Italien mitgebracht, erklärte sie, während sie weiter damit hantierte. Leider gebe es Geräte dieser Art in Deutschland nicht. Hier werde meist nur billiges Zeug aus Alu­minium angeboten, das nicht viel tauge.

    Den Kaffee tranken sie gleich in der Küche.

    Als Sie ihm wieder von einem unerfreulichen Ereignis in ihrem Leben erzählte, strich er ihr über die Wange. Sie begann daraufhin von neuem leise zu weinen.

    Während er sie anschaute, wies sie auf eine leicht gerötete Stelle in ihrem Gesicht, die sie vorsichtig mit dem Finger berührte und dabei erklärte, ihre Haut reagiere dort extrem auf Stimmungen. Ihr Arzt habe sie gewarnt, dass dort sehr leicht Hautkrebs entstehen könne. Sie solle diese Stelle deshalb genau beobachten.

    Er nahm sich vor, ihr keinen Anlass für negative Stimmungen zu geben, die bei ihr Hautkrebs verursachen könnten. Schließlich wollte er nicht ihr vorzeitiges Ableben auf dem Gewissen haben. Wahrscheinlich wäre das sogar fahrlässige Tötung.

    Als sie darauf zu sprechen kamen, wie sie sich eine Beziehung miteinander vorstellen, bemerkte er unter anderem, er habe nicht die Absicht, sie in irgendeiner Weise einzuengen, worauf sie erst einmal nichts erwiderte. Einige Tage später kam sie darauf zurück und brachte ihre Befürchtung seiner eventuellen mangelnden Bereitschaft zum Ausdruck, sich wirklich auf sie einzulassen, eine verbindliche Beziehung mit ihr einzugehen.

    Er fragte sich, ob sie zu den Menschen gehört, die stets die Wahrheit hinter der Wahrheit suchen und darüber nachsinnen, was mit dem Gesagten tatsächlich zum Ausdruck gebracht werden sollte.

    Über der Kommode neben dem Bett hing ein – wie sie ihm erklärte – von ihr selbst gemaltes Bild. Es bestand aus mehreren unterschiedlichen, auf den ersten Blick willkürlich zusammengewürfelten Motiven, zwischen denen er trotz ernsthaften Bemühens keinen Zusam­men­hang erkennen konnte. In der Hinsicht zumindest er­innerte es ihn ein wenig an Gemälde von Chagall.

    Einige Motive vermittelten eine eher deprimierende, zum Teil sogar bedrohliche Stimmung, andere hingegen drückten Harmonie, Geborgenheit und Optimis­mus aus.

    Sie erklärte ihm, es handele sich um ihr Seelenbild. Die einzelnen Motive versinnbildlichten verschiedene Abschnitte ihres Lebens. Jene mit einer eher negativen, düsteren Ausstrahlung symbolisierten vor allem ihre Vergangenheit, die helleren, freundlicheren Darstellungen ihre Zukunft.

    Er hatte bisher noch nie von solchen Bildern gehört und fragte sich, ob er vielleicht die Ursache einer even­tuellen positiven Wende in ihrem Leben ist.

    Mit ihrer Freundschaft begann für ihn neben anderem auch die hohe Zeit der Salatgerichte, für sie offenbar seit langem die abendliche Standardmahlzeit. So lernte er endlich, was es zum Beispiel mit Broccoli und Rucola auf sich hat. An diesem, wie er sich überzeugen konnte, durchaus bekömmlichen Grünzeug war er bis dahin in den Supermärkten achtlos vorübergegangen, vielleicht weil es auf den ersten – zumindest seinen ersten – Blick dem sogar ihm nicht unbekannten Kopfsalat zu ähnlich sieht um sein Interesse zu wecken – eben alles gleichmäßig grün. In Zukunft aber sollten diese neu entdeckten Gewächse eine zentrale Rolle in seiner Nahrungsaufnahme spielen, wie übrigens auch Mohrrüben und diverse Pilzarten, die man, wie sie ihm versicherte, guten Gewissens, ohne ins kulinarische Banausentum abzuirren, in den Blätterhaufen hineinschnippeln könne.

    Für ihn bedeutete die ungewohnte Ernährung zweifelsohne eine Bereicherung. Differenzen zwischen ihnen gab es allein über die Menge des zu ver­(sch)wen­denden Salzes. Ihm genügte etwa ein Drittel dessen, was sie gewöhnlich für sich benutzte. Das Problem wurde aber gelöst, indem jeder seine Portion selbst salzte beziehungsweise versalzte.

    Sie schenkte ihm sogar ein paar Kochbücher – oder genauer: Kochhefte –, von denen er jedoch – sei es aus Bequemlichkeit, sei es weil er sich dafür nicht die Zeit nehmen wollte – leider nie Gebrauch machte.

    Zum Abendessen trank sie in der Regel ein oder zwei Gläser Rotwein, wozu er sich ebenfalls animieren ließ, allerdings ersetzte er schon bald den Wein weitgehend wieder durch Leitungswasser.

    Als sie am nächsten Morgen nach dem Frühstück noch eine Weile zusammen in der Küche saßen und den Kaffee zu Ende tranken, sagte sie, nachdem sie eine Zeitlang nicht gesprochen hatten, unvermittelt: Lass uns zusammen lernen, glücklich zu sein!«

    Statt sich einfach spontan zu freuen, was sie eigentlich auch von ihm erwarten durfte, worauf sie nach seinem Dafürhalten geradezu ein Anrecht hatte, brachte ihre Bemerkung ihn nur in Verlegenheit. Es tat ihm leid für sie. Sie hatte Besseres verdient, nämlich eine vorbehaltlos positive Reaktion, er aber war nicht in der Lage, auf ihr Angebot überhaupt einzugehen. Anstelle dessen versuchte er sich einen Zustand des Glücks aus­zumalen, sowohl mit ihr zusammen als auch ohne sie, was ihm jedoch beides nicht gelingen wollte. Er hatte das Gefühl, sie im Regen stehengelassen zu haben.

    Ihre Enttäuschung über seine Reaktion, oder richtiger, über das Ausbleiben einer adäquaten Reaktion, war ihm sehr wohl bewusst, er sah aber keine Möglichkeit, die Situation zu retten oder zumindest zu entschärfen, und hatte am Ende wohl nur resigniert mit den Schultern gezuckt.

    An seine Fähigkeit, vorbehaltlos glücklich zu sein, konnte er nicht glauben.

    Es hatte bei ihm einmal eine Zeit ziemlich großer Orientierungslosigkeit gegeben, in der er sich eine Menge Gedanken darüber machte, wie ein Leben sinn­voll zu gestalten sei, und sich auch mithilfe entsprechender Lektüre eingehend mit dem Thema beschäftigte – eine seiner zahlreichen Phasen, die er bisher durchlebt hat. Natürlich war dort auch immer wieder vom Glück die Rede. Einige diesbezügliche gut gemeinte Ratschläge sind ihm noch im Gedächtnis. Viel geholfen hat es ihm nicht.

    Wahrscheinlich aber ist mit einem gewissen Grad an Zufriedenheit schon viel gewonnen. Wenn sich dazu hin und wieder eine kurzzeitige euphorische Stimmung einstellt, so war es am Ende der Mühe wert.

    Seine Frau, eine eifernde, unbekehrbare Hobbyas­trologin, hatte ihn wiederholt darauf hingewiesen, sein Aszendent sei der Saturn, und ihm detailliert erklärt, was das für die hiervon Betroffenen bedeutet.

    Die Frage nach dem Glück scheint ihm eingebettet in eine der was-wäre-wenn-Fragen der eher unoriginelleren Art, die Allerweltsfrage, die sich wohl so gut wie jeder irgendwann einmal stellt, nämlich was er anders machen würde, wäre er noch einmal einigermaßen jung, dabei aber beim sozusagen zweiten Versuch messbar undümmer und weniger unerfahren als seinerzeit. Was ihn betrifft, würde er die intellektuellen Irrungen seiner damaligen Unmeisterliche[n] Wanderjahre zwar weitgehend vermeiden, die nicht unwichtige Frage jedoch, was er einmal werden will, wenn er groß ist, wüsste er dann wohl noch immer nicht zu beantworten. Und wenn doch, dann bestimmt nicht ohne Vorbehalt. Nicht mit einem Punktum hinter seinem Entschluss, eher mit einem für ihn so typischen Na gut.

    Inzwischen kennt er sich zumindest so gut, sich keine Illusionen darüber zu machen, auch im quasi zweiten Anlauf weitgehend wieder genauso zu handeln.

    Der große Durchbruch würde ihm auch dann nicht gelingen.

    Ebenso gut oder schlecht wie dafür, wofür er sich letztlich entschieden hatte, hätte er sich auch anders entscheiden können. Oder heute, oder morgen, oder auch gar nicht? Liebeeh Frrroinnndeee, guten Abeeend!

    Als er ihr wenig später in all seiner Treuherzigkeit, zu der er fähig ist, dabei nicht einmal ansatzweise an etwas Böses denkend, gewissermaßen mit innerem Welpenblick schrieb, er habe sie gern, kam es zum ersten Eklat. Schließlich liebe sie ihn, schrieb sie zurück. Und er? Er hat sie nur gern?

    Seiner Erinnerung nach war dies das erste Mal, dass er bei ihr voll ins Fettnäpfchen trat und es war wohl ebenso ein Schuss in den Ofen wie die Bemerkung eines Mannes gegenüber einer Frau, sie habe eine interessante Nase, was er bisher nur bei schlanken Frauen beobachtet habe. Vielleicht ist es das Schlechteste nicht, insbesondere für die sich diesbezüglich häufig beklagenden Frauen, dass Männer in der Regel nicht allzu viel reden.

    Dass er bisher noch niemals einem Menschen gesagt hatte, er liebe ihn, mag zum einen damit zu tun haben, dass dieses Wort allzu häufig in populären Liedern vorkommt, zum anderen ist ihm die Fähigkeit, sich zu einem bestimmten Menschen in besonderem Maße hingezogen zu fühlen, permanent und intensiv an ihn zu denken, im Laufe der Zeit zum großen Teil abhandengekommen.

    Er wollte den Mund nicht zu voll nehmen. Mit solchen Be­griffen jongliert man nicht.

    Er erinnerte sich, von einer Frau gelesen zu haben, die ihrem Mann freiwillig in die Verbannung gefolgt war, und dass sich Menschen aus Liebeskummer das Leben nehmen, ist auch ihm nicht unbekannt – einige wenige Beispiele nur, die ihn davon abhielten, solch ein hehres Wort zu verwenden.

    Liebe – eigentlich kaum auszusprechen, schon wegen des Klanges, des penetranten, dominierenden, spitzeligen, ins Schrille tendierenden I. Die Lautfolge ist nur einigermaßen erträglich, wenn das I etwas nachlässig und kurz, gleichzeitig ein wenig zurückgenommen gesprochen wird.

    L’amour dagegen klingt abgerundeter, harmonischer, fürsorglicher, auch substanzieller.

    Ihm als jemandem, der die Frankophilie hinter sich gelassen hat, fällt es nicht gerade leicht, das einzugestehen. Wie schnell bekommt man damit unversehens den Beifall von der falschen Seite. Aber Gerechtigkeit muss sein, auch auf die Gefahr hin, die falschen Divisionen mit Munition zu versorgen. Einer bestimmten Art frankophiler deutscher Frauen etwa, mit deutlichem Einschlag ins forciert Bourgeoise, die offenkundig alles daran setzen, französischer als Französinnen zu sein und sich – ganz im Gegensatz zu ihren durch die Gnade der Geburt in der richtigen Nation natürlich unerreichbaren Idolen – nicht selten schamlos, charmelos überschminkt der Öffentlichkeit präsentieren, mit dem Ergebnis, dass der Schuss auf peinliche Weise nach hinten losgeht und sie statt wie Französinnen wie Engländerinnen aussehen, beziehungsweise so, wie sich deutsche Bauarbeiter (er hat übrigens nichts gegen Bauarbeiter) Französinnen vorstellen – vielleicht gut genug als Dekoration für Bauwagen und Spinttüren, keinesfalls aber, um auf dem Boulevard bestehen, den Heimvorteil derer mit dem attraktiveren Stammbaum egalisieren zu können.

    Wer jemals offenen Auges in Frankreich herumgekommen ist, wird ohne Wenn und Aber bestätigen, dass übermäßiges Schminken dort deutlich weniger verbreitet ist als hierzulande. Das im wortwörtlichen Sinn zu dicke Auftragen ist weit mehr eine deut­sche, insbesondere aber eine angelsächsische Geschmack­lo­sig­keit.

    Eine anglophile Entsprechungen zu diesem Phänomen ist ihm in England in einem deutschen Anglistikstudenten begegnet, der mit teutonischer Gründlichkeit alles daran setzte, englisch zu erscheinen, sich einen englischen Habitus zuzulegen, das Englische englischer als die Engländer selbst zu sprechen.

    He actually tried to out-british the British. The most British German ever.

    Stets ist da ein falscher Zungenschlag, ein künstlicher Geschmacksverstärker, eine unechte Färbung, das Odium einer misslungenen Geschlechtsumwandlung, eines kulturellen Transvestinismus.

    Bei ihrem Disput über seine vermeintlich unzulänglichen Gefühle musste er an die Bemerkungen seines ehemaligen Kommilitonen Rainer denken, der in Bezug auf ihn des Öfteren von geringen Gefühlsamplituden, seiner flacher als üblichen Sinuskurve der Gefühlsschwankungen, der mangelnden Fähigkeit sowohl zum Glücklich- als auch zum Unglücklichsein sprach. Auch nehme er die Wirklichkeit nur ausschnittweise wahr, sehe die Welt quasi durch eine Milchglasscheibe.

    Angesichts dessen praktisch unersättlichem Verlangen nach intensiver Emotionalität hatte er solchen Argumenten nichts Überzeugendes entgegenzusetzen.

    In derselben Mail attestierte sie ihm, depressiv zu sein. Auf ihren Vorschlag, zu versuchen, gemeinsam glücklich zu sein, habe er nur etwas genickt und sie dabei so traurig angelächelt, als habe er sagen wollen, »wir können es ja versuchen, aber es wird sowieso nichts daraus, so wie ich mich kenne«.

    Aus dieser Depression, die zu Resignation und Lethar­gie führe, müsse er weitgehend herausfinden und sich dafür entsprechende Hilfe suchen, da das niemand allein schaffe. Sie könne das auf Dauer nicht ertragen, zumal sie tagtäglich mit Menschen zu tun habe, deren Neigung zur Resignation sie entgegenwirken müsse. Resignation sei das Schlimmste.

    Sie hoffe, sie habe ihn nicht zusätzlich deprimiert. Er möge es lieber so sehen, dass sie mit ihm, wenn, dann etwas Ernsthaftes im Sinn habe.

    Warum kommen ihr Tränen, wenn sie an ihn denke? Sie habe Sehnsucht nach ihm.

    Auch wenn ihre Argumente nicht ganz von der Hand zu weisen waren, so fand er ihre Analyse doch stark übertrieben, kaum weniger über sie selbst aussagend als über ihn.

    Er hat nun einmal Schwierigkeiten mit Menschen, die in vielem extrem und essentiell empfinden, die sich bereits bei geringfügigen Anlässen unverhältnismäßig echauffieren und keinerlei Abstand zu den Dingen haben. Sie kommen ihm vor wie gewisse Autofahrer, die, die Finger um das Lenkrad verkrampft, mit der Nase fast an der Windschutzscheibe kleben und

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