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Gut Nass
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eBook465 Seiten6 Stunden

Gut Nass

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Über dieses E-Book

"Gut Nass" erzählt die tragikomische Geschichte des Endzwanzigers Felix "Flex" Freiwaldt, der im Forstbad, dem gemeindeeigenen Schwimmbad des Heideörtchens Schweigen, als Bademeister arbeitet. Oder Schwimmmeister, wie die korrekte Bezeichnung lautet, aber Flex nimmt es damit nicht so genau, hat er diesen Beruf doch lediglich ergriffen, um die Zeit möglichst locker herumzukriegen und gemütlich im öffentlichen Dienst ein bisschen Geld zu verdienen. Sehr zur Enttäuschung seines Vaters, der als erfolgreicher Werbetexter in Singapur lebt und sich eigentlich für seinen einzigen Sohn einen ähnlichen Lebensweg erhofft hatte.

Als Flex eines Tages wider Willen die Karriereleiter hinauffällt und im Zuge der Privatisierung seines Schwimmbades zum Betriebsleiter ernannt wird, endet sein beschauliches Dasein. Seite an Seite mit seinen besten Freunden Meredith und Caruso taumelt Flex durch eine Welt aus dörflicher Widerstandskultur, knallharten Businessintrigen und verkorksten zwischenmenschlichen Beziehungen und kämpft dabei um die zerbrochene Liebe zu seiner Freundin, Maike.

"Gut Nass" behandelt neben Themen wie Privatisierung, provinzpolitischen Machtspielen und Wutbürgertum vor allem die destruktive Wirkung des Ungesagten, des Verheimlichten. Denn ob es die Liebe zwischen Flex und Maike ist, die kaputte Beziehung zu seinem Vater oder das intransparente, größenwahnsinnige Projekt der Umwandlung des Forstbades in die gigantische Freizeitwelt Utopia Forest – alles droht am Unausgesprochen zu scheitern und an der Unfähigkeit oder dem Unwillen, einander zuzuhören.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum11. Okt. 2015
ISBN9783738042719
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    Buchvorschau

    Gut Nass - Ulf Imwiehe

    Montag: Evolution

    Ich weiß alles. Ich komm nur meistens nicht drauf.

    »Tot?«

    Ich verspüre abwechselnd den Drang, zu lachen, zu husten, vielleicht fassungslos den Kopf zu schütteln. Etwas Angemessenes. Ich tue nichts von alledem. Stattdessen suche ich nach der Pointe, nach irgendetwas Verräterischem in Bürgermeister Marthers Verhalten, diesem freundlichen, verlegenen Säugling. So ein treues Gesicht, alles rund und sanft und glatt. So weiches, bleiches Haar, ganz fein und luftig und doch immer streng gescheitelt. Man will es streicheln, dieses Haar, sich drin vergraben und Schutz suchen. Es ist das einzig sirenenhafte an diesem nüchternen Mann, diesem hochprofessionellen Verwalter, der stets den Tränen nah scheint.

    Er nickt gewichtig.

    »Gestern. Stromschlag. Zack! Beim Heimwerken, wenn ich das richtig verstanden habe. Auf jeden Fall ist es wohl bei ihm zu Hause passiert. Ganz genau weiß ich das nicht, hab auch erst heute morgen davon erfahren. War ja noch ganz hysterisch, seine Frau...«

    »Witwe«, unterbricht ihn Tante Heidi, die jeder so nennt, natürlich nur hinter ihrem Rücken oder, offen, auf Betriebsausflügen und dergleichen, unter dem Schutz der Promille. Sie ist es, die mich vor einer Stunde angerufen und zum außerordentlichen Krisengespräch ins Rathaus bestellt hat. An meinem ersten freien Tag seit zwei Wochen! Selbstverständlich, ohne mir zu verraten, worum es eigentlich geht, so wie es ihr Prinzip ist. Wer auch immer diese Frau vor, wie sie gerne betont, fast zwanzig Jahren zur Personalchefin der Gemeinde Schweigen gemacht hat, war entweder mit ihr verwandt, total verzweifelt oder hatte einen diabolischen Humor.

    »Natürlich, Frau Sarge-Albenbrecht, natürlich. Witwe.«

    Bürgermeister Marther fummelt an seiner Krawatte herum, die sich mit seinem üblichen Sherlock-Holmes-haften Sakko zu einem farbarmen Einsatzanzug vereint. Beige-graue Dezenz, die auch sein Büro bestimmt, seinen akkurat aufgeräumten Schreibtisch mit dem Panoramafenster im Rücken, das über den winzigen, spätsommerlichen Schweigener Bürgerpark hinausblickt, dahinter rostziegelig und von Chromadern durchwirkt, die Gebäude von Schlüters Schokoladenfabrik, Keimzelle und Herz des Ortes. Die Touristen lieben diesen Geruch, der Tag und Nacht über Schweigen liegt. Weihnachtsbäckerei. Fett. Trost. Und überall Wald. Wald, Wald, Wald.

    »Ja, äh, und jetzt?«

    Ich war schon eloquenter, zugegeben, aber meine Frage muss wohl irgendetwas auslösen. Tante Heidi zuckt auf ihrem Stuhl neben mir zusammen, reißt sich die Brille herunter und kaut auf dem Bügel herum, als wäre sie plötzlich dem Hungertod nahe. Sie starrt mich an, knabbert, nuckelt und gibt kaum wahrnehmbare frierende Laute von sich, wie eine Grippekranke, die sich in den Schlaf schluchzt. Sie wechselt einen Blick mit Bürgermeister Marther, der nervös die Maus seines PCs hin und her schubst. Durch die Tür zum Vorzimmer von Bürgermeister Marthers Büro höre ich gedämpfte Stimmen, gefolgt vom Gelächter seiner Sekretärin. Ich komme mir ein wenig grotesk vor, in meinen schlotterigen Sportklamotten, aber was holen die mich auch direkt vom Fahrrad hierher?

    »Wir haben uns gedacht...«, sagt Bürgermeister Marther.

    »Im Angesicht der...«, sagt Tante Heidi.

    Höfliches Gegrinse. Bürgermeister Marther weist ein wenig gönnerhaft und irgendwie sehr erleichtert wirkend auf Tante Heidi, die sich entschlossen die Brille wieder aufsetzt.

    »Im Angesicht der Tragödie, die uns alle so unvorbereitet getroffen hat, erkennen wir, also Herr Bürgermeister Marther und ich, aber ich denke, ich spreche auch für die Gemeinde Schweigen an sich, bei allem Schmerz, die Notwendigkeit, zusammenzuhalten und ein gemeinsames Ziel im Blick zu haben. Eine Herausforderung. Jeder Rückschlag, ist eine Herausforderung.«

    Oha, jetzt läuft sie sich warm.

    »Weißt du, Felix, wenn es eines gibt, dass ich in all meinen Dienstjahren gelernt habe, und ich habe einiges erlebt und gesehen, kann ich dir sagen, also, wenn ich eines gelernt habe, dann das: Manchmal wird ein Kapitel im Buch des Lebens aufgeschlagen, das man nicht sofort versteht. Weil man es nicht lesen kann, weil einem die Vokabeln fehlen oder was weiß ich, ist ja auch egal. Also, Rätsel. Kann man ruhig davor stehen wie der, wie geht denn noch diese Sprichwort da, das mit dem Ochsen...? Jedenfalls darf man auch mal sagen, ich verstehe das nicht. Ist doch keine Schande! Wer weiß schon alles? Eben, keiner! Aber man muss den Mut haben, zu fragen. Oder aber wissen, wo das Wörterbuch steht. Das Lexikon. Oder ihr jungen Leute heute mit eurem Wiki-Dings und Google und wie das alles heißt. Ist doch alles da! Alles, was einem mitgegeben wird, zum Beispiel in der Berufsausbildung, das muss man als Rüstzeug begreifen, als Fundus, vor allem für die Momente, wenn es eng wird, kniffelig...«

    »Um es kurz zu machen, Herr Freiwaldt«, fällt Bürgermeister Marther ihr ins Wort und vergisst wie jedes Mal, wenn er ungeduldig wird, das R zu rollen. Vielleicht fragt er sich gerade, wie ich auch, ob Tante Heidi langsam senil wird. »Also, um es sozusagen auf den Punkt zu bringen, es ist so, dass Frau Sarge-Albenbrecht und ich beschlossen haben, sie mit sofortiger Wirkung zum Betriebsleiter des Forstbades zu ernennen. Als Nachfolger von Herrn Klamm.«

    Ich starre ihn an. Starre über seine Schulter in den Schweigener Himmel. Starre in Tante Heidis Milde. Brennt da was in meinem Bauch?

    »Ja, aber, dienstältester Schwimmmeister ist doch Herr Teller. Ich meine, ist das nicht ein bisschen überstürzt?«

    Tante Heidi nimmt die Brille ab und sieht mich ich an, als wäre ich irgendsoein misshandeltes Wesen aus einer dieser schlechten Reality-Shows. So ein ruiniertes Ding, das sie liebend gern aus seinem Elend heraus adoptieren würde, aber, ach, die Umstände, die Finanzen, die Vernunft.

    »Felix«, sagt sie und mir fällt auf, dass Tante Heidi, abgesehen von Maike und dem Mann, aber an den will ich jetzt besser nicht denken (zu spät!), die einzige Person in ganz Schweigen ist, die mich bei meinem richtigen Vornamen nennt. »Hör mal, Felix. Jetzt hör mal zu. Ich kann gut verstehen, dass dich Hans-Herrmanns Tod belastet. Sieh uns doch an! Uns geht’s doch nicht anders. Schrecklich, ganz furchtbar. Und seine arme Frau erst.«

    »Witwe«, sagt Bürgermeister Marther. Tante Heidi blinzelt, nuckelt, Bürgermeister Marther beugt sich vor, fixiert mich und faltet die Hände auf seinem Schreibtisch. Komisch, mir ist noch nie aufgefallen, dass er einen Ehering trägt.

    »Witwe«, seufzt Tante Heidi. »Natürlich. Wie auch immer. Also, Felix, ich finde es, wie gesagt, ganz, ganz toll von dir, dass du selbst in dieser traurigen Stunde als erstes an deine Kollegen denkst. Und ja, sicher, Walter ist dienstältester Schwimmmeister, stimmt, stimmt. Aber mach dir da bitte überhaupt gar keine Sorgen, Felix. Das ist alles geklärt. Walter ist ein ganz, ganz lieber Kerl und hat Fachwissen. Alte Schule, unser Walter. Aber Betriebsleiter? Nee, nee, Felix, das sehe ich nicht. Für den ist ja der Badegast noch immer der Feind, ums mal so zu sagen. Also, Bürgermeister Marther und ich haben uns das gründlich überlegt und Walter wird das hundertprozentig verstehen und der Betriebsrat kann da gar nichts machen. Und wozu auch?«

    Klingt ernst. Na ja, war einen Versuch wert.

    »Außerdem fungieren Sie ja nun auch schon bald vier Jahre als Stellvertreter für Herrn Klamm«, gibt sich Bürgermeister Marther sonor. Das R rollt wieder. In einer anderen Situation würde mich das direkt beruhigen. »Und ganz unerfahren sind sie ja nun beileibe nicht, kennen das Bad in- und auswendig seit ihrer Ausbildung bei uns, haben immer Einsatz gezeigt, auch, wenn es mal eng wurde.«

    Gibt es in diesem Saftladen denn Zeiten, in denen es mal nicht eng ist? Tante Heidi, frisch bebrillt und beruhigt, lehnt sich zurück und schlägt die Beine übereinander. Das Kunstlederpolster ihres Stuhls faucht.

    »Mein Motto war ja seit jeher, in all meinen Jahren hier, dass man dem Nachwuchs eine Chance geben muss. Ausbilden zur Verantwortung, sage ich immer. Dass es dann mal so über Nacht so weit kommt und noch dazu unter so fürchterlichen Umständen, konnte natürlich keiner ahnen. Aber, Felix, ich kenne dich seit Anfang an, das sind jetzt, acht, neun Jahre? Also, ich kenne dich doch und glaub mir, ich spreche jetzt nicht als Personalchefin... also natürlich tue ich das, aber eben nicht nur, sondern als Mensch und Bürgerin der Gemeinde Schweigen und, ja, auch als eine Art Freundin: Du bist der Richtige. Das Bad braucht dich. Die Gemeinde braucht dich.«

    Beide beugen sich in mich rein, Bürgermeister Marther und Tante Heidi. Warten. Gucken. Diese beiden Überbringer großer Gaben, wie sie sich quälen in den schrecklichsten Sekunden nach der Bescherung.

    »Und?« fragt Bürgermeister Marther.

    »Was meinst du?« fragt Tante Heidi.

    Ich atme vor mich hin. Tja, Tante Heidi, was meine ich? Dass ihr euch euer Gerede von Verantwortung und Zusammenhalt mal schön in die Tasche stecken könnt, weil ich eigentlich nur Schwimmmeister aus Gewohnheit bin und auf so einen Badleitungsquatsch pfeife? Dass ich hängen geblieben bin, was weiß ich denn, aus Protest vielleicht, mich aber dran gewöhnt habe und es mitunter sogar genieße, in der Aufsicht zu hocken und zu lesen, wenn nichts los ist? Dass ich sonst nicht ganz viel habe und nur deswegen solchen, wie ihr es nennt, Einsatz zeige, weil wir mal wieder völlig unterbesetzt sind und ich die Kollegen nicht hängen lassen will und kann? Weil ich dem Mann, obwohl er schon lange weg ist, meistens jedenfalls, auch nach all den Jahren immer noch beweisen muss, dass er keine Macht über mich hat? Oder vielleicht, dass er mir einfach leicht fällt, dieser Job, egal, wie ich es eigentlich hasse, ständig müde zu sein, wegen der bescheuerten Arbeitszeiten und der andauernden Selbstüberwindung, die von allem noch am meisten Kraft kostet. Dabeizubleiben. Sicher, sicher, manchmal ist es ja auch ganz lustig, Tante Heidi, manchmal ist man sogar ein wenig stolz. Wenn man etwa jemanden das Schwimmen beigebracht hat, der bis zu seinem siebzigsten Lebensjahr panische Angst vor Wasser hatte und jetzt zu einem der treusten Frühschwimmer zählt (was allerdings auch wieder nervt...!)? Wenn man an einem Sonntagnachmittag im August, wenn die Schwimmhalle geschlossen ist, über den total überfüllten Freidbadteil blickt und weiß, man hat es im Griff, das Team ist wach und stark und man unaufhörlich rennt und Köpfe zählt und der Geruch der in der Hitze backenden Kiefern und Eichen sich mit Fritteusenfett und ausgetragenem, am Beckenrand nie ganz trocknendem Wasser zu diesem typischen Forstbadaroma vermischt. Dieser Duft, der dich daran erinnert, wo du hingehörst und wo du morgen wieder sein wirst, denn wer soll es denn sonst machen? Und man steht in der triefenden Menge neben dem Aufgangsturm zur Speedrutsche, wie ein in geheimen Ritualen gesalbter Hohepriester der Sonnengottheit am Fuße eines bonbonfarbenen ägyptischen Obelisken, und sorgt für Ruhe und Ordnung, weist Plätze und Reihenfolgen zu, tröstet und straft, ist hilflos, wenn man aus sich heraus steigt und auf sein Leben blickt, in diesem Moment und doch auch ruhig und sicher, denn das hier, so absurd es einem dann auch scheinen mag, ist jetzt gerade einmal wichtig und unersetzlich und alles so zerbrechlich. Soll ich dir sagen, Tante Heidi, dass ich gar nicht weiß, ob ich das Zeug zum Badleiter habe und das Leben in der zweiten Reihe bevorzuge, wenn ich schon wählen muss? Dass ich genau in diesem Moment, ach, eigentlich immer, fast überall lieber wäre als hier und jetzt? Und wieso bietet einem hier eigentlich keiner einen Kaffe an oder sonst was zu trinken?

    »Kriegen wir hin«, sage ich. Es muss die Gefallsucht sein. Flex, du Idiot!

    Bei Schlüters geht irgendein Signal. Nochmal, feierlich. Vielleicht Schichtwechsel. Vielleicht wird gerade eine besonders edle Rezeptur durch die Rohrleitungen gepresst oder wie immer auch das da funktioniert.

    Bürgermeister Marther lehnt sich glücklich schimmernd zurück und legt die Handflächen aneinander, wie zum Gebet. Obwohl, grüßen sich so nicht auch die Kampfsportler bevor sie einander zerkloppen?

    »Sehen Sie, Frau Sarge-Albenbrecht?« sagt er. »Sehen Sie? Ich habe doch gesagt, dass unser Herr Freiwaldt genau der richtige Mann ist.«

    »Daran habe ich keinen Moment gezweifelt. Keinen! Einzigen! Moment!«

    Tante Heidi neigt sich zu mir herüber und krallt sich sanft in meinen Unterarm. Ihr Atem riecht nach Erdbeeren und kaltem Zigarettenrauch. Ich blinzele auf ihre Hand. In ihr Gesicht. Blinzele in Bürgermeister Marthers Gesicht und schreie nach innen. Wieso muss ich immer wieder so sein? Mein Mund klebt. Mein Rachen brennt. Ich müsste jetzt wohl was sagen. Stattdessen grinse ich dämlich. Bürgermeister Marthers Erleichterung schlägt um in professionelle Entschlossenheit. Er greift einen Stapel Papiere, die militärisch exakt neben seinem Computerbildschirm gestapelt sind und blättert darin herum.

    »Hmmm. Hmmm.«

    »Letzte Seite«, sagt Tante Heidi.

    »Aber ja, aber ja«, murmelt Bürgermeister Marther und griffelt sich durch die Akte, meine Personalakte, wie ich mal vermute. Ist das jetzt gut oder eher grauenvoll?

    »Ah, ja. Also, Herr Freiwaldt, da ist natürlich noch die Sache mit der Bezahlung.«

    Grauenvoll, definitiv.

    »Also, kurz gesagt, wir können Ihnen aufgrund ihrer Berufserfahrung, die wir rein qualitativ natürlich als enorm betrachten, Herr Freiwaldt, bitte verstehen Sie mich da richtig! Und da spielt es gar keine Rolle, dass Sie noch keine Meisterprüfung abgelegt haben. Das ist ja nicht mehr bindend, als Badleiter muss man ja nicht mehr zwingend, wie früher, den Meister... wie heißt das noch?«

    »Meister für Bäderbetriebe«, hilft Tante Heidi.

    »Genau, genau. Das geht ja auch als ganz normaler Schwimmmeister, oder Fachangestellter für Bäderbetriebe heißt das ja jetzt, so viel Zeit muss sein.«

    Mir doch egal, wie das einer nennt. Schwimmmeister geht immer. Im Gegensatz zu vielen eher mimosenhaften Kollegen habe ich auch kein Problem mit dem irgendwo zwischen Hohn und Neid schwankenden Ehrentitel Bademeister. Da weiß man doch worum's geht!

    Bürgermeister Marther griffelt. »Also, kurz gesagt, steht da laut Tarifvertrag für sie noch kein weiterer Bewährungsaufstieg an, der letzte ist ja auch noch nicht solange her.«

    Und war eher symbolischer Natur, aber ich will mal nicht jammern.

    »Ich denke aber mal, dass die Verantwortung, die Sie bereit sind, zu übernehmen in Kombination mit der Größe des Bades, also des Personals, jetzt, der Mitarbeiter, meine ich – das sollte auf jeden Fall über eine Art Funktionszulage zu regeln sein. Das muss ja honoriert werden! Frau Sarge-Albenbrecht wird da die Tage mal in Ruhe drauf gucken, was da rauszuholen ist, zu beiderseitiger Zufriedenheit. Die kleinste Geige spielt ja immer noch die schönste Musik, nicht wahr?«

    Er reibt mehrmals Daumen und Zeigefinger der rechten Hand aneinander und freut sich rührend unschuldig über seinen kleinen Witz. Ich gluckse höflich. Tante Heidis Stuhl faucht. Sie räuspert sich.

    »Da wird auf jeden Fall was zu machen sein«, sagt sie fest. »Als Hans-Herrmann Klamm damals die Leitung vom alten Leyendieck übernommen hat, lief das ähnlich. Gut, der hatte den Meister aber ist ja lange her. Mensch, Mensch. Das waren zwar andere Zeiten, aber in Angesicht deiner besonderen Situation... Das muss man ja berücksichtigen, dass du jetzt nicht nur die klassischen Betriebsleiteraufgaben übernimmst. Das ist ja doch ein bisschen, äh, äh, anspruchsvoller, was da noch so auf dich und auf uns alle zukommt.«

    Sie blickt hilflos zu Bürgermeister Marther hinüber, der einen geheimnisvollen synkopischen Rhythmus auf dem Deckblatt meiner Akte trommelt und dabei die Wangen einsaugt und aufbläht. Moment mal, das gefällt mir nicht. Da kommt doch noch was. Das war so klar. Ich Arsch...

    »Was da auf noch so auf mich zukommt?« quake ich. »Besondere Situation?«

    Wir glotzen im Dreieck, wie die Käuzchen im Vogelpark, immer hin und her rucken die Köpfe.

    »Besondere? Situation? Also noch besonderer als von heute auf morgen meinen verstorbenen Chef zu ersetzen?«

    Irgendwo im Vorzimmer oder auf dem Flur spielt ein Handy das Telekom-Jingle. Wer hat denn sowas noch? Bürgermeister Marther versucht mich anscheinend zu hypnotisieren, während Tante Heidi, vom Brillennuckelimpuls gepackt, tapfer ihre epileptisch Richtung Gesicht und zurück zuckende Hand unter Kontrolle bringt. Die kleine Flamme in meinem Bauch wandert Richtung Brust.

    »Kann mir bitte mal jemand auf die Sprünge helfen?«

    Wieder leises Gelächter von draußen. Was ist denn hier so amüsant? Hier ist ein Mensch gestorben, verdammt!

    Bürgermeister Marther stößt sich mitsamt Drehstuhl von seinem Schreibtisch ab, fast angewidert, mit einem Schwung, dass er fast an die Panoramascheibe hinter sich anstößt, stützt die Ellenbogen auf die Knie und massiert sein Gesicht faltig, mit einer Inbrunst, die mir Sorgen bereitet. Ich kannte mal einen, der hatte einen dieser furchtbar knitterigen Tempelhunde oder wie die heißen. Sah ganz ähnlich aus. Das Vieh hatte aber deutlich weniger Kummer, als der kleine weiche Mann, der, hinter sich das Schweigener Postkartenidyll inklusive Schlüterscher Lebensader und Gründermythos, gerade die Hände in seine Stirn gräbt. Ja, will der sich denn gleich die Augen aus dem Kopf reißen? Tante Heidis Stuhl hört gar nicht mehr auf zu fauchen.

    »Ja, Felix«, sagt sie, nein, würgt sie fast. »Ja. Ja. Da ist noch was. Das ist wie, wie...«

    Sie blinzelt glänzend um sich herum. Zitterbacken. Die nächste Stufe nach Brillennuckeln, au weia. Bürgermeister Marther wippt mit zurückgelehntem Kopf in seinem Stuhl und dreht sich sachte Richtung Schweigen zu und zurück, mir sein Profil zugewandt.

    »Um es kurz zu machen, Herr Freiwaldt. Die Sache ist intensiv aber überschaubar«, nuschelt er so leise, ich hör ihn fast so schlecht wie ich ihn verstehe.

    »Das Buch des Lebens!« fuchtelt Tante Heidi.

    Was hat sie bloß mit dieser bescheuerten Platitude?

    »Das ist genauso, wie das, was ich vorhin meinte, mit dem Buch des Lebens. Dass wir nicht immer sofort begreifen können, was da drin steht und so weiter. Für uns alle hier, also für Bürgermeister Marther und mich und dich und für ganz Schweigen... Nicht nur das Forstbad, Felix, ganz Schweigen! Also, wie gesagt, für uns alle beginnt jetzt nämlich ein ganz neues, aufregendes Kapitel. Und manchmal, du weißt das bestimmt, du liest doch immer so viel, manchmal kriegt man die dollsten Gedanken bei sowas. Neues! Unbekanntes! Das ist ja ganz natürlich, dass einem das unheimlich ist. Das ist doch keine Schande. Mensch, Mensch, wie soll das bloß gutgehen und was man da nicht alles so denkt... Wie auch immer, wichtig ist, dass man nicht allein ist und an einem Strang zieht und, dass man weiß was man kann. Vertrauen! Und Mut muss man haben, dann schafft man alles. Und, dass man die Chance erkennt, die...«

    Bürgermeister Marther gibt eine Mischung aus Knurren und verzweifelt gähnendem Schmerzensschrei von sich, rollt sich bis ganz dicht an seinen Schreibtisch heran und faltet die Hände. Die linke Hand dreht wie ein Automat den Ehering an der Rechten.

    »Im Grunde ist es ganz einfach zu erklären, Herr Freiwaldt«, stöhnt er, sammelt sich kurz, strafft seinen runden Rumpf und blickt mir ins Gesicht. Etwas breiig und viskos. Zementen.

    »Mit Wirkung zum 31.12. dieses Jahres, wird das Forstbad Schweigen aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen.«

    Was machen die mit mir? Was zum Teufel machen die bloß immer alle mit mir? Als wenn man sich nach Jahren der Flugangst endlich zu seinem ersten Fallschirmsprung durchringt und kurz bevor man im Freifall die Leine reißen will von einem Klotz verglühenden Weltraumschrotts erschlagen wird. Oder schartige Blöcke gefrorener Pisse aus dem Billigfliegerbordklo. Hört man ja immer wieder, sowas. Jetzt mal ganz ruhig, Flex, ganz kalt. Erstmal Fakten.

    »Heißt das...«, beginne ich und täusche ein Räuspern vor, als ich merke, dass ich fast schon schreie. »Ich meine, verstehe ich das hier gerade richtig, Sie wollen mich, na ja, wie soll ich sagen, befördern, nur um mich dann in ein paar Monaten zu feuern? Und, und, und... was heißt denn überhaupt schließen? Aus wirtschaftlichen Gründen? Pleite? Zu? Richtig zu?«

    Tante Heidi grabbelt vor sich in der Luft herum, knetet den Saum ihrer Kostümjacke, schnaubt und prustet. Schnappatmung droht und somit Stufe drei nach Backenzittern und Brillennuckeln. Ihr Erdbeer-Tabakatem weht zu mir herüber, legt sich kurz auf mein Gesicht, auf meinen Hals, ebbt ab wie ein verfaulender Sommerabend. Bürgermeister Marther indes, hat endgültig die Contenance zurückgewonnen und lehnt sich in grauer Gelassenheit zurück. Seine Hände falten sich auf. Fast möchte ich meinen Kopf hineinlegen und ein wenig ausruhen.

    »Nein, nein, nein, Herr Freiwaldt!« beschwört er und flattert ein wenig herum. Ein Dirigent, der die Stille bevorzugt. »Da habe ich mich vielleicht ein wenig missverständlich ausgedrückt. Machen Sie sich bitte überhaupt keine Sorgen. Überhaupt keine! Also, kurz gesagt, heißt Schließung in diesem Fall nicht Schließung. Eher so etwas wie, wie...«

    »Übergang«, schlägt Tante Heidi vor, merklich um Enthusiasmus ringend.

    »Genau, Frau Sarge-Albenbrecht. Übergang, so kann man das nennen. Oder, noch besser, Entwicklung! Evolution! Und Sie, lieber Herr Freiwaldt, Sie und wir alle dürfen aktiv daran mitwirken. Gestalten, Zukunft gestalten, dass drückt es vielleicht am präzisesten aus.«

    Ich überlege, wie ich höflich zum Ausdruck bringen kann, dass in diesem Raum offensichtlich gänzlich unterschiedliche Vorstellungen von Präzision miteinander kollidieren und sage dann doch lieber nichts. Bürgermeister Marther beugt sich verschwörerisch vor.

    »Wie Sie ja sicher mitbekommen haben, Herr Freiwaldt, ist es für einen öffentlichen Betreiber wie uns, also einer Kommune von doch eher, äh, äh, vergleichsweise überschaubarer Größe, wie es Schweigen nun einmal ist, nahezu unmöglich, un-mög-lich, Herr Freiwaldt, ein dermaßen, tja, üppiges, ach was, überdimensioniertes Bäderangebot auf Dauer wirtschaftlich zu betreiben. Da müsste man ja, um auch nur die laufenden Kosten zu decken, zwanzig, dreißig Euro Eintritt nehmen.«

    Aus seiner kleinen Faust ragt dick ein Finger und zersticht die Luft.

    »Da muss man ja mal ganz realistisch sein. So ein Kombibad wie das Forstbad, keine sechstausend Einwohner, dazu die Konkurrenz durch das Waldbad in Bomlitz, die Soltau-Therme, die bauen da ja wohl im großen Stil um, im ganz großen Stil, will ich meinen, und dieses Spaßbad in Rotenburg, die graben uns ja doch mächtig potenzielle Gäste aus dem Umland ab. Wie heißt das noch, das Ding da in Rotenburg...?«

    »Ronolulu«, krächze ich.

    »Genau!« jubelt er fast. »Ronolulu, was ist das eigentlich für ein selten dämlicher Name? Also, um es kurz zu machen, Herr Freiwaldt, wir sind an einem Punkt angekommen, an dem wir, das haben Sie ja sicher in Ihrer täglichen Arbeit schon längst bemerkt, dringend investieren müssen, um den Wert des Bades zu erhalten. Und ich sage es hier mal ganz offen, dieses Geld haben wir einfach nicht. Man muss ja nur mal in die Zeitung gucken. Nachrichten! Krise, Krise, Krise und am dreckigsten geht’s den Kommunen.«

    Er neigt sich leicht zur Seite und weist vage in Richtung Schlüter hinter sich.

    »Und wir stehen noch vergleichsweise gut da, mit einem potenten Steuerzahler wie Schlüter im Gemeindegebiet.«

    Tante Heidi macht zustimmende ho-ho Geräusche und faucht und zischt ein wenig mit ihrem Sitzpolster. Bürgermeister Marther nickt ihr zu, nickt mir zu und lodert schamanenhaft vor Eifer.

    »Aber man muss doch einfach mal den Tatsachen in die Augen sehen, Herr Freiwaldt. Es ist eben nicht mehr wie es mal war. Die Kassen sind knapp, das Bad ist alt, vor allem die Technik ist ja teilweise fast schon antik. Das ist doch, wollen wir doch mal ehrlich sein, fast schon ein Wunder, dass die ganze Kiste überhaupt noch läuft.«

    »Obwohl es natürlich ganz ganz toll ist, was das Team dort leistet, um den Laden in Schwung zu halten, dass wollen wir bitte nicht vergessen, Bürgermeister Marther. Investitionsstau hin oder her«, tadelt Tante Heidi verspielt pflichtschuldig. Sie lächelt im Raum herum. Ich glaube ich auch.

    »Natürlich, natürlich, Frau Sarge-Albenbrecht«, ruft Bürgermeister Marther. »Ja also, wie auch immer, kurz gesagt, geht es darum, dass wir Geld in die Hand nehmen müssen, oder der Hammer fällt. Licht aus, Wasser raus sozusagen. Dieses Geld haben wir aber nicht. Jedenfalls nicht in solch exorbitanter Höhe. Und selbst wenn wir es hätten und alles auf den neusten Stand bringen würden, fehlt mir ehrlich gesagt die Fantasie, mir vorzustellen, wie wir, als Kommune, also, als kleine Gemeinde, das Forstbad zu den jetzigen Konditionen weiterbetreiben könnten, ohne ein, ein, ein... monströses Defizit einzufahren, das uns in den Ruin treibt. Ruin, Herr Freiwaldt, nicht übertrieben!«

    Ich hebe die Hände und bemerke zu meinem Entsetzen, wie meine Finger hilflos flehend stumm vor sich hin stammeln.

    »Und deswegen wird das Bad geschlossen?« Aus mir wird vielleicht doch noch einmal ein großer Kriminalist. Das wär ja ein Ding.

    Bürgermeister Marther sieht aus, als wolle er jeden Moment aus seinem Drehstuhl heraus auf den Schreibtisch springen und sein Jacket durchs Büro schleudern. Er pulsiert triumphal.

    »Nein, Herr Freiwaldt. Deswegen haben wir einen Investor gesucht, der das Forstbad übernimmt, modernisiert und betreibt und, ich muss gestehen, ich bin da sehr erleichtert drüber, wir haben einen gefunden.«

    »Evolution«, sagt Tante Heidi.

    »So ist es«, sagt Bürgermeister Marther. »Evolution.«

    Karge Steppe in meinem Kopf. Gerippe trocknen unter Eisenhimmeln.

    »Ja, und was ist mit dem Personal?« frage ich. »Die Arbeitsverhältnisse? Werden die dann aufgelöst oder wie muss man das verstehen? Ich meine, da gibt’s doch Verträge...«

    »Herr Freiwaldt!«

    »Felix!«

    Bürgermeister Marther sieht mich an als hätte ich den großartigsten unanständigen Witz gerissen, den er je gehört hat während Tante Heidi offenbar kurz davor ist, mich an sich zu drücken und sachte zu beklopfen.

    »Nein, nein, Felix, was denkst du denn?«

    Wenn ich das jetzt sage, hat sich nicht nur die Sache mit dieser ominösen Betriebsleitergeschichte erledigt, ich werde wohl auch noch ins Exil gehen müssen, um mich je wieder sicher zu fühlen auf der Straße.

    »Herr Freiwaldt,« pastoralt Bürgermeister Marther und formt einen Spitzgiebel mit seinen Händen, sein Mund als rosa Wetterhahn. »Ich kann sehr gut verstehen, dass sich das alles für Sie erst einmal ein wenig verwirrend anhört. Das ist doch auch nicht mal eben so, diese... Veränderung. Entwicklung. Aber bitte, ich bitte Sie Herr Freiwaldt, machen Sie sich keine Sorgen. Überhaupt keine! Das Bad verschwindet doch nicht vom Erdboden, das wird doch weiter betrieben, nur eben unter neuer wirtschaftlicher Führung. Da fliegt doch keiner raus! Herr Freiwaldt! Die Gemeinde Schweigen arbeitet mit Nachdruck, Hochdruck, an einer ganz individuellen personellen Lösung, gemeinsam mit dem Investor und, glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass ich alles daran setzen werde, ich ganz persönlich, dass diese Sache so elegant über die Bühne geht, wie, wie... Kurz gesagt, ich verspreche Ihnen, das Personal wird noch einmal dankbar sein für diese Entwicklung.«

    Er neigt sich mir entgegen und blinzelt mich zielend an. Gleich schmeißt er mit Bonbons.

    »Stellen Sie sich vor, Herr Freiwaldt, ein ganz neues, hochmodernes Bad, auf dem topaktuellsten Stand der Schwimmbadtechnik, mit allem Schnickschnack, das ist doch mal eine Aufgabe für einen jungen Kerl wie Sie! Klingt das denn gar nicht spannend für Sie?«

    »Ähm, ja, also, doch, doch, natürlich. Sehr spannend klingt das für mich.« Ich will ein Roboter sein, servil und fremd im eigenen Handeln. »Allerdings muss ich gestehen, dass mir immer noch nicht ganz klar ist, was genau denn nun meine Aufgabe ist. Abgesehen von der Führung der Tagesgeschäfte bis zur Schließung...«

    »So! Erst einmal folgendes, Herr Freiwaldt«, unterbricht Bürgermeister Marther mich und wirft seichte Kerben um sein Kinn. »Können wir uns hier bitte mal darauf einigen, nicht mehr von einer Schließung zu sprechen. Ja? Das ist eine Neustrukturierung. So würde ich das mal nennen wollen. Ein enorm wichtiger und positiver Schritt für das Bad, die Gemeinde und, Herr Freiwaldt, nicht zuletzt für Sie. Zweitens: Ihre Aufgabe ist es natürlich, den Betrieb bis dahin weiterzuführen. Das wird angesichts der bevorstehenden Umwandlung...«

    »Und im Schatten der Tragödie... also einen so beliebten und erfahrenen Betriebsleiter zu verlieren und zu ersetzen, das ist ja auch eine ganz ganz große Herausforderung«, mahnt Tante Heidi, nimmt die Brille ab und hackt mit den Bügeln abwechselnd in meine und Bürgermeister Marthers Richtung. Klamm war beliebt? Das wird ja immer geheimnisvoller.

    »Ja, ja, Frau Sarge-Albenbrecht«, bollert Bürgermeister Marther. »Das auch, selbstverständlich. Aber ihre eigentliche Mission, also, was über die eigentliche Badleiterfunktion hinausgeht und weswegen wir uns niemanden anders als Sie für diese Position vorstellen können, Herr Freiwaldt, ist die enge Zusammenarbeit mit dem Investor. Mit dessen Vertreter, meine ich natürlich. Der muss sich ja ein dezidiertes Bild machen können. Evaluation, Situationsanalyse und alles was dazu gehört. Da sind Sie, neben den entsprechenden Stellen in Verwaltung, also vor allem auch Buchhaltung und Technik, unser Repräsentant. Als Fachmann vor Ort, kurz gesagt. Da braucht es Kompetenz, Drive und Kommunikationstalent, Herr Freiwaldt. Agilität!«

    Draußen im Park bellt ein Hund. Ein Mann schnauzt ihn an und der Hund bellt nur noch irrer. Ich beneide beide. Bürgermeister Marther hebt lustig die Brauen und sieht mich, leise mit den Fingern gegen seine Maus klickernd an. Tante Heidi putzt unsichtbare Verschmutzung von ihren Brillengläsern. Ich muss hier raus.

    »Ja, das ist doch mal was«, rufe ich. Ein euphorisierter Scheinriese. Ich strahle Bürgermeister Marther und Tante Heidi an, bis mir vom Grimassen schneiden das Gesicht wehtut und beide wirken, als seien sie kurz davor, den Champagner herauszuholen.

    Es folgt ein Stroboskopenmahlstrom von Händeschütteln, Schulterklopfen, mit hoher Dringlichkeit vorgetragenen Einschwörungen (»Aber noch kein Wort von der Übernahme des Bades, Herr Freiwaldt. Zu niemanden. Das ist noch streng geheim. Gemeinderat und Investor müssen noch einiges festklopfen und wir wollen doch keine unnötige Unruhe bei Personal und in der Öffentlichkeit auslösen, nicht wahr?«) und immer wieder Beschwichtigung. Dann im Jagdgallop mit Tante Heidi durchs Rathaus in die IT-Abteilung, hier unterschreiben, bittesehr, ein prima nagelneues iPhone, schwarz magst du doch so gerne, aber pass auf, dass dir das nicht so zerkratzt in deinem Rucksack, immer schön erreichbar sein, wichtig, wichtig, Emailkonto ist schon eingerichtet, das Gerät vom Klamm ist ja gegrillt, schrecklich, schrecklich, alles Gute im neuen Job, auf Wiedersehen und keine Sorge wegen dem Gehalt, Ergänzung zum Arbeitsvertrag ist schon so gut wie unterwegs, muss doch alles seine Ordnung haben. Und ich stehe draußen vor dem Rathaus in der Sonne, gar nicht übel, nicht zu heiß, blicke über den Bürgerpark, blicke zu Schlüter, den quallig schimmernden Altbauten davor, in denen bis zum Krieg die Werksverwaltung untergebracht war und die jetzt als Sozialwohnungen dienen, blicke die Straße zur anderen Seite hinauf, rechts hinter den Hecken bläht sich die Grundschule mit der wohl hässlichsten Turnhalle der gesamten Lüneburger Heide, weiter oben die Neubausiedlung, die älter ist als ich aber immer noch als neu gilt, dann dunkel wogend Tannen, Kiefern, Buchen, Eichen, und schließlich darin verborgen, wie eine Legende, das Forstbad.

    Alles sieht aus wie immer und doch ist alles grausam anders. Metallisch fremd. Gläsern hart und endgültig. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, worauf ich mich da eingelassen habe, nehme mir jedoch vor, diesen ganzen Irrsinn mit der größtmöglichen Gelassenheit als aufregend zu betrachten und schließe mein Fahrrad auf. Bewegung, Schweiß und Schmerz. Bloß raus aus meinem Kopf, was ist da bloß wieder los? Wildnis. Bloß raus aus diesem Nest.

    Ich springe aufs Rad, mein rettendes gleichgültiges schwarzes Prothesentier, gleite rechts die Straße hinunter, weg von Rathaus und Forstbad, quer durch den Park (zweimal Blinzeln), Schlüters Kalorien in die Luft sottendes Werksgebiet entlang, dann durch den Kreisverkehr, vorbei an Bibliothek, Sparkasse und Post, raus auf die Allee Richtung Bomlitz, zwei Kilometer Fahrradweg, dann rechts in Westerharl zum alten Friedhof, auf dem sich die Koniferen um eine einzige, greise Birke krümmen, und weiter, links, rechts, schaukelndes Fabrikgetreide, Wald, Dorfmark erhebt sich aus der dünstenden Senkung, rechts über die Feldmark, bebend, springend und zurück auf die Kreisstraße. Richtung Bad Fallingbostel jetzt und wieder Wald, immer Wald. Gerade, lange Strecke. Ich hebe mich leicht aus dem Sattel und schalte höher, hell, dunkel, dunkel, hell, hell, dunkel. Alles brennt. Die Zunge pelzt. Ich bin durstig. Gut. Am Kreisel (auf gottverlassener Flur, na, wenn's die Unfallstatistik senken hilft) lasse ich mich bergab rollen und überlege kurz, wieder Richtung Bomlitz abzubiegen. Nein, nein, so geht das nicht, mehr Leid! Also weiter durch Bad Fallingbostel, raus, nach Düshorn, Walsrode, dann langsam heimwärts, ja bin ich denn bekloppt? Kurz vor Uetzingen lässt die Wirkung nach. Auf dem Grünstreifen liegt eine zerplatzte Katze, ihr umgekrempeltes Fell strahlt schwarz und weiß, eine Pfote ragt aus dem dreckigem, grau und rot durchschlungenem Kadavergewirr. Ein letzter Gruß. Ich biege links Richtung Borg ab und lass die Tritte länger werden, gnädiger. Die Sonne steht tief und kitscht golden sämigen Werbehonig. Durch Borg also, diese seltsame Reihe von menschenlosen Häusern und staksendem Rehwild auf den vernarbten Weiden, durch Benefeld, an Bomlitz vorbei, dann weiter nach Schweigen zum alten Zöllnerhäuschen auf der Anhöhe am Bach vor dem Ortsschild. Ich holpere über den Kopfsteinpflasterweg, lehne mein Rad an eine schartige Eiche und setze mich auf die grob aus Stämmen gehauene Bank neben dem Hinweisschild: Zollhaus Schweigen, ehemalige Wohnstätte des Schriftstellers Tassilo Eisen, der in den Jahren von 1949 bis 1990 hier gelebt und gearbeitet hat. Darunter das übliche historische Brimborium über Bronzezeit, Grenzverläufe im Dreißigjährigen Krieg, Westfälischen Frieden, Frankreich, Kaiser, Nazis und lauter so Scheiß.

    Ich fummele eine halbvolle Plastikflasche Volvic aus dem Rucksack. Urinaltemperiert, welch eine Erlösung. Dann kram ich das iPhone hervor, tipp und wisch da ein bisschen drauf rum (tatsächlich, sämtliche Kontaktdaten der Gemeindeverwaltung schon hinterlegt, da klappt ja doch noch was!) und versuche erfolglos herauszufinden, wie ich den Krempel von meinem Samsung da rüber schieben kann. Bevor ich noch alles frustriert im Bach versenke, tippe ich den ganzen Mist lieber stumpf ab. Ist ja auch weniger entfremdend, wenn man mal wieder richtig Handarbeit verrichtet, so klebrig dasitzend im eigenen Gestank. Drecksmücken, rauchen müsste man.

    Ein tollwütiges Moped kreischt unten die Straße entlang und stürzt sich in den Ort, ein Auto hupt in grüßender Komplizenschaft oder aus Hass. Fast sieben. Da müsste Maike eigentlich mit allem Gelerne durch sein an der Uni. Oder, warte mal, muss sie heute arbeiten, in der Wohngruppe für Borderliner? Obwohl, da war sie ja erst am Sonntag gewesen. Deswegen ist sie ja schließlich am Wochenende nicht nach Hause gekommen. Ich werde es mir nie merken können bei all den hundert Dingen, die sie so treibt aber ihr geht es

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