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Protokoll eines Berliner Herbstes und Winters: Liebe.Kummer.Texte
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eBook1.086 Seiten9 Stunden

Protokoll eines Berliner Herbstes und Winters: Liebe.Kummer.Texte

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Über dieses E-Book

Rahel von Wroblewskys Tagebuch ist nicht nur die Beschreibung eines privaten Abschieds, es sind auch Momentaufnahmen Berlins. Es ist ein Protokoll der Begegnungen auf den Straßen, des Berliner Frusts und Humors, der stillen und lauten Momente ebenso wie es Reflexionen sind über Sprache, Kunst und Literatur, über die Vergangenheit, das Glück, die Träume und die Merkwürdigkeiten der Liebe in den Zeiten des Internets.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum6. Feb. 2017
ISBN9783734595622
Protokoll eines Berliner Herbstes und Winters: Liebe.Kummer.Texte

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    Buchvorschau

    Protokoll eines Berliner Herbstes und Winters - Rahel von Wroblewsky

    Teil I

    10.9.2015

    Liebeskummertext 1 # Feinde I

    Mein Computer ist mein Feind geworden. Alle Erinnerungen an J. stecken in meinem Computer, er hat 108 Mails von ihm empfangen und gespeichert, mindestens eine pro Tag in den vergangenen fünf Monaten, aber seit 41 Tagen kommt kaum noch eine Mail mehr bei mir an. Vor 41 Tagen hat J. mit mir Schluss gemacht.

    Ich hasse meinen Computer, der mir meine Mails nicht mehr gönnt. Die Mails waren meine Blutbahnen, meine Nervenzellen, meine Lebensadern, meine Verbindungen in die Welt, und jetzt hat J. sie einfach gekappt.

    Ich weiß nicht mehr, wie ich leben soll.

    Liebeskummertext 2 # Feinde II

    Mein Handy ist auch mein Feind. In meinem Handy stecken alle Fotos von J., mein Spanisch-Deutsches Wörterbuch, der E-Mail-Account ebenso, dazu Skype und WhatsApp. WhatsApp ist die schlimmste Waffe meines Feinds. Über WhatsApp haben J. und ich uns zweieinhalb Monate lang 1191 Nachrichten geschrieben, morgens, abends, mitten in der Nacht, und ich habe J.s Nachrichten so sehr geliebt: „Guten Morgen, Rahelita, bist du schon wach? „Ich denke an dich! „Ich vermisse dich heute so! „Ich rufe dich später an! „Ich kann es kaum noch erwarten, dich endlich zu sehen! „Schlaf gut, hab süße Träume!

    Jetzt kommen keine Nachrichten mehr, genauso wenig wie Mails von ihm, und gestern habe ich endlich seinen WhatsApp-Kontakt auf meinem Handy gelöscht.

    Liebeskummertext 3 # Feinde III

    Feind Nr. 3 gehört zum Glück nicht mir. Es ist das Tablet meines Sohnes, das ich jeden Abend zum Skypen benutzt hatte mit J. Ich habe seit letztem Winter keinen Laptop mehr, er ist kaputtgegangen, bevor ich J. kennenlernte, meine Arbeit verrichte ich jetzt an einem alten Computer, der in meinem Arbeitszimmer steht, aber dort ist das Internet zum Skypen zu schwach. Außerdem besitzt dieses Gerät keinen Lautsprecher und kein Mikrofon. Aus diesem Grund hatte ich mir das Tablet ausgeborgt und mich jeden Abend auf das Sofa in unserem Wohnzimmer gehockt, direkt neben unserem Router, und habe stundenlang mit J. gequatscht. Das Tablet meines Sohnes tut mir nicht so weh. Nur manchmal lässt er es auf dem Sofa liegen, auf seinem angestammten Platz, dann muss ich mich zusammenreißen, um es nicht durch die Gegend zu schmeißen und meinen Sohn nicht anzuschreien, weil es mich an etwas erinnert, was ich endgültig verloren hab‘.

    Liebeskummertext 4 # Kennenlernen

    J. und ich hatten uns im Frühjahr kennengelernt. J. wohnt in Miami und war erst im Juni nach Berlin gekommen, insofern ist „kennenlernen eine Beschreibung, die ein wenig seltsam ist. Wir haben uns im März im Internet „getroffen, über eine Partnerbörse, in der wir beide ein Profil angelegt hatten, und J. hatte dort geschrieben, dass er im Sommer für zweieinhalb Monate nach Berlin kommen wird und eine Frau sucht, die mit ihm diese Zeit verbringt. Und dass er hofft, wenn sie sich gut verstehen, dass ihre gemeinsame Zeit nach dem Sommer noch nicht zu Ende sein wird.

    Ich hatte J. geschrieben, nicht, weil ich mit ihm den Sommer verbringen, sondern weil ich mit ihm Spanisch üben wollte, und eigentlich war J. überhaupt nicht mein Typ. Mit dem Spanisch-Lernen hatte ich vor zwei Jahren angefangen, nachdem ich mich in einen Argentinier verliebt hatte, eine kurze Affäre, und die spanische Sprache und lateinamerikanische Kultur zu lieben begann. Es ist schwierig, in Berlin jemanden zu finden, mit dem man kontinuierlich Spanisch lernen kann, und nach meiner ersten Nachricht hatten J. und ich schnell angefangen, uns E-Mails zu schreiben und später zu skypen, und nach und nach haben wir uns ineinander verliebt. Schließlich konnten wir es gar nicht mehr aushalten, ohne uns täglich via Skype zu sehen und dutzende Nachrichten über WhatsApp zu schicken, und haben uns wie verrückt nacheinander gesehnt. Wir haben uns so sehr hineingesteigert in diese Geschichte und sind hundertprozentig überzeugt davon gewesen, dass es bei unserer ersten Begegnung Funken geben wird, chispas hatte J. sie genannt, dass wir niemals hätten zugeben können, es könne mit uns nicht funktionieren, wenn wir uns endlich treffen würden, eines baldigen Tags.

    Liebeskummertext 5 # Meine misstrauischen Freunde

    Viele meiner Freunde haben uns damals für verrückt erklärt. Sie haben uns gewarnt, dass wir erst einmal abwarten müssten, bis wir uns wirklich begegnen und dann prüfen, ob die Chemie zwischen uns überhaupt stimmt. Man könne nie wissen, ob man sich überhaupt riechen kann, ob überhaupt ein Funke überspringt, diese virtuelle Welt sei eben nicht die wirkliche Welt, aber J. und ich sind so glücklich gewesen und haben gesagt, dass wir uns darüber immer noch Gedanken machen könnten, wenn es soweit ist. Wir wollten einfach unser Zusammensein genießen, auch wenn wir ja gar nicht zusammen waren und es vielen komisch erschien, aber es war verrückt: obwohl wir nicht die gleiche Sprache sprachen und mein Spanisch ein rudimentäres war, haben wir jeden Tag endlos miteinander geredet und miteinander gelacht. „Wir werden es deinen misstrauischen Freunden schon zeigen!", hatte J. gesagt, er ist fest davon überzeugt gewesen, dass es mit uns gut gehen würde und einmal hat er übermütig erklärt, er würde seinen Namen ändern, wenn es zwischen uns wirklich keine Funken geben sollte, aber ich weiß, dass er diese Möglichkeit niemals ernsthaft in Erwägung gezogen hat.

    Liebeskummertext 6 # Skepsis

    Die schlimmste Skeptikerin war meine Freundin F. Sie hatte mich gewarnt, dass diese virtuelle Welt, in der man dem anderen nicht wirklich begegnen kann, einen so großen Raum für Projektionen schafft. Man kann auf den anderen alle seine Träume und Vorstellungen projizieren, die er niemals im Leben erfüllen wird. Ich wollte das nicht hören. Ist Liebe nicht immer eine Form von Projektion? Ein Bild, das man vom anderen gerne haben möchte, und nicht das wirkliche Bild?! F. ist die Anführerin jener Freundinnen, die immer skeptisch und argwöhnisch sind. Sie gehen davon aus, dass in jedem Fall das Negative geschehen wird, genauso wie es in ihrem Leben angeblich bislang geschehen ist. Sie sind über fünfzig und haben seit Jahren keine Beziehung mehr gehabt, und immer wieder betonen sie, dass man keinen Mann im Leben bräuchte zum Zufrieden-Sein. Ich habe das schon immer anders gesehen. Ich möchte nicht alleine alt werden, ich will die Hoffnung nicht aufgeben, dass ich einen Partner finden könnte, mit dem ich mich gut verstehe. Ich finde das Allein-Sein blöd. Im Grunde genommen sehen sie das ebenso, aber sie geben es nicht zu.

    Liebeskummertext 7 # Funken

    Je näher J.s und meine erste Begegnung rückte, desto mehr Gedanken um die Funken habe ich mir gemacht. Ich hatte mit meiner Freundin V. darüber gesprochen, was passieren könnte, welche Möglichkeiten es gäbe, und welches die schlimmste davon sei. Es gab genau vier Möglichkeiten, und als Rangfolge legte ich folgende fest:

    1. J. und ich verspüren beide Funken, das wäre natürlich das Beste, was passieren kann.

    2. J. und ich verspüren beide keine Funken, das wäre auch nicht schlimm. Wir könnten Freunde sein und trotzdem eine gute Zeit miteinander haben und niemand wäre traurig oder verletzt.

    3. J. würde Funken verspüren, im Gegensatz zu mir.

    4. Ich würde Funken verspüren, im Gegensatz zu J. Das war die Vorstellung, die für mich am schrecklichsten war.

    Meine Freundin aber widersprach mir vehement. „Nein, das Schrecklichste wäre, wenn du keine Funken spürst und J. auf dich abfahren würde – glaub‘ mir, das würde furchtbar für dich sein!" Ich habe ihr nicht geglaubt.

    Liebeskummertext 8 # Keine Funken

    Als J. und ich uns dann endlich getroffen hatten, waren tatsächlich keine Funken da. Zumindest nicht bei mir. Ich hatte J. am S-Bahnhof abgeholt und ich hatte mir vorher alles bis ins kleinste Detail ausgemalt, aber dann war alles ganz anders als gedacht. Ich hatte mir vorgestellt, dass wir uns noch auf dem Bahnsteig leidenschaftlich küssen und es kaum bis zu mir nach Hause schaffen würden vor lauter Leidenschaft, aber nichts davon geschah. J. hatte mich zuerst entdeckt, als ich die Treppe zum Bahnsteig hinaufgelaufen kam, und sprang auf mich zu, mit einer komischen Bewegung, und nahm mich in den Arm, dann küsste er mich mit geschlossenen Lippen auf den Mund. Das war nicht das, was ich mir vorgestellt hatte, es war ganz und gar falsch. Auf dem Weg zu mir nach Hause, während wir durch die belebten Straßen meines Viertel liefen, J.s Arm um meine Schulter, mein Arm um seine Hüfte gelegt, was sich fremd anfühlte, ungemütlich, steif, und J. zwischendurch immer wieder stehenblieb, um mich mit geschlossenen Lippen zu küssen, spürte ich nichts. Buchstäblich nichts. In mir war eine große dunkle kalte Leere und ich sah ein, dass V. recht gehabt hatte mit ihrer Prognose: Es war der schlimmste Fall, der eingetreten war. J. war endlich da, ich konnte ihn sehen, mit ihm reden, ihn berühren – nichts hatte ich mir sehnlicher gewünscht in den Monaten zuvor, aber im entscheidenden Moment war ich tot und kalt. Wie erstarrt. Fast hätte ich geweint. Ich lief neben J. und nahm kaum etwas um mich herum wahr, nur ein einziger entsetzlicher Satz spulte sich die ganze Zeit ab in meinem Kopf, immer wieder von vorn: „Was nun?", aber ich fand einfach keine Antwort darauf. Doch dann, noch bevor wir meine Wohnung erreichten, hatte ich einen Entschluss gefasst.

    Liebeskummertext 9 # Pläne

    Bevor ich J. kennenlernte, hatte ich geplant, nach Argentinien und Peru zu reisen in diesem Herbst. Es war ein Plan, der allmählich in mir gewachsen war, ein Traum, der sich entfaltet hatte in den letzten zwei Jahren, doch eigentlich hatte dieser Traum schon seit 30 Jahren existiert. Ich hatte ihn nur vergessen in den letzten Jahrzehnten, nachdem ich mit im Alter von zwanzig nicht die Möglichkeit gehabt hatte, nach Südamerika zu gehen, und vermutlich hatte ich ihn einfach verdrängt. Mein Leben hatte eine andere Richtung genommen, ich hatte keine Zeit mehr für derartige Träume gehabt, ich hatte überhaupt kaum noch Zeit für Träume gehabt. Trotzdem war dieser Traum wiederaufgetaucht, unvorhergesehen, doch mit aller Macht, und es war so weit, dass er sich nicht mehr unterdrücken ließ.

    Liebeskummertext 10 # Ausnahmezustand

    Seit J. mit mir Schluss gemacht hat, lebe ich wie in Trance. Ich bin im Ausnahmezustand, ich esse kaum, ich kann nachts nicht schlafen und liege stundenlang wach und denke an J., ich kann nicht alleine sein, ich halte es nicht mit mir selber aus. Ich flüchte, ich laufe weg, ich muss mich ablenken von mir selbst, ich treffe mich mit Freunden, ich fahre mit ihnen aufs Land, gehe mit ihnen aus, lade sie zur mir ein, und selbst wenn ich allein zu Hause bin, telefoniere ich stundenlang. Ich hänge am seidenen Faden anderer Menschen, ich muss permanent mit jemandem in Verbindung sein, weil ich sonst in einen Abgrund stürzen würde, in den Abgrund der Verzweiflung, den der unfassbare Gedanke gerissen hat, dass J. mit mir Schluss gemacht hat, mich einfach hinter sich zurückgelassen hat.

    Liebeskummertext 11 # Große weite Welt

    J. war für mich der Inbegriff der großen weiten Welt. Die Welt, in der ich aufgewachsen bin, ist klein und eng gewesen, 17 Millionen Einwohner, 108.000 Quadratkilometer, mit einer großen Mauer rundherum, die unüberwindbar gewesen war. Diese Welt, in der ich lebte, nannte sich DDR. J. dagegen ist in vielen verschiedenen Ländern aufgewachsen, die für mich unerreichbar gewesen sind. In Havanna geboren, in Spanien, Portugal, Venezuela und den USA groß geworden, an unzähligen Orten gelebt, ein schillerndes, für mich unerreichbares Leben, das ich mir immer noch nicht richtig vorstellen kann. Auch wenn ich in verschiedene Länder gereist bin, seit die Mauer offen ist, bin ich noch immer das kleine Mädchen aus dem Osten, sich schmerzlich danach sehnt, endlich in die weite Welt zu gehen. Und das sich das immer noch nicht alleine traut.

    Liebeskummertext 12 # Das Bett

    Nachdem ich J. vom Bahnhof abgeholt hatte und wir bei mir zu Hause angekommen waren, hat J. mich gefragt, was ich jetzt machen möchte, worauf ich ihm geantwortet habe: „Dich küssen!, und dann habe ihn richtig geküsst. Später haben wir miteinander geschlafen, das war das, was ich mir vorgenommen hatte, als wir noch auf dem Weg in meine Wohnung gewesen waren, und obwohl ich noch immer kaum Funken spürte, geschweige denn in Flammen stand, war es sehr schön. Allerdings hatte es nicht richtig funktioniert. Mein Bett ist ein Hochbett, das sich in unserem Wohnzimmer befindet, denn unsere Wohnung ist etwas klein, deshalb schlafen wir auf Hochbetten, meine Söhne und ich. Mein Hochbett hatte ich J. schon gezeigt, als wir nur über Skype verbunden waren, und ich hatte es mein „unerotisches Hochbett genannt. Wir hatten beide darüber gelacht. Das Bett war ein großes Thema zwischen uns gewesen, besonders in der letzten Zeit, bevor wir uns endlich trafen, als wir es kaum noch abwarten konnten, uns endlich zu sehen, und J. hatte gesagt: „Ganz egal, wie dein Bett aussieht, wir kommen gar nicht bis zu deinem Bett!" Er hatte prophezeit, dass wir es abbrennen würden, bei so vielen Funken, wie es sie zwischen uns geben würde, aber dann hat sich seine Prophezeiung nicht erfüllt. Auf meinem Hochbett lagen zwei einzelne Matratzen, die auseinanderrutschten im entscheidenden Moment, es war tatsächlich nicht erotisch, aber es machte mir nichts aus. Ich gewöhnte mich schnell an J., er war mir unendlich vertraut – hatten wir uns nicht zweieinhalb Monate lang unser Leben offenbart, uns alles über uns erzählt, keine Geheimnisse voreinander gehabt?!

    Nach dem Sex schlief J. bald ein. Ich ließ ihn schlafen, ich erzählte meinen Söhnen, die am Nachmittag aus der Schule kamen, dass J. endlich gekommen sei und wir ihn nicht stören sollten, und nachdem er ausgeschlafen hatte, schlug er vor, wir könnten doch alle zusammen essen gehen. Mein großer Sohn wollte nicht mitkommen, also gingen wir nur mit meinem jüngeren Sohn in ein asiatisches Restaurant, in sein Lieblingsrestaurant, und es war, als ob es das Normalste der Welt für uns sei, zusammen zu sitzen, zu essen, zu trinken und zu reden, und es fühlte sich an, als hätten wir seit Jahren nichts anderes getan.

    Es war verrückt. Obwohl wir uns überhaupt noch nicht kannten, obwohl wir in verschiedenen Kontinenten aufgewachsen waren und lebten, obwohl wir die Sprache des anderen nicht perfekt beherrschten, obwohl wir uns eigentlich so fremd hätten sein müssen, wie es nur irgend ging, waren wir uns unendlich vertraut. J. blieb bei mir in der folgenden Nacht und in den Tagen und Nächten darauf, ich gab ihm einen Schlüssel von meiner Wohnung, damit er auch kommen und gehen konnte, wenn ich zu Hause arbeiten musste, und nur fünf Tage später fuhren wir gemeinsam mit seinen Freunden in den Urlaub nach Polen, für eine Woche, und auch als wir zurückkamen, sahen wir uns so oft es ging. J. kam zu mir oder ich besuchte ihn in der Wohnung seiner Freunde, bei denen er ein Zimmer besaß, und auch wenn wir uns nicht sehen konnten, telefonierten wir miteinander, mindestens einmal am Tag. Es ging alles so schnell, rasend schnell. Wir ließen uns keine Zeit, wir legten keine Pause ein, wir beschleunigten von Null auf Zweihundert in kürzester Zeit und rasten schließlich in voller Fahrt gegen einen Baum.

    Liebeskummertext 13 # Flucht

    Ich versuche mich abzulenken, wie es nur irgend geht. Am Anfang, ein paar Tage, nachdem J. mit mir Schluss gemacht hatte und sich noch in der Stadt aufhielt, war ich geflohen. Ich war weggefahren, nach Süddeutschland zu meiner Mutter, ich hatte gedacht, ich hielte es keinen Tag länger aus, J. in meiner Stadt zu wissen und gleichzeitig so unendlich fern, so unerreichbar, aber auch jetzt, da er schon vor fast drei Wochen nach Miami zurückgeflogen ist, bin ich immer noch auf dem Sprung. Ich fliehe aus meiner Wohnung, in der mich alles erinnert an J., ich ergreife jede Gelegenheit, um nicht an ihn denken zu müssen, ich besuche meine Freunde, ich vereinbare Tandem-Treffen, ich decke mich mit Arbeit zu, ich laufe am Abend durch die stillen Straßen meines Viertels, höre Musik auf meinem MP3-Player, weine und laufe im Eilschritt vor meinem Kummer davon, ich will es nicht wahrhaben, dass es mit J. zu Ende ist und doch ist es mir in jeder einzelnen Sekunde schmerzlich bewusst.

    Liebeskummertext 14 # Tandem-Treffen

    Vorige Woche habe ich ein Tandem-Treffen mit einem Latino gehabt, der aus Puerto Rico stammt. Er ist 13 Jahre jünger als ich und sieht wie zwanzig aus, er trägt einen glitzernden Ohrring in seinem linken Ohr und hat schwarze kleine Löckchen und einen muskulösen Oberkörper, für den er zweimal die Woche ins Body-Combat geht, ich weiß nicht, was das ist, aber ich vermute, es ist ein Fitnessclub – wir sind Spazieren gegangen und haben später ein Bier zusammen getrunken und beim Abschied hat er mir gesagt, dass er mich unbedingt wiedersehen muss. In den Tagen darauf hat er mir dutzende kleine Nachrichten geschickt. Es war klar, dass er mit mir ins Bett gehen will, aber er kann mich nicht zu sich einladen, weil er mit ein paar Freunden zusammenwohnt und keinen Platz für sich hat. Drei Tage später er hat mich allen Ernstes gefragt, ob ich ihn besuchen kommen würde, wenn er am nächsten Vormittag auf seine einjährige Tochter aufpassen muss. Er würde dann mit ihr in der Wohnung seiner Ex-Freundin und Mutter des Kindes sein, und er hat versucht, mir einzureden, dass seine Tochter in der Zeit von 10:20 bis 12:00, wenn ich dann kommen würde, tief und fest im Nebenzimmer schläft.

    Liebeskummertext 15 # Tischlerei

    Einmal, während ich mit J. auf meinem Sommer-Balkon gesessen habe und Kaffee getrunken und den Vögeln in den Bäumen vor dem Haus gelauscht, habe ich J. den Specht gezeigt, der am Stamm einer Kiefer hämmerte und gefragt, wie er in Spanisch heißt. Pájaro carpintero – Tischlervogel, hat J. geantwortet. Später waren es zwei Spechte, ein Ehepaar, und ich habe J. gedankenversunken gefragt, wie sie da machen würden, und J. hat geantwortet: „Tischlerei!" Jetzt muss ich jedes Mal an J. denken, wenn ich einen Specht sehe, und an die Tischlerei, die er unternimmt, und ich frage mich, ob mich dieser Gedanke jemals verlassen wird.

    12.9.2015

    Liebeskummertext 16 # Störche

    In Polen, als J. und ich in den Masuren waren, gab es viele Störche, und wir haben sie geliebt. Immer haben wir uns gegenseitig die Störche gezeigt, wenn wir mit dem Auto vorbeigefahren sind, wir haben sie bewundert, bestaunt, gezählt. Störchennester auf den Häusern, auf Pfählen, Türmen, Störche auf den Wiesen, am Straßenrand. Abends waren wir sehr müde, und in den verschiedenen Hotels, in denen wir übernachteten, haben wir nebeneinander geschnarcht. Wir mussten uns erst daran gewöhnen, an das Schnarchen neben uns, so lange Zeit hatten wir allein geschlafen, und eines Morgens, als ich aufwachte, lag J. neben mir, ganz zerknautscht, und hat etwas gesagt, was ich im ersten Moment nicht verstand.: „Du hast geschnarcht, alle Störche sind weg!" Zuerst habe ich einen Schreck bekommen und mich jäh aufgesetzt, aber dann habe ich mit J. zusammen gelacht. Jetzt schnarcht niemand mehr, ich liege ganz leise, allein und verkrampft in meinem Bett und wache nach wenigen Stunden zerschlagen wieder auf und denke an J. und dass die Störche in Polen wohl schon in den Süden gezogen sind.

    Liebeskummertext 17 # Nochmal Störche

    In Lateinamerika erzählt man sich, dass der Storch die Kinder bringt, ebenso wie man es sich in Deutschland erzählt. Aber es gibt einen Unterschied. In Lateinamerika sagt man, dass der Storch die Kinder aus Paris abholt und zu den Eltern bringt. Es müssen besondere Kinder sein. Kinder der Liebe aus der Stadt der Liebe. Vielleicht werden aus diesen Kindern fröhlichere Menschen als hier, so stelle ich es mir vor. Ich liebe diese Geschichten. Ich liebe die Geschichten aus aller Welt, ich liebe Geschichten überhaupt, und J. hat mir viele erzählt. Geschichten aus einer Welt, die ich noch immer nicht kenne. Geschichten, über die ich endlos staunen und die ich nicht vergessen kann. Geschichten, von denen ich keine weiteren hören werde, denn J. enthält mir von nun an diese Geschichten vor. J. ist verstummt.

    Liebeskummertext 18 # Leere

    In meinem Computer gibt es eine Leere, in meinem Handy auch. Die Leere breitet sich von meinem Herzen bis in die technischen Geräte aus, oder die Leere der technischen Geräte zieht von dort aus in mein Herz, ich weiß nicht genau, wie herum, und ich weiß nicht, was ich gegen diese Leere machen soll. Wenn ich nach Hause komme, schalte ich als Erstes meinen Computer an und gucke nach den Mails, aber von J. ist keine Mail da. In mein Handy gucke ich unterwegs. Immerzu kann ich in mein Handy gucken, das habe ich mir in all den Monaten angewöhnt, als wir noch nicht zusammen waren, nur über Skype und WhatsApp und Mails verbunden, und immer hat eine Überraschung in meinem Handy geblinkt, eine Nachricht von J.: „Ich vermisse dich so! Ich vermisse dich heute sehr! Guten Morgen, Rahelita! Ich rufe dich nachher an! Bist du schon wach?"

    Liebeskummertext 19 # Der zweite Tag

    Am Morgen des zweiten Tages hatte J. mir offenbart, dass er furchtbare Rückenschmerzen hat. Er hatte sich bei seiner Arbeit verletzt, kurz vor seinem Abflug nach Berlin, ihm war ein großes Metallregal in den Rücken gefallen, das er gebaut und noch am Tag seines Abflugs geliefert hatte, und er hatte keine Zeit mehr gehabt, in Miami zum Arzt zu gehen. Die Schmerzen waren noch schlimmer geworden in der Nacht, nicht zuletzt durch den Sex, was er mir nicht hatte verraten wollen, aber am Morgen hielt er es nicht mehr aus. Er fragte mich, ob ich einen Osteopathen wüsste, zu dem er gehen könne, aber ich hatte keine Ahnung von Osteopathen, ich hatte noch nie einen Osteopathen besucht. Doch dann setzte ich mich ans Telefon, telefonierte eine Weile herum, bis ich jemanden fand, der einen freien Termin hatte, sogar am gleichen Tag, und wir machten uns kurz darauf auf den Weg. Ich begleitete J. zur Praxis und wartete in einem Café auf ihn, und später begleitete er mich zu meinem Zahnarzttermin, den ich ausgerechnet an diesem Tag hatte. Es war ein schöner Tag, die Sonne schien, es war warm, der Himmel war blau, es war ein wunderschöner Frühsommertag, einer der Tage, wie ich sie liebe in meiner Stadt, und zwischen unseren Terminen saßen wir draußen in einem Imbiss, aßen ein Schawarma, gingen später einen Kaffee trinken und genossen die Sonne, lachten und blödelten die meiste Zeit herum. „Unser erstes Date – ein angemessenes erstes Date für alte Leute, witzelte ich, „am Vormittag zum Osteopathen, am Nachmittag zusammen zum Zahnarzt, wie passend für uns!, und wir kamen aus dem Lachen nicht heraus. Ja, es waren noch immer nicht viele Funken da, aber trotzdem fühlten wir uns wunderbar zusammen, ruhig, sicher, vertraut. Und wir konnten miteinander lachen, wir lachten die ganze Zeit - gab es da noch etwas, was zu wünschen übrig blieb?

    Liebeskummertext 20 # Das Ende und kein Zurück

    Nachdem mit J. Schluss gewesen ist, habe ich ihn noch dreimal gesehen. Ich habe es einfach nicht wahrhaben wollen, dass es mit uns vorbei sein sollte, ich habe ihn beschworen, dass es doch nicht einfach so zu Ende sein könne, dass es keine Chance mehr für uns gibt, aber von Mal zu Mal rückte J. immer mehr von mir ab. Er blieb noch drei Wochen in der Stadt, nachdem er sich von mir getrennt hatte, und das letzte Mal sahen wir uns zwei Tage vor seinem Flug. Wir sahen uns gemeinsam einen Film über einen argentinisch-deutschen Künstler an, aber unser Treffen war nur kurz. Nach dem Film gingen wir in eine Kneipe, doch J. hatte nicht viel Zeit, er sagte, dass er noch verabredet wäre hinterher und ich musste die Tränen unterdrücken, während wir uns schweigend gegenübersaßen und ich feststellte, dass es zwischen uns nichts mehr zu reden gab. Zum Schluss gab ich ihm ein Geschenk, ein T-Shirt mit dem Aufdruck einer Straßenbahn, der M 1, J.s Lieblings-Tram, mit der er so oft zu mir gefahren war, und einen Brief, den ich ihm geschrieben hatte in der schlaflosen Nacht zuvor. J. nahm ihn ohne Rührung und erklärte, dass er ihn im Flugzeug lesen wird. Wir verabschiedeten uns schweigend, ohne dass J. mich umarmte wie sonst, es war, als ob er so schnell wie möglich wegkommen wollte, und auf der Straße drehte er sich kein einziges Mal mehr nach mir um.

    Liebeskummertext 21 # Gespräche

    Ich erzähle der Verkäuferin im Modegeschäft von meinem Liebeskummer, ich erzähle es allen Leuten, die es hören wollen, ich bin sehr redselig und distanzlos, wenn ich unglücklich bin. In Zeiten des Unglücks lerne ich neue Menschen kennen, das ist immerhin mein kleines Glück. Die Verkäuferin im Modeladen bei mir an der Ecke ist sehr nett. Schon oft bin ich an dem Geschäft vorübergegangen und habe die Kleider und Blusen bewundert, die draußen flattern im Wind, italienische Kollektionen, die ich mir eigentlich nicht leisten kann und die die Chefin aus Mailand und Venedig holt, erzählt mir die Verkäuferin, im Gegenzug spreche ich über meinen Kummer und über J. in Miami. Wir sprechen lange, der Klamottenladen ist gemütlich und ein wenig verkramt und über die Mittagszeit kommen nur selten Kundinnen herein, genau die richtige Kulisse für Liebeskummergespräche, und die Freundin der Verkäuferin, die zwischen aufgetürmten Tüchern und Taschen auf einem Sofa sitzt, versichert mir mit übertrieben angewiderter Mine, wie langweilig Miami im Grunde genommen ist. Ein eintöniges Rentnerparadies, nicht zu vergleichen mit dem aufregenden hippen Leben in unserer Stadt. Sie trösten mich, sie kennen Liebeskummer selbst sehr gut, wir sind drei Damen um die fünfzig, die wissen, wovon sie reden, und die Verkäuferin redet mir zu, dass J. bestimmt zurückkommen wird. Es ist genau das, was ich hören will. Ich jammere und klage ihnen mein Leid, ich bin mir sicher, dass es J. genauso schlecht gehen muss wie mir, er hat doch die gleichen Träume gehabt, Träume von einer Freundin in Berlin, von einem Leben zwischen den Welten, zwischen seiner Welt in Miami und der Berliner Welt, Träume von der Ferne, der Exotik, die ihn seinen anstrengenden Alltag leichter ertragen lässt, und genauso wie mir sind ihm jetzt seine Träume zerplatzt. Es muss ihm schlecht gehen, dessen bin ich mir gewiss, und sicher wird er bald merken, wie sehr ich ihm fehle, meine Nachrichten, unsere Skype-Gespräche, die wir monatelang geführt haben, manchmal sogar zweimal am Tag, bestimmt wird er bald nicht mehr gegen diese Leere ankommen, die unsere Trennung bei ihm hinterlassen hat, und sich wieder melden bei mir. Die Verkäuferin nickt. Als ich gehe, versichert sie mir, dass sie wissen möchte, wie es weitergeht. Ich muss ihr versprechen, wieder vorbeizukommen und zu berichten, und natürlich verspreche ich ihr das liebend gern.

    Liebeskummertext 22 # Fahrt in die Hölle

    Kurz nach der Trennung von J. war ich zu meiner Mutter nach Süddeutschland gefahren, um vor seiner Anwesenheit und den Erinnerungen an ihn zu fliehen, doch ich muss verrückt gewesen sein, diese Fahrt zu unternehmen. Ich hatte zu meiner Mutter schon immer ein schwieriges Verhältnis gehabt. Nach der Geburt meines jüngeren Sohnes hat sie zehn Jahre nicht mehr mit mir gesprochen, ich habe nie herausgefunden, warum, und im Grunde genommen sind wir uns fremd. Ab und zu telefonieren wir miteinander, ich spüre manchmal, dass es meiner Mutter leid tut, wie sie sich mir gegenüber verhalten hat und dass sie es irgendwie wieder gutmachen will, aber es gelingt ihr nicht, sich zu entschuldigen, überhaupt fällt uns das Reden miteinander schwer. Vor über zwanzig Jahren, kurz nach der Wende, ist meine Mutter von Berlin nach Süddeutschland gezogen und seitdem haben wir uns nur dreimal gesehen. So seltsam es klingt – es ist besser so. Wir können nichts miteinander anfangen, und als ich meinen Freundinnen erzählte, dass ich zu meiner Mutter fahren wollte, ausgerechnet in jener Zeit, in der ich so verzweifelt gewesen war, haben meine Freundinnen den Kopf geschüttelt und mich gewarnt, aber ich habe nicht auf sie gehört. Ich hatte mir in meiner Verzweiflung so sehr gewünscht, dass mich jemand bemuttern möge, dass jemand einfach nur da wäre für mich, aber tatsächlich habe ich noch am gleichen Abend, als meine Mutter mich vom Bahnhof in Stuttgart abholte, gedacht, dass ich eine Fahrt in die Hölle angetreten hätte, und mich verzweifelt gefragt, wie ich eigentlich auf die Idee zu dieser Reise gekommen war.

    Als ich aus dem Zug stieg, war meine Mutter nicht da. Ich kannte weder den Bahnhof noch die Stadt, es war ein ungemütlicher Bahnhof, unübersichtlich und verbaut, und als ich mich suchend auf dem Bahnsteig umblickte, fiel mir ein, dass wir keinen genauen Ort verabredet hatten, an dem wir uns treffen wollten, ich war davon ausgegangen, dass meine Mutter auf dem Bahnsteig stehen würde, doch sie war nirgendwo zu sehen. Es war abends gegen zehn, es war bereits dunkel, kurz zuvor hatte ein gewaltiges Unwetter angefangen, es stürmten und goss in Strömen, Wassermassen stürzten vom Himmel und prasselten auf das Bahnhofsdach, und nach dem heißen verschwitzten Sommertag kühlte es sich erstaunlich schnell ab. Mich fröstelte, als ich wartend auf dem Bahnsteig stand und überlegte, was ich jetzt machen sollte, meine Mutter hatte kein Handy, ich konnte sie nicht anrufen, und das Dorf, in dem sie wohnt, ist fast einhundert Kilometer von Stuttgart entfernt. Und was sollte ich tun, wenn sie überhaupt nicht kommen würde, was dann? Ich hatte nur siebzig Euro dabei, das würde vielleicht reichen für ein billiges Hotel, aber nicht für die Rückfahrt am nächsten Tag, und mein Konto war nicht gedeckt. Ich spürte, wie leise Panik in mir aufsteigen wollte, während ich mich auf die Suche nach ihr machte, durch den Bahnhof lief, auf den Parkplatz hinaus und die Bahnhofshalle zurück, und dabei fiel mir eine Begebenheit aus meiner Kindheit ein. Schon einmal war ich mit meiner Mutter auf einem Bahnhof verabredet gewesen, in Berlin, und schon einmal hatte meine Mutter mich versetzt. Ich war damals sehr klein gewesen, fünf oder sechs Jahre vielleicht, und ich war bis dahin noch nie allein unterwegs gewesen in der Stadt. Wahrscheinlich hatte mich meine Großmutter, bei der ich in jener Zeit lebte, zum Bahnhof gebracht und war wieder gegangen, vielleicht hatte meine Mutter angeordnet, dass ich mich alleine mit ihr treffen sollte, dass ich mich wie ein großes Mädchen benehmen sollte und nicht wie ein verwöhntes unselbständiges Oma-Kind, aber ich kannte mich in Berlin nicht aus. Bis dahin hatte mich meine Großmutter auf allen Wegen begleitet, daher hatte ich keine Ahnung gehabt, wie ich wieder nach Hause kommen sollte, auch den Weg zur Wohnung meiner Mutter kannte ich nicht. Als meine Mutter nach einer Stunde immer noch nicht erschienen war, war ich in Tränen ausgebrochen und hatte hemmungslos geschluchzt. Ich hatte geglaubt, ich hätte meine Mutter und meine Großmutter für immer verloren, ich war davon überzeugt gewesen, ich wäre von nun an ganz allein auf der Welt, ohne Familie, ohne irgendeinen Menschen, ich hatte mich schutzlos gefühlt, ausgeliefert, ohnmächtig, zum Untergang verdammt in dieser fremden feindlichen Welt. Es war ein Kindheitstrauma gewesen, das ich verdrängt hatte, zwei Jahrzehnte lang, eine Begebenheit, die mir erst wieder eingefallen war, als ich Mitte zwanzig und meine Tochter noch sehr klein gewesen war und ich manchmal Angst gehabt hatte um sie. Jetzt musste ich plötzlich an diese Begebenheit denken, doch dann lächelte ich über mich selbst. Ich war jetzt erwachsen, ich würde mir im Ernstfall zu helfen wissen, aber trotzdem war es keine angenehme Situation. Eine Dreiviertelstunde später kam meine Mutter quer durch die Bahnhofshalle auf mich zugeeilt. Sie hätte im Stau gestanden, erklärte sie atemlos, sie kenne sich in Stuttgart nicht mehr aus, seit Jahren wäre sie mit dem Auto nicht mehr bis in die Stadt gefahren und sie hätte nicht gerechnet mit so viel Verkehr. Nachdem wir durch den strömenden Regen zum Auto gelaufen waren, zündete sie sich als Erstes im Auto eine Zigarette an. Ich habe vor vielen Jahren mit dem Rauchen aufgehört und mich stört Zigarettenrauch, aber als ich das Fenster herunterkurbelte, um frische Luft hineinzulassen, war ich im nächsten Moment vollkommen durchnässt. Während der Fahrt rauchte meine Mutter eine Zigarette nach der anderen, während sie hektisch durchs Zentrum Stuttgarts fuhr und den Weg hinaus nicht fand, aber auch später wurde es nicht besser, die Gegend wurde bergiger, die Straßen enger und meine Mutter war immer noch nervös und rauchte unentwegt. Es gewitterte nach wie vor, der Regen war nicht schwächer geworden, er stürzte in Fluten auf die Erde, es blitzte und donnerte und die Sicht war sehr schlecht, die Straße vor uns war kaum zu sehen, aber meine Mutter weigerte sich, das Fernlicht anzuschalten, geschweige denn die Nebelscheinwerfer, das verbrauche sonst so viel Benzin. Ich musste an einen Traum denken, den J. mir erzählt hatte, kurz vor unserer Trennung, er hatte geträumt, dass ich bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei, und während ich neben meiner Mutter saß und mich an den Griff der Tür neben mir klammerte, war ich fest davon überzeugt, sein Traum würde in der nächsten halben Stunde in Erfüllung gehen. Wie durch ein Wunder erreichten wir das Dorf, aber auch dann waren die Höllenqualen noch nicht vorbei. Dante beschreibt im Inferno seiner Göttlichen Komödie den ersten bis siebten Höllenkreis und ich hatte den letzten noch nicht erreicht.

    Liebeskummertext 23 # Vertrautheit

    Als J. und ich uns endlich begegneten, war es, als hätten wir uns schon ewig gekannt.

    Es gab eine so große Leichtigkeit zwischen uns, so eine große Vertrautheit, es war alles so einfach, so unkompliziert, bald nach dem ersten Tag hatte ich J. einen Schlüssel für unsere Wohnung gegeben, damit er kommen und gehen konnte, wann er wollte, und mich nicht stören musste, während ich meinen Deutschunterricht im Wohnzimmer abhielt, und er benahm sich, als wäre er schon lange bei uns zu Haus. Morgens kochte er den Kaffee, während ich unter der Dusche stand, er machte mit mir zusammen Frühstück, half mir bei der Hausarbeit, wusch das Geschirr in der Küche ab, er brachte den Müll hinunter, wir gingen zusammen einkaufen, wir kochten zusammen und es gab keine Unstimmigkeiten, kein einziges Problem, es war, als lebten wir schon seit Jahren zusammen, und manchmal witzelten wir beide, wie schnell das alles ging. Wie schnell wir in kürzester Zeit das abarbeiteten, wofür andere Paare Monate oder sogar Jahre brauchten, ja, wir waren selbst darüber erstaunt.

    Liebeskummertext 24 # Der zweite, dritte und vierte Höllenkreis

    Als wir endlich das Haus meiner Mutter erreichten, fiel mir alles wieder ein. Meine Mutter ist chaotisch, das hatte ich verdrängt, sie lebt in einem gewissen Zustand der Verwahrlosung, auch wenn sie sich große Mühe gegeben hatte, sauberzumachen und aufzuräumen, bevor ich gekommen war. Doch hauptsächlich kümmert sich meine Mutter um ihre Katzen, von denen zu Zeiten viele bei ihr wohnen, sie kümmert sich nicht nur um ihre eigenen Katzen, sondern auch um alle streunenden Katzen der Umgebung, sie leidet mit ihnen, sie sorgt sich um sie und opfert für sie jede Menge Zeit und Geld, um sie zu retten und zu pflegen, aber umso weniger kümmert sie sich um sich selbst. Seit Jahren trägt sie dieselben Klamotten, sie weigert sich, dafür Geld auszugeben, ebenso wenig wie für einen Friseurbesuch oder Kosmetik oder derartige Sachen, sie ist der Meinung, dass das pure Geldverschwendung sei, aber noch schlimmer ist, dass sie kaum Nahrung zu sich nimmt und zur gleichen Zeit raucht wie ein Schlot. Außerdem spart sie, wenn es nicht um ihre Katzen geht, wo sie nur kann. Sie ist stolz darauf, dass sie keine Müllgebühren zahlt, sie produziert ja kaum Abfall, bei dem wenigen Essen, und die selten anfallenden Verpackungen verbrennt sie in ihrem Kamin. Sie ist der sparsamste Mensch, den ich kenne, sie verkauft zusätzlich zu ihrer Arbeit in einer Schule, wo sie Kinder bei den Hausaufgaben betreut, altes Zeug auf dem Flohmärkten der Gegend, und ihr Kühlschrank ist ausgeschaltet, um Strom zu sparen, aber sie braucht ihn ja sowieso nicht, da sie nichts isst. Der Salat, den sie zu Ehren meines Besuches gekauft hatte, lag auf der Treppe, wo sie ihn vergessen hatte, die Fertigpizza, die sie selbst nie essen würde, schwelte in den heißen Sommertagen vor sich hin, der Käse, den sie für mein Frühstück gekauft hatte, wurde in der Hitze schnell ranzig und ich überlegte krampfhaft, wie es vermeiden könnte, bei ihr etwas zu essen, was mir nicht immer gelang. In der meisten Zeit ekelte ich mich. Aber auch vor dem Zimmer und dem Bett, in dem ich schlief, hatte ich Angst. Es war aufgeräumt und sauber, meine Mutter hatte geputzt und das Bett frisch bezogen, trotzdem fühlte ich mich nicht wohl. Nachts rollte ich mich nachts auf der Matratze zusammen und versuchte, das Bettzeug möglichst wenig zu berühren, und nach einem kurzen oberflächlichen Schlaf lag ich stundenlang wach und dachte an J. Ich hatte ihm entfliehen wollen, aber in dieser Umgebung war er noch präsenter als zuvor. Ich wurde die Gedanken an ihn nicht los, ich stellte mir vor, was er gerade machte, ob er an mich dachte oder ob er mir vielleicht sogar eine Nachricht schrieb, aber ich konnte es nicht kontrollieren, denn im Haus meiner Mutter gab es kein Internet und auch mein Handy hatte dort kein Netz. Die halbe Nacht lag ich schlaflos im Bett, grübelte, schrieb Mails an meine Freunde, die ich nicht abschicken konnte, und wartete darauf, dass endlich der Morgen käme und ich aufstehen durfte, aber auch dann wurde es nicht besser, auch am Tag wurde ich J. nicht los. Die ganze Welt schien nur aus J. zu bestehen, alles hatte einen Bezug zu ihm, egal, was ich sah, fühlte schmeckte und dachte, hatte mit J. zu tun, ich war so empfindlich in meiner Verzweiflung, noch viel empfindlicher als sonst, und in dieser Umgebung erschien mir mein Unglück noch viel größer als bei mir zu Haus. Während ich mit meiner Mutter zusammen frühstückte, die Gegend erkundete oder in die nächste Stadt zum Einkaufen fuhr, redete ich die meiste Zeit über J. Ich konnte nicht aufhören, über ihn zu sprechen, als ob allein die Erwähnung seines Namens unsere Trennung rückgängig machen könne, doch ich merkte, dass meine Mutter nichts davon hören wollte, und so verfiel ich schließlich in ein dumpfes Schweigen, wodurch der Schmerz noch schlimmer wurde als zuvor. Ja, ich hatte J. entfliehen wollen, aber es schien, als wäre das Unglück in der Gegenwart meiner Mutter nur noch näher gerückt. Am Morgen des dritten Tages reiste ich vorzeitig ab. Ich erklärte meiner Mutter, dass es mir nicht gut ginge und dass es einfach nicht funktioniere mit uns, dass wir uns zu fremd geworden seien all diesen Jahren, obwohl sie sich ja Mühe gegeben hatte mit mir, aber ich sei einfach zu empfindlich in dieser Zeit. Ich versuchte, alle Schuld auf mich zu nehmen, es war ein halbherziger Versuch, aber als ich mein Gepäck in ihren Wagen lud, fauchte meine Mutter mich an: „Ja, das stimmt, du bist überempfindlich!, und dann fügte sie hinzu: „Man kann seinen Liebeskummer ja auch feiern! Es war nicht anders als in jenen Zeiten, als ich ein kleines Kind gewesen war. Ich kannte meine Mutter im Grunde genommen nicht, sie war mir fremd, sie war mir fremder als je zuvor, und ich erkannte, dass ich von der falschen Prämisse ausgegangen war. Ich hatte mich bemuttern lassen wollen in meiner Verzweiflung, mich verwöhnen lassen, aber ich hatte nicht gesehen, dass meine Mutter der falscheste Mensch dafür gewesen war.

    Liebeskummertext 25 # J.s Fürsorglichkeit

    J. war ein fürsorglicher Mensch, ich habe nie einen Mann kennengelernt, der so aufmerksam gewesen war wie J., immer hat er sich Gedanken gemacht, ob es mir gut gehen würde, zum Beispiel, als ich das erste Mal bei ihm übernachtet habe, mit ihm zusammen auf der schmalen unbequemen Luftmatratze, die über Nacht Luft verlor, auf diesem Not-Bett, auf dem er bei seinen Freunden schlief, „Bitte mach‘ mich wach, wenn du nicht schlafen kannst!", hatte er mich am Abend gebeten und sich am Morgen Vorwürfe gemacht, weil das Wasser in der Dusche kalt gewesen war und es keinen Zucker für meinen Kaffee gab, oder er hatte sich in Polen, wo wir in verschiedenen Hotels übernachtet hatten, um mich gesorgt, ich erinnere mich, wie er im letzten Hotel aus dem Bad gekommen und freudestrahlend verkündet hatte, dass er einen Fön gefunden hätte, weil er wusste, dass ich mir nach dem Haarewaschen die Haare immer föne und einen Fön vermisst hatte in den Hotels zuvor –

    ja, sie hatte mich überwältigt, seine Fürsorglichkeit, ja fast Mütterlichkeit, die ich nie zuvor erlebt hatte bei einem Mann.

    Liebeskummertext 26 # J.s beste Freunde

    J. kommt seit fünfundzwanzig Jahren fast jeden Sommer in meine Stadt. J. liebt Berlin, seine besten Freunde wohnen hier, bei denen er während seiner Aufenthalte wohnt, das hatte er mir erzählt, noch bevor er gekommen war, und er hatte von seinen Freunden geschwärmt. „Du musst sie unbedingt kennenlernen!, hatte er mir gesagt, „du wirst dich mit ihnen gut verstehen!, aber als er dann endlich da gewesen war, dauerte es lange, bis ich sie endlich traf.

    J.s beste Freunde sind bildende Künstler, ebenso wie er. Sein Freund U. betreibt zusammen mit seiner Frau B. eine Boulder-Anlage in der Nähe des Tempelhofer Felds, jenem Gelände, das einst der Flughafen Tempelhof gewesen war, und diese Anlage ist eine Anlage besonderer Art. Die verschiedenen Wände wurden von internationalen Künstlern gestaltet, den Grundstein zu ihnen hat aber J. gelegt. Er hat alle Wände gebaut, auch die Möbel, die Bänke und Liegen, die auf dem Gelände stehen, und jeden Sommer, wenn er drei Monate in der Stadt verbringt, hilft er seinen Freunden und arbeitet dort. „Du kannst zur Anlage fahren und dir alles ansehen,, hatte er mir geschrieben, noch bevor er nach Berlin gekommen war, „grüße meine Freunde von mir, damit du freien Eintritt bekommst!, aber ich wollte nicht ohne ihn dorthin gehen. Doch als er dann da war, kam von seinen Freunden keine Einladung, kein Signal. Es war seltsam, ich fing an, mich zu wundern, nachdem einige Wochen vergangen waren, und ich spürte, dass auch J. unsicher war, als ich mit ihm darüber sprach. Doch schließlich ergriff ich die Initiative und besuchte J. und seine Freunde einige Tage später in Tempelhof, doch wie ich es befürchtet hatte, waren seine Freunde merkwürdig, der Empfang abweisend und kalt.

    Die Frau von J.s Freund U. mochte mich nicht, das war schnell klar. Sie antwortete kaum, als ich sie begrüßte, sie sah mich kaum an, wirkte kalt und distanziert, und auch später wechselte sie nur wenige Worte mit mir, ich spürte nur, wie sie mich aus der Ferne beobachtete, als J. mit mir über die Anlage ging. „Und, alles gut?" war ihre Begrüßung gewesen, ihr erster Satz an mich, ein Satz, der vermutlich cool klingen sollte, den ich aber albern fand. Ich hatte mit ihm nichts anfangen können, ich hatte nicht recht gewusst, was ich darauf erwidern sollte, doch ich hatte gedacht, dass es mir egal sein konnte, dass es ihre Sache war, wenn sie mich nicht mochte, welchen Grund auch immer es dafür gab. An diesem Tag übernachtete ich bei J. Es war das erste Mal, dass auch seine Freunde zu Hause waren, als ich über Nacht bei ihm blieb, sie hatten es schlecht ablehnen können, als J. sie gefragt hatte, aber B. war nicht begeistert gewesen von dieser Idee. Als wir spät in der Nacht vom Essen nach Hause kamen, J. und ich, hörte ich, wie J. in der Küche mit seinen Freunden über den nächsten Morgen sprach. Sie wollten schon früh mit ihm zur Anlage fahren, weil es viel Arbeit gab. Doch J. hatte Einwände,

    „Rahel hat morgen um zehn einen Termin und muss gegen neun aus dem Haus, hörte ich ihn sagen, „ich werde mit ihr zusammen aufstehen und dann zu euch kommen!, aber noch ehe er zu Ende gesprochen hatte, fuhr B. ihn an. „Du weißt, wie viel Arbeit wir haben, hörte ich ihre Stimme, „wir müssen spätestens halb acht bei der Anlage sein, d. h. spätestens um sieben aus dem Haus!, woraufhin J. schwieg. Kurz darauf kam er zu mir ins Zimmer zurück und fragte mich, ob es mir etwas ausmachen würde, allein aufzustehen, dann könne er mir seinen Schlüssel geben, damit ich ausschlafen könne und nicht so früh aufstehen müsse wie er, aber auch das war B. nicht recht. Ich hörte ihr Gespräch, während ich in J.s Zimmer blieb, ich beschloss, mich nicht einzumischen, ich war neugierig auf den Ausgang der Geschichte, aber schließlich setzte J. sich durch. Er stand mit mir zusammen am nächsten Morgen auf, frühstückte mit mir und verließ mit mir zusammen das Haus, um erst später zu seinen Freunden zu fahren, und ich spürte, wie erleichtert ich über seine Entscheidung war.

    Ich war glücklich, dass J. loyal mir gegenüber gewesen war. Loyalität war etwas, was mir sehr wichtig war in einer Beziehung zu einem Mann, das hatte ich begriffen in den Jahren zuvor, nach der Trennung von O., dem Vater meiner Söhne, der mir gegenüber oft nicht loyal hatte sein können, und ich denke heute, dass dies einer der Gründe für unsere Trennung gewesen war.

    Meistens hatte O. den Wünschen seiner Eltern und Geschwister nachgegeben, er hatte bei ihnen Handwerksarbeiten verrichtet, ihnen bei ihren Umzügen geholfen, beim Renovierungen ihrer Wohnungen, beim Bau ihrer Häuser, beim Transport ihrer Möbel und Baumaterialien, und hatte kaum Zeit für uns gehabt, für die Kinder und mich, er hatte er uns oft allein gelassen, an den Wochenenden, der einzigen Zeit, die ihm nach seiner Arbeit übrig geblieben war, und wenn ich mit ihm darüber gestritten hatte, hatte er sich auf die Seite seiner Familie gestellt. Oft hatte ich mich verraten von ihm gefühlt. Mit J. aber war es anders gewesen, J. hatte seinen Freunden oftmals stolz von mir erzählt, er hatte demonstriert, dass er zu mir gehörte, dass ich wichtig für ihn war, dass es ihm nicht egal war, wie ich mich fühlte, und ich war unendlich glücklich gewesen an diesem Tag. Ich hatte es für einen großen Beweis seiner Gefühle gehalten, doch heute denke ich, dass dieser Tag gewissermaßen schon der Anfang vom Ende gewesen war. Es war das erste und letzte Mal, dass J. mich gegenüber seinen Freunden verteidigt hatte, und in der Folgezeit benahmen sich seine Freunde mir gegenüber nicht anders als zu Beginn. Sie luden mich nach wie vor nicht ein, sie planten Reisen zusammen mit J., zu denen sie mich nicht mitnehmen wollten, sie besuchten mit J. zusammen Partys ohne mich, sie fuhren mit ihm zu ihrem Wochenendhaus in der Nähe von Berlin, zu dem ich sie nicht begleiten durfte, und auch wenn J. nicht glücklich darüber gewesen war, hatte er sich doch seit jenem Tag nicht mehr dagegen gewehrt.

    Ich habe bis heute nicht verstanden, warum sich J.s Freunde so benommen haben, aber ich vermute, dass sie eifersüchtig gewesen sind. J. besuchte sie seit zwanzig Jahren, sie waren seine engsten Freunde in Berlin, er half ihnen bei ihrer Arbeit, er kümmerte sich um ihren erwachsenen behinderten Sohn, er war immer mit ihnen zusammen gewesen, wenn er in Berlin gewesen war, und hat sich immer bei ihnen nützlich gemacht, doch plötzlich hatte er keine Zeit mehr für sie gehabt. Plötzlich hatte er seine Zeit mit mir verbracht, bei mir übernachtet, war mit mir in den Urlaub gefahren und hatte zu allem Überfluss auch noch von mir geschwärmt - ich denke, das hat ihnen das nicht gepasst. Sie hatten ein Stück von ihm verloren, sie hatten ihn teilen müssen, das hatten sie nicht gewollt.

    Liebeskummertext 27 # J.s Jobs

    Immer wenn J. in Deutschland war, machte er nicht nur Urlaub, sondern arbeitete auch. Nachdem wir aus Polen zurückgekehrt waren, arbeitete er eine Woche beim Messebau, bei einer Messe in Berlin, und die Arbeit war sehr hart. In dieser Woche sahen wir uns kaum. J. hatte eigentlich bei mir übernachten wollen, aber nach der Arbeit war er zu erschöpft, um zu mir zu fahren, quer durch die Stadt, da das Messegelände sich am anderen Ende befand, dichter an der Wohnung seiner Freunde gelegen, deshalb fuhr er jeden Abend nach der Arbeit direkt zu sich nach Haus. Später am Abend telefonierten wir und J. erzählte von seinem Tag, doch obwohl die Arbeit so anstrengend war, war J. sehr froh. „Ich verdiene so viel", erzählte er mir stolz, „und vielleicht kann

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