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Druckstaueffekt: Soundcheck: Berlin
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eBook263 Seiten3 Stunden

Druckstaueffekt: Soundcheck: Berlin

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Über dieses E-Book

"Und doch werde ich es wieder tun, wieder - noch ein letztes Mal - das Herz offenlegen, beim nächsten, den ich lieben will."
Eine Frau ist auf der Suche: Sie will das Besondere und macht sich selbst austauschbar, findet Affären und hofft dabei auf Liebe. Es geht um Sex - auch. Aber vor allem beschwört dieser Debütroman kein rosarotes Hollywoodmärchen, sondern erzählt realitätsnah von den Licht- und Schattenseiten eines unverbind- lichen Beziehungslebens. Denn "was die Sehnsucht nicht tötet, das brennt in ihr heller denn je."
SpracheDeutsch
Herausgeberkladdebuchverlag
Erscheinungsdatum1. Apr. 2015
ISBN9783945431030
Druckstaueffekt: Soundcheck: Berlin

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    Buchvorschau

    Druckstaueffekt - Sabine Wirsching

    möchte.

    DU UND ICH I.

    Sie liebte ihr Haus. Die Sonne schien durch ihre Fenster und durchflutete die hohen Räume. Draußen ein grüner Garten, Wärme auf ihren Gliedern, Stille um sie. Ruhig schritt sie durch die Zimmer, durch Tag und durch Nacht. Mit den Händen strich sie über Stühle, Tische, Schränke, alles gehörte ihr. Sie berührte warmes Holz, kühles Messing, weiche Kanten, alles unverrückbar und eins. Sie erfreute sich an Schönheit und Ordnung, saß und schaute durch ihre Fenster in die Welt. Hier hatte sie die Kraft, die Herrlichkeit und ihr Wille geschah.

    MONATELANG LEBE ICH WIE EIN AUTOMAT. Ich arbeite, schlafe und abends schaue ich neben dir in den Fernseher. Jeder Tag ist gleich grau, leer und trostlos. Ich fühle eine unbestimmte Traurigkeit, die sich von meiner linken Seite her ausbreitet. Unter meinem Schlüsselbein scheint ein schwarzes Loch zu liegen, das alle Gefühlsregungen aufsaugt. Übrig bleibt – nichts. Ich funktioniere, bringe mich durch jeden Tag und vielleicht merken die meisten es mir nicht einmal an. Aber jeder Schritt, jedes Wort, jedes Lächeln strengt mich an. Das war nicht immer so.

    Ich erinnere mich gern daran, wie wir uns kennengelernt haben. Ich war leichtsinnige 18, es war auf einer Party und du warst der entfernte Freund eines Freundes. Er stellte uns vor und du hast mir sofort gefallen. Groß, mit schlaksig langen Gliedmaßen und hellen Augen. Du hast mich angelächelt und dann sind wir zu Punkrock und Metal über die Tanzfläche gerempelt, bis wir durchgeschwitzt und erschöpft waren.

    Es wurde schon hell, als wir uns vor die Tür gesetzt haben. Wir haben geraucht und geredet als hätten wir uns schon immer gekannt. Damals hatte ich mein erstes Mal noch vor mir, nicht mal richtig geküsst hatte ich, auch darüber haben wir gesprochen, und vermutlich hätte jeder andere in diesem Moment seine Chance genutzt. Du nicht. Du hast mir geraten, auf einen zu warten, der sich lohnt.

    Wir sind Freunde geworden an diesem Abend. Wir gingen zusammen auf Partys, quatschten bis in die Morgenstunden und schliefen danach im selben Bett, ohne uns zu berühren. Ich mochte deine offene Art ebenso wie deine körperliche Gegenwart, wenn du im Spaß den Arm um mich gelegt hast. Dass daraus mehr werden könnte, daran habe ich trotzdem nie gedacht. Viele Jahre lang. Du hattest Freundinnen und ich wurde meine Jungfräulichkeit los – mit einem, der verliebt in mich war und mit dem ich ein paar Jahre zusammenblieb.

    Irgendwann bist du nach Berlin gezogen, ich ging zum Studieren nach Kiel und ab und zu telefonierten wir. Bei einem dieser Telefonate hast du mich eingeladen, dich zu besuchen – ich war noch nie in Berlin gewesen.

    Ich werde nie vergessen, wie ich mit meiner Tasche zu deiner Wohnung im sechsten Stock hochgestiegen bin. Keuchend, Altbau. Ich bog um den letzten Treppenabsatz und oben vor der Tür standest du. Deine Augen, dein Lächeln, deine Wiedersehensfreude – plötzlich war ich verliebt. Als du mich zur Begrüßung umarmt hast, waren wir schon keine Freunde mehr.

    An dieses erste Berlin-Wochenende erinnere ich mich nur in Momentaufnahmen. Du hast mir die Stadt gezeigt, den Fernsehturm, das Rote Rathaus am Alexanderplatz, den Neptunbrunnen und die von Touristen völlig überlaufenen Hackeschen Höfe. Wir haben in einem Park in der Sonne gesessen, du hast den Kopf in meinen Schoß gelegt wie schon tausend Mal vorher und mit den frisch geschlüpften Schmetterlingen im Bauch fand ich das schöner als Kastanienallee und Mauerpark zusammen.

    Abends haben wir im Prenzlauer Berg einen Burger gegessen und sind tanzen gegangen, ins Knaack. Damals gab es diesen Club noch – durch einen Hinterhof verbundene Floors in weitläufig kahlen Gebäuden. Als wir morgens zu dir nach Hause fuhren, war es schon hell und ich bin in der S-Bahn mit dem Kopf auf deiner Schulter eingeschlafen. Im Bett lagen wir Fuß an Kopf, ohne Berührung.

    Später hast du mir erzählt, dass du mich schon zur Begrüßung an der Tür am liebsten geküsst hättest. Dass es für dich den Moment des Verliebens nicht gab, weil ich für dich vom ersten Moment an die Eine war. Als ob wir uns immer gekannt hätten. Und geküsst haben wir uns erst viel später.

    Am nächsten Tag war das Wetter grau, wir hatten keine Lust mehr auf Stadtbesichtigung und haben uns im Bett herumgedrückt, Asterix-Filme geschaut und Eis gegessen, bis ich abends wieder zum Bahnhof musste.

    Auf dem Weg zur S-Bahn fing es an zu regnen. Zuerst ein paar Tropfen, dann folgte ein Platzregen, der uns in wenigen Sekunden durchnässte und uns in den nächsten Hauseingang springen ließ. Wir schauten uns an, von deinen Haaren lief dir das Wasser über die Stirn, die T-Shirts klebten an uns und der Moment wäre wie geschaffen gewesen für einen ersten Kuss. Aber Hollywoodmomente waren nie unser Ding. Stattdessen mussten wir lachen. Und laufen, um die Bahn zu erwischen.

    Ich habe meinen Zug bekommen, zum Abschied haben wir uns umarmt und ein paar Wochen später hast du mich in Kiel besucht. In meiner Küche haben wir uns das erste Mal geküsst, beim Pizzabacken, zwischen Zwiebelringen und Paprikastreifen. Ganz unspektakulär und alltäglich, als wären wir längst zusammen. Fünf Jahre ist das jetzt her.

    Niemand akzeptiert meine Fehler, meine Eigenarten, mit mehr Zuneigung als du. Nie habe ich von einem Mann mehr Wärme erfahren als von dir. Und du bist respektvoll. Respekt – ein altmodisches Wort und in meinen Beziehungen bis dahin nicht all zu häufig. Aber du respektierst mich – du beherrschst deinen Tonfall, unterstützt meine Entscheidungen und hast trotzdem deinen eigenen Kopf. Den du ohne laut zu werden vertreten kannst. Weil wir seit unserem ersten Abend über alles reden können.

    Nach einem Jahr Fernbeziehung schloss ich mein Literaturstudium ab und zog zu dir. Nach Berlin und mit so vielen Träumen wie Umzugskisten im Gepäck. Ich hatte davon geträumt, jeden Tag mit dir zu leben. Und eine Zukunft mit dir aufzubauen. Familie, Kinder, ein Haus im Grünen. Das war unser Plan.

    Ich hatte sorgfältig gepackt, meine Kisten und Möbel kamen heil an, kein Teller, kein Glas zerbrach auf der Fahrt. Unser Zusammenleben lief gut. Es war schön, jeden Morgen mit dir aufzuwachen, jeden Abend mit dir einzuschlafen. Es war schön, für dich zu kochen. Mich auf dem Sofa an dich zu lehnen. Den Alltag mit dir zu teilen. Pläne für eine leuchtende Zukunft zu schmieden.

    Mein Job in einer Buchhandlung machte mir Spaß – ich hatte meine eigene kleine Abteilung, für die ich den Ein- und Verkauf plante, Schaufenster dekorierte und Lesungen organisierte. Jeden Tag neue Kunden, neue Geschichten, neue Gesichter; aufräumen, einlesen, beraten, erklären. Ich habe mich nie gelangweilt und es fiel mir leicht, lächelnd auf jeden Menschen zuzugehen.

    Du hast mir deine Freunde vorgestellt und wenn du sonntags mit ihnen Basketball spielen gegangen bist, habe ich mich mit ihren Freundinnen getroffen. Wir sind über den Mauerparkflohmarkt gebummelt, haben in Cafés geplaudert und wenn die Jungs abends wieder da waren, haben wir zusammen gekocht und Mensch-ärgere-dich-nicht gespielt.

    So habe ich auch Jana kennengelernt. Ein paar Monate lang war sie mit Marc, dem stillsten unter deinen Freunden zusammen – ein Gegensatzpaar, denn Jana ist temperamentvoll und schlagfertig. Am Anfang haben wir uns vor allem über Bücher unterhalten, wir mochten beide John Irving und waren immer auf der Suche nach neuen absurden Romanen.

    Als sie sich von Marc trennte, wurde aus der Bekanntschaft eine echte Freundschaft –wir trafen uns nun oft allein, um bei ihr zu kochen, zu reden oder um einfach auf ihrem Balkon zu sitzen und die Beine in die Sonne zu strecken.

    Mit dir blieb an den Wochenenden nicht viel gemeinsame Zeit, denn am Samstag musste ich arbeiten. Was wir hatten, haben wir genutzt: Wir waren klettern, im Kino oder sind rausgefahren nach Brandenburg. Spazierengehen an einem der kleinen Seen, oder Schwimmen. Wenn ich mal frei hatte, sind wir tanzen gegangen.

    Es gibt viele Fotos aus unserer Kennenlernzeit, von unseren ersten Monaten als Paar. Auf fast jedem Bild hast du den Arm um meine Schultern gelegt. Du kannst das – denn ich bin vielleicht groß, aber du bist größer. Mit meiner Schulter passe ich perfekt unter deinen Arm. Wie ein Puzzlestück. Du bist im Sommer braungebrannt und ich immerweiß, deine Haare sind stoppelig kurz und schwarz, meine sind lang und rot. Diese Farben leuchten als Dauerkontrast auf jedem Bild.

    Gestritten haben wir kaum, wir konnten immer Lösungen für all die kleinen Haushalt-Alltag-Pärchenprobleme finden. Als Einzelkind neigte ich dazu, dickköpfig und stur zu sein, während du als einer von drei Geschwistern Erfahrung im Kompromissemachen hattest. Wenn ich meine Ruhe wollte, bist du allein losgezogen. Wenn ich auf Dauer zu einsiedlerisch wurde, wusstest du, mit welchen Worten du mich aus meiner Muffelecke herauslocken konntest. Bis vor ein paar Monaten.

    Von einem Tag auf den anderen funktionierten deine Worte nicht mehr. Abends nach der Arbeit bin ich müde, meine Füße sind schwer und ich will nur noch auf dem Sofa sitzen. Ausruhen. Vor mich hinstarren. Oder früh ins Bett gehen und mir die Decke über den Kopf ziehen. Manchmal mache ich das jetzt direkt nach der Arbeit. Ich komme nach Hause und gehe ins Bett. Ich sage nicht hallo, ich esse nicht, ich ziehe mich nicht einmal aus. Und ich schlafe auch nicht. Ich liege da und starre die Wand an.

    Du kaufst mir Schokolade. Du kochst Suppe und holst mein Lieblingsobst vom Markt. Du bringst Kino- und Konzertkarten mit, du versuchst mich zum Lachen zu bringen und du lädst Freunde ein. Ich esse nicht. Ich schiebe deine Mitbringsel vom Bettrand und drehe mich zur Wand. Ich stehe nicht auf, wenn Besuch kommt, und wenn, dann sitze ich mit steinernem Gesicht mit am Tisch. Ich spüre nichts als Müdigkeit und meine bleischweren Füße nach einem langen Arbeitstag. Denn zur Arbeit gehe ich.

    Wenn ich morgens in der Bahn sitze, weiß ich nicht, wie ich es pünktlich aus dem Bett und ins Bad geschafft habe. Wie ein Schlafwandler bringe ich mich durch die Tage. Bücher einräumen, ausräumen, kassieren. Wenn mich Mario oder die anderen Kollegen und sogar Kunden auf mein trauriges Gesicht ansprechen, ziehe ich meine Mundwinkel so hoch wie möglich und rede etwas von viel Arbeit, Kopfschmerzen, schlecht geschlafen.

    Dein dreißigster Geburtstag steht vor der Tür, meiner ist nicht mehr allzu weit. Die Zukunft ist nicht länger der Horizont, nicht mehr irgendwann bald, sondern fast schon morgen. Wir sprechen nicht mehr von unseren Träumen. Ein Haus, Kinder – nichts davon erscheint mir mehr möglich. Auf der Arbeit raubt mir allein das Reden die ganze Kraft. Bausparverträge verstehen? Häuser anschauen? Unmöglich. Die Verantwortung für ein Kind? Undenkbar. Ich will ja nicht mal lächeln.

    Allein unter der Bettdecke zähle ich mir all die guten Dinge in meinem Leben auf: Ich habe einen Mann, der mich liebt. Wir wollen einmal ein Haus und Familie haben. Ich habe einen Job, der mich ausfüllt. Ich habe nette Kollegen, Jana, Fritzi und andere Freundinnen. Ich wohne gern in Berlin. Ich bin gesund. Man sagt sogar, ich sei hübsch. Ich kann Sport machen, spazieren oder schwimmen gehen, oder andere schöne Dinge unternehmen, wenn ich will.

    Aber es sind leere Worte. Ich fühle keine Dankbarkeit. Keine Vorfreude. Keine Zufriedenheit. Es gibt kein Glück für mich, nie mehr. Dieser Gedanke sitzt fest in meinem Kopf und brennt das schwarze Loch tiefer in meinen Brustkorb. Ich sehe keine Farben mehr, die Welt ist grau, ich bin gleichgültig gegen deine Bemühungen.

    Ein paar Wochen lang leben wir fast schweigend nebeneinander. Bis du eines Tages genug hast. Als ich abends aus der Buchhandlung schlurfe, stehst du vor der Tür. Mit einem mühsamen Lächeln im Gesicht.

    – Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Aber du brauchst Hilfe. Du musst dir helfen lassen.

    Ich senke den Kopf, es könnte ein Nicken sein. Ich nehme deine ausgestreckte Hand und du bringst mich zu einer Psychologin. Zerdrückst im Vorzimmer meine Hand eher als dass du sie hältst und sagst kein Wort mehr, bis wir drankommen.

    Dann redest du plötzlich wie ein Wasserfall, deine ganzen Sorgen und Ängste um mich sprudeln aus dir raus und am Ende weinst du mehr als ich. Ich drücke deine Hand jetzt ganz fest und zum ersten Mal seit langer Zeit spüre ich wieder ein Gefühl. Mitleid.

    Ich habe eine Depression, das sagt die Psychologin und das wissen wir beide. Längst. Ab sofort muss ich zwei Mal die Woche zur Gesprächstherapie, ich soll weiterhin arbeiten gehen, wenn ich kann, und auch du bekommst Beratungstermine.

    In einer Therapiestunde erwähne ich, dass ich seit ein paar Monaten eine neue Anti-Baby-Pille nehme – ich hatte plötzlich immer häufiger Migräne bekommen, ganze Tage und Nächte lang wusste ich nicht, wie ich den Schmerz ertragen sollte, das Kopfkissen war viel zu hart unter meinem Schädel, wie mit Nadeln und Backsteinen gefüllt. Ich konnte nicht schlafen, nicht liegen, nicht einmal weinen konnte ich. Du hast alles versucht, um mir zu helfen. Erst haben wir es mit Aspirin probiert, was nichts half, einfach gar nichts, dann mit Google und schließlich bin ich zum Arzt gegangen, der mir eine neue Pille mit weniger Hormonen verschrieb. Die Psychologin wird aufmerksam: Sie fragt nach, wie lange ich die neue Pille nehme und ob mein depressiver Zustand mit der Einnahmedauer übereinstimmt.

    Das tut er. Acht Wochen, nachdem ich die neue Pille zum ersten Mal genommen hatte, fing ich an, nach der Arbeit direkt ins Bett zu gehen. Migräne hatte ich keine mehr gehabt, aber auch sonst nichts mehr – keine Lust auf Ausgehen, keine Lust auf Essen, keine Lust auf unser Leben. Die Psychologin nickt und erklärt mir mit einfachen Worten das Prinzip der hormonellen Depression: Zu viel Östrogen bedeutet Migräne, zu wenig Depression. Schmerz – oder Dunkelheit, und ich sei kein Einzelfall.

    – Die meisten machen sich gar keine Gedanken darüber, dass sie mit der Pille jeden Tag nicht nur ihren Körper, sondern auch ihren psychischen Zustand manipulieren. In vielen Fällen geht es ja auch gut.

    Oder auch nicht. Wie bei mir. Seltsamerweise erleichtert mich am meisten, dass es vielleicht eben doch einen Grund für meine Traurigkeit gibt. Dass ich nicht verrückt bin oder krank.

    Die Psychologin schickt mich zu ihrer Frauenärztin, gleich am nächsten Tag. Ich soll auch mit ihr sprechen, nicht nur mit meinem Arzt, bevor ich die Pille absetze. Noch einmal höre ich, dass die Traurigkeit vielleicht gar nicht meine eigene ist.

    Am Abend stehe ich im Badezimmer und werfe die restlichen Tabletten weg. Ich schaue die silbrig glänzenden Streifen an, mit den einzeln verschweißten kleinen Pillen. Ganz unschuldig sehen sie aus, so sauber und weiß, dass man gar nicht darüber nachdenkt, was in ihnen steckt.

    Seit mehr als zehn Jahren habe ich die Dinger allabendlich geschluckt. Als einfache Gleichung: eine Pille, keine Kinder, Freiheit und Unabhängigkeit, bis die Zeit stimmen würde. Mehr Gedanken habe ich mir darum nicht gemacht. Ich stopfe die Packung in den Mülleimer und knalle den Deckel zu. Schluss damit. Ich will wieder ich selbst sein, bitte, lass mich wieder ich selbst sein.

    Bis eines Morgens die Sonne nicht aufging. Kein warmer Schein kitzelte ihr Gesicht, um sie zu wecken. Nur graues Zwielicht kroch in die Räume und in den Ecken kauerten Schatten wie dunkle Tiere. Die Schatten lauerten. Belauerten sie. Stumm, dumpf und brütend hockten sie in jedem Zimmer, und wuchsen. Bedrückung und Beklommenheit dünstete aus ihren Poren, kroch in ihr Herz. Sie war voller Furcht. Sie sehnte sich nach Gesellschaft, nach Licht und Wärme. Sie irrte durch ihre Zimmer und entdeckte schließlich den Zugang zu einer neuen Kammer. Aus schwarzem Holz mit goldenen Beschlägen, schmal und geheimnisvoll. Sie wollte die Tür öffnen, doch von der Klinke ging Eiseskälte aus, Eiseskälte und eine wispernde Verlockung. Sie fürchtete sich vor dem, was sich dahinter verbergen würde.

    Es wurde kälter im Haus, die Schatten wurden dichter. Ihre Einsamkeit wurde größer. Ihr Herz schmerzte, die Sehnsucht nach Licht presste ihr die Luft aus den Lungen, sie schluchzte. Sie war so einsam und endlich berührte sie die Türklinke.

    Eine kleine Hand legte sich auf die ihre. Eine kühle Hand, winzig und ein wenig feucht. Neben ihr atmete jemand, etwas, doch sie erschrak nicht. Ein kleines Wesen drückte mit ihr die Tür auf, betrat den Raum und verbarg seinen Kopf zutraulich in ihren Röcken. Die Haut des Wesens war schuppig wie die eines Fisches, sein Haar war feucht und weich.

    ICH I.

    ES FUNKTIONIERT. Ich gehe noch ein paar Mal zur Therapie und nach wenigen Wochen ist das Loch unter meinem linken Schlüsselbein verschwunden. Stattdessen – ich finde keinen besseren Ausdruck – geht in meinem Kopf die Sonne auf. Ich bin voller Energie, ich möchte nur noch Tanzschritte machen, und mein Himmel ist Tag und Nacht blau. Ich kann mich über alles freuen – ein Leseexemplar von einer langersehnten Neuerscheinung, eine Einladung zu einem Rockkonzert, den ersten warmen Tag des Jahres.

    Nach der Arbeit gehe ich nicht mehr nach Hause und ins Bett. Ich verabrede mich mit Jana oder anderen Freundinnen. Am Wochenende gehe ich mit ihnen aus, auf Lesungen, in Ausstellungen für Fotografie. Ich treffe mich mit Kollegen zum Spazieren in Parks, wir stöbern uns durch Flohmärkte oder sitzen mit der Sonnenbrille auf der Nase vor neueröffneten Cafés. Ich grille im Teltower Park, tanze auf Open Air Festivals auf dem Flughafengelände in Tempelhof und komme nachts spät nach Hause.

    Ich frage dich nicht, ob du mitkommst. Ich gehe allein.

    Warum? Darüber mache ich mir nicht viele Gedanken. Ich frage dich einfach nicht, weil ich kein Bedürfnis habe, dich an meiner Seite zu haben. Ich komme und gehe, ohne mich mit dir abzustimmen. Und ich genieße es, wenn mir ein Fremder bei einer zufälligen Begegnung schöne Augen macht. Ich gehe nicht fremd, auch daran denke ich nicht,

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