Der Irrtum des Glücks: Roman
Von Joseph Zoderer
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Über dieses E-Book
DIE LIEBE ZWEIER MENSCHEN JENSEITS ALLER KONVENTIONEN
LIEBEN, ALTERN, STERBEN - darum kreisen wie manisch Alexanders Gedanken. An seinem Lebensabend angekommen, ringt er um die LIEBE ZU EINER VERHEIRATETEN FRAU, die mitten im Leben steht. Eine Liebe, die ihn anzieht, treibt und abstößt, die ihn in den Wahnsinn stürzt und gleichzeitig lebendig macht und am Leben hält. In ihren INTENSIVSTEN MOMENTEN treffen sich hier zwei Menschen JENSEITS DES ALTERS und geben sich Freude, Geborgenheit und Sinnhaftigkeit.
EXZESSIV, TEMPERAMENTVOLL, UNGEZÜGELT: EINE NEUE SEITE IM WERK JOSEPH ZODERERS
Joseph Zoderer lässt keinen Zweifel daran, dass es seinem Erzähler um alles geht: In exzessiven, schonungslosen Reflexionen enttarnt Alexander DAS GLÜCK DER LIEBE ALS LEBENSNOTWENDIGE ILLUSION. Er spricht als RAUER POET, als LEIDENSCHAFTLICHER LIEBENDER und hoffnungslos Einsamer – ein aufwühlender Weltaneignungsversuch bei gleichzeitigem Weltverlust.
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Buchvorschau
Der Irrtum des Glücks - Joseph Zoderer
Joseph Zoderer
Der Irrtum des Glücks
Roman
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Prolog
Epilog
Joseph Zoderer
Zum Autor
Impressum
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Alles ist echt und zugleich Illusion.
Cees Noteboom, Allerseelen
Nicht die Schwerkraft hält unser Universum im Gleichgewicht, sondern die Liebe.
Isabel Allende, Ein unvergänglicher Sommer
Prolog
Kein anderer Freund hat mein Leben so mitgeprägt wie Alexander. Wir hatten das gleiche humanistische Gymnasium besucht und an der Universität in Wien Philosophie und Geschichte belegt. Nach dem Studium begannen wir beide als Journalisten zu arbeiten, ich als Zeitungsreporter, er beim Fernsehen in der außenpolitischen Redaktion. Schon während unserer Studien hatten wir den Großteil der Freizeit miteinander verbracht; wir waren eifrige Konzert- und Opernbesucher (stellten uns stundenlang bei der Staatsoper um Stehplatzkarten für eine Wagner-Aufführung an), ließen kaum ein wichtiges Stück in den vielen billigen Kellertheatern aus und diskutierten danach in verrauchten Kneipen oft bis zur Sperrstunde. Wir waren Existentialismus-Anhänger und liebten trotz einiger Bedenken Heidegger, Sartre und Camus; wir lasen ganze Tage in der Nationalbibliothek quer durch die Weltliteratur: Musil, Proust, Hemingway, Henry Miller, Franz Kafka usw., am liebsten aber Dostojewski. Obwohl wir bereits über dreißig waren, begeisterten wir uns an den Zielen der Achtundsechziger Bewegung. Da war ich schon einige Jahre verheiratet und sesshaft in Wien, Alexander berichtete als sporadischer TV-Korrespondent mal aus Paris, mal aus Berlin. Die Hauptzeit seiner Tätigkeit leistete er aber als Schreibtischredakteur in Wien ab. Deshalb waren wir weiterhin viel zusammen. Er hatte auch als mein Hochzeitszeuge fungiert und war bei mir und meiner Frau sehr oft bei Tisch zu Gast, wobei es immer lebhaft zuging mit politischen Debatten und dem Austausch unserer literarischen Ansichten. Mein Freund Alexander liebte alle Künste, am meisten aber – sogar noch vor der Musik – liebte er die Literatur. Ich hielt ihn für einen zumindest geheimen Schriftsteller und durch vage Andeutungen, die er in seine Scherze einflocht, glaubte ich mich in meiner Vermutung bestätigt. Er zeigte allerdings nie etwas her, sagte nur mit einem ironischen Lächeln: Abwarten und dann staunen. Er war eine Frohnatur, trinkfreudig und voller Humor, selten, immerhin mehr als einmal, konnte er auch auftrumpfen: Der Geist und das Herz – ich hasse nichts so sehr wie Dummheit! Und ich erinnere mich, dass er als Student mehrmals feucht fröhlich ausrief: Ich bin der erste Mensch, der nicht sterben wird! Er neigte zu ausholenden Gesten, in Wirklichkeit war er schüchtern, ja geradezu menschenscheu. Aus der Distanz verehrte er einige Gegenwartsautoren, doch er scheute sich, die sich bietenden Gelegenheiten zu einem persönlichen Kontakt wahrzunehmen.
Wir sahen uns beide seit der Gymnasialzeit als zukünftige Schriftsteller. Während er selbst sich jedoch zugeknöpft gab, zeigte er gleichzeitig ein selbstloses Interesse an allem, was ich schreiberisch ausprobierte. Er war neugierig und sehr kompetent. Aber aus Freundschaft allein ließ er nichts hochleben, er war unerbittlich kritisch, dafür galt umso mehr, was er lobte. Ja, er konnte mich aus den ärgsten Selbstzweifeln herausholen und half mir so manche Schreibkrise überwinden. Immer war er mein erster Leser, und sein Urteil war für mich ausschlaggebend. Er blieb mein Mentor und Antreiber, und irgendwann fragte ich nicht mehr, was oder ob er selbst schreibe.
Er war und blieb ein Junggeselle, er, der so gut aussah mit seinem dichten struppigen Blondhaar, unveränderlich schlank und einen halben Kopf größer als ich, wurde von Frauen bewundert und er selbst betete die weibliche Schönheit an. Trotzdem blieb er Junggeselle. Nicht einmal mir als seinem nächsten Freund sprach er jemals von einer Liebe, einem Flirt oder sonst welcher Beziehung. Nur ein einziges Mal habe ich ihn wie einen Verliebten in Erinnerung. Es war ein langer Abend gewesen, wir saßen beide betrunken in einer dunklen Kneipenecke, als er mitten in einer langen Stummheit still vor sich hinzuweinen anfing. Ich fasste ihn an einer Schulter: Was ist denn? Er schüttelte nur den Kopf, schnäuzte sich und murmelte: Alles ist aus. Mehr war aus ihm nicht herauszubekommen. Er entschuldigte sich, und wir tranken noch ein weiteres Glas.
Das war noch lange vor seiner Pensionierung. Mit dem Ende seiner journalistischen Tätigkeit zog mein Freund sich seltsamerweise mehr und mehr zurück. Eine kinderlose Tante hatte ihm ein kleines Haus, eine Art Ferienchalet, am Rande des Wienerwaldes vererbt. Dort hielt er sich zunächst sporadisch auf, er war ja ein großer Naturliebhaber und benützte das „Waldhaus, wie er das Chalet nannte, anfangs nur, wenn er Bedürfnis nach etwas Landluft und längeren Wanderungen in den Waldungen der Umgebung hatte. Seine Wohnung in der Stadt behielt er schon wegen der immensen Bibliothek, die er besaß; seine geliebten Bücher füllten Regale in zwei Zimmern und stapelten sich auch an den Wänden des Flurs. Wenn er in der Stadt war, hatten wir uns früher oft jeden Tag in unserem Stammcafé „Tirolerhof
getroffen; in den letzten Jahren aber wurden daraus höchstens ein, zwei Tage im Monat, an denen wir uns sahen, und schließlich, als wir uns die ersten Handys kauften, beschränkte er sich zunehmend darauf, mir kurze und kürzere elektronische Briefe zu schreiben. Geistreiche Alltagsbeobachtungen, philosophische Überlegungen, gespickt mit Witz und Ironie. Er schien mir noch voller Lebensfreude zu sein. Umso größer war der Schock, als ich von seinem Herztod erfuhr.
Seine Zugehfrau hatte ihn am Morgen zusammengekrümmt auf den Flurfliesen des Chalets gefunden. Er muss schon am Tag oder am Abend zuvor gestorben sein, er trug noch seinen Straßenanzug.
Wenige Tage nach seiner Einäscherung wurde ich von einer Notariatskanzlei angerufen und zu einem Termin eingeladen. Es liege ein Testament vor, das mich betreffe, geschrieben und beglaubigt vor fünf Jahren.
Mein Freund Alexander hatte mir seine gewaltige Bibliothek vererbt. Ich war tief betroffen; meine Frau und ich beschlossen, den Großteil des Bücherbestandes auf unsere erwachsenen Kinder zu verteilen. Alexanders andere Erben wollten die Stadtwohnung möglichst bald freigeräumt haben. Wir schafften die Bücher innerhalb von drei Tagen in großen Kartons fort. Dabei hoffte ich umsonst, auf irgendein Zeichen einer schriftstellerischen Tätigkeit zu stoßen – kein Manuskript, kein Gedicht, kein Tagebuch. Keine Zeile für mich. Mithilfe der Zugehfrau verpackten wir auch die Bücher, die Alexander im „Waldhaus" gehortet hatte. Und hier das Unerwartete: Im Schlafzimmer zog die Zugehfrau die Schublade unter dem Bett heraus und zeigte uns eine dicke Mappe, die unter Kissen und Leintüchern begraben lag, zusammengehalten von einem roten Gummiband.
Ich las und war erschüttert. Ein ganz anderer Alexander, einer, den ich so nie erlebt hatte. Dieser lebensfreudige Mittsiebziger, ein Kopfmensch par excellence, schrieb hier von Liebe, von Schmerz und Verzweiflung. Von einer selbstzerstörerischen Liebesobsession, von einer Wahnsinnsliebe. Meine Frau war die Erste, die sagte: Das muss ein Buch werden. Ich hatte meine Bedenken, die aber Alexanders vertrauenswürdigste Freunde, die auch meine waren, mir mit überzeugenden Argumenten ausredeten. Handelte es sich um tagebuchartige Aufzeichnungen, Selbstanklagen, so etwas wie ein De Profundis oder gar um einen gewollten Mix aus Fiktion und Realismus, also Rohmaterial für eine Romanfassung? Seine krakelige Schrift war nicht leicht zu lesen. Die Zeilen oft ungefügt und roh hingeworfen. Kein Datum, wann er daran zu schreiben begonnen hatte, doch vieles sprach dafür, dass seine letzten Lebensjahre den Zeithintergrund bildeten. Das Objekt seiner Liebe eine Frau ohne Namen und ohne äußere Attribute, aber von ihm gepriesen als außergewöhnliche Schönheit.
Ich entschied mich für die Veröffentlichung. Die letzten Seiten musste er in einem Zustand tiefster Trauer und Schmerz hingeschrieben haben, in einer Art Stakkato, kaum lesbare halbe Sätze, halbe Worte, ein einziges Aufschreien.
N. N.
Ich verstehe es selbst nicht. Ich entbehre nichts, aber ich verlange. Ohne zu begehren … ja ich verlange nach etwas, was ich im Grunde gar nicht will … trotzdem muss ich, will ich es bekommen … Wenn ich es nicht bekomme, bin ich verbittert und leer, ja, ganz und gar leer und unglücklich.
Es geht dir um die Macht des Besitzens, nicht um Liebe.
Ach was, Macht! Ich will nicht Macht, ich will nicht besitzen, nicht beherrschen, ich will lieben.
Dann lieb doch! Was hindert dich zu lieben?
Ja, was hindert mich? Es ist verrückt, aber das bin ich, wirklich ich, der mir im Wege ist. Meine Leere. Ja, diese plötzliche Funkstille in mir. Ich war doch gerade so lebendig, so sehnsüchtig … und jetzt nichts mehr davon, ich will sie heute nicht hören, ich will heute nicht einmal mit ihr reden, ich bin kalt, gefühlskalt, gefühlstot, ich führe Selbstgespräche … diese betäubende Leere.
Ich fühle nichts. Stimmt das? Nein, stimmt nicht, du weißt nur nicht … was weiß ich nicht?
Dass du liebst. Eine eigenartige Liebe, die du so nie gekannt hast. Deine Worte sind falsch.
Es sind Liebesworte.
Die du aus der Leere heraus erfindest?
Sie sind spontan.
Ausgeworfene Angelhaken eines Egoisten. Du willst deine Leere stopfen.
Ich will lieben.
Du kannst nicht mehr lieben, du bist ein erloschener Krater.
Ich sehne mich.
Ein grausames Spiel, das du treibst.
Ich sehne mich und dann weiß ich plötzlich nicht wonach, ich fühle nichts und doch leide ich.
Du suchst die Enttäuschung, der Schmerz belebt dich. Ein grausames Spiel und nicht auf deine Kosten. Auf ihre Kosten, die deinem Drängen glauben muss, deinen duseligen Liebesworten. Du hast ja alles. Niemand hat in deinem Alter das Glück, das du hast.
Ja, das Alter, hör auf damit. Ich bin nicht alt, ich bin nie wie die anderen gewesen.
Mach dich nicht lächerlich! Soll ich dir aufzählen, was dir alles wehtut?
Nein, nein, ich hör mich ja selbst, ich geh mir selbst damit auf die Nerven … das Herz, das Reißen im großen Zeh und der Muskelschwund … wo ist mein Athleten-Bizeps geblieben? wo mein praller Arsch?
Na gut, du weißt es ja, einiges ist weniger geworden, aber insgesamt schwimmst du im Fett, ich meine im Glück, und Glück hast du jede Menge in deinem Leben gehabt bis zum heutigen Tag und immer noch.
Glück, Glück … ja, das stimmt, aber ist aus Luft, ich kann es nicht greifen.
Keine Frau hat dir so oft gesagt, ich liebe dich, wie diese Frau, die du doch immer wieder dein letztes Glück nennst.
Glück … Glück … Glück. Alles hat eine Kehrseite …
Nein, das ist keine Kehrseite. Der innerste Kern des Glücks ist Trauer, sie füllt die Leere des Glücks aus. Ich kann nichts fassen, nichts greifen. Wo ist der Sinn? Es gibt keinen Sinn, nur Sinnlichkeit, und wozu?
Weil du Wärme brauchst, Wärme suchst, Geborgenheit.
Ach was, Geborgenheit! Liebe ist Aufbruch, Zukunft! Aber es gibt keine Zukunft im Alter, es gibt auch keine Hoffnung, also wozu Aufbruch, Liebe gegen das Vergessen, gegen das Vergessenwerden?
Du willst nichts loslassen … du willst ewig dazugehören.
Ja … nein! Ich bin noch nicht alt, ich bin noch voller Sehnsucht.
Weil die Frau am Ende deines Weges dich liebt, als wärst du noch in der Mitte des Lebens, fühlst du dich anders als deine Altersgenossen … die Liebe verjüngt dich.
Ich bin anders, ob mit oder ohne Muskeln, ich bin anders.
Aber kann man auch lieben, ohne zu fühlen? Ich fühle nur die Leere … oder nein, ich fühle den Verrat, ich fühle den Liebesentzug … Wenn sie nicht anruft … dann ist sie bei anderen, die ich nicht kenne, vielleicht auch nicht kennen soll … Erst dann spüre ich, dass sie mir fehlt, wenn andere, nicht ich, bei ihr sind. Und mir kommt Wirres in den Sinn … was sind ihre Worte wert, was ihre Beteuerungen? Soll ich, kann ich überhaupt etwas davon glauben? Sie lebt in einer anderen Welt, sie ist eine andere Welt … was soll ich mit ihr? Was gebe ich mich mit Unsinn so ernsthaft ab? Na also, ich fühle doch, aber ich fühle nicht die Glücksseite der Liebe. Im Grunde bin ich korrupt, ich bin so leicht zu bestechen mit einem Liebeswort, ich kann mich noch so gekränkt, ja gedemütigt fühlen … alles wie weggeblasen, wenn ich ihre Stimme höre, die Worte der Zärtlichkeit. Ich bin mein eigenes Opfer.
***
Die meiste Zeit bist du doch ein Gleichmutpraktiker, sei ehrlich.
Vielleicht ist es eher Selbstverletzungslust.
Jetzt verfällst du noch in Selbstmitleid.
Nein, ich