... und dann war da noch Weihnachten: Weihnachtliche Geschichten
Von Maralene Werner
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Über dieses E-Book
Maralene Werner
Maralene Werner wurde am 29. November 1947 in Hameln geboren und wuchs dort als jüngstes von drei Geschwistern auf. Sie lernte den Beruf der Drogistin und wurde später heilpraktische Psychotherapeutin. Lange Zeit hat sie in Wunstorf mit ihrem Mann und drei Töchtern gelebt. Nun ist sie "auf dem flachen Land" in Niedersachsen zuhause. Schon immer galt ihre Leidenschaft dem Lesen - und dem Schreiben. Sie hat an verschiedenen Anthologien mitgewirkt und selber Bücher veröffentlicht. Über das Schreiben sagt Maralene Werner: "Schreiben ist Bilder malen mit Worten." Sie bevorzugt oft die Form der Kurzgeschichte, weil sie die Dinge so gut auf den Punkt bringen. Sie sind manchmal etwas skurril, immer mit augenzwinkerndem Humor, und nehmen den Leser mit viel menschlicher Herzenswärme gefangen.
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Buchvorschau
... und dann war da noch Weihnachten - Maralene Werner
Eine andere Weihnachtsgeschichte
Beruflich habe ich sehr oft mit älteren, auch ganz alten Leuten zu tun. Sie erzählen mir bei meinen Besuchen oft aus ihrem Leben. Meist natürlich von früher, aus ihrer Jugend, ihrer Blütezeit.
Zwischenzeitlich bin ich selbst in einem Alter, in dem mir das Zuhören nicht mehr schwerfällt – auch wenn ich manche Geschichte zwei- oder dreimal erzählt bekomme. Es erinnert mich an meine Kinderz eit, als ich mit meiner Großmutter vor unserem Kanonenofen saß, sie mir Geschichten und Märchen erzählte und ich ihr gebannt zuhörte.
Manche dieser Erinnerungsstücke sind schon Grundlagen gewesen für Geschichten, die ich schrieb, die sich wie Brücken über die Generationen spannten und vergangenen Zeitgeist bewahren. Diese Geschichte heute ist eine neue. Eine, die gerade vor einigen Monaten passiert ist und die trotzdem in die Weihnachtszeit passt, denn sie handelt von der Liebe. Einer Liebe, die still und schlicht über lange Jahre bestehen blieb und fast schon vergessen war in Krankheit, Sorge und Alltag. Und gerade deshalb ist diese Geschichte voller Wärme, Trost und Menschlichkeit, eine Weihnachtsgeschichte also.
Ich betreue dieses Ehepaar, die ich hier Heiner und Charlotte Meier nennen werde, schon sechs Jahre lang. Die ersten Jahre konnten sie noch zu mir in mein Institut kommen. Dann wurde der Weg zu beschwerlich. Nun mache ich seit einiger Zeit bei der Familie Meier Hausbesuche. Herr Meier, selbst durch Krankheit und Alter bereits gezeichnet, sorgt, besorgt, umsorgt seine kleine Frau, die er entweder liebevoll nachsichtig „Muttchen oder „Lottekind
nennt. „Lottekind hat seit vielen Jahren Alzheimer. Erst waren die Anzeichen kaum zu spüren. Zwischenzeitlich muss sich Heiner um alles kümmern. „Lottekind
vergisst so ziemlich alles. Sie geht lieber singend und lachend durch die Wohnung. Sich richtig anzuziehen ist für sie nicht mehr wichtig. Mal hat sie den Unterrock über das Kleid gezogen, mal nur einen Strumpf an. Öfter muss ich sie davon abhalten, sich vor mir ganz auszuziehen – ich benötige ja nur ihre Füße und Hände. Ich bewundere Heiner für seine Geduld. Schließlich trägt er auch schon viele Lebensjahre auf seinem gebeugten Rücken.
Jetzt hat die Weihnachtswoche angefangen. Heute bin ich das letzte Mal vor dem Fest bei Familie Meier.
Herr Meier strahlt mich an und sagt:
„Frau Bock, heute muss ich ihnen mal was erzählen. Etwas, was letzte Woche passiert ist."
„Nur zu, Herr Meier. Ich höre Geschichten doch zu gerne." Ich nehme meine Arbeit an seinen Füßen auf und höre zu.
„Letzten Donnerstag hatten wir einen Arzttermin in Hannover in der Hildesheimer Straße. Sie wissen ja, wir haben kein Auto. Es ist also eine ganz schön umständliche Reise. Erst mit dem Taxi hier zum Bahnhof, dann in den Zug. In Hannover auch noch die richtige Straßenbahn kriegen und dabei immer auf Lottekind aufpassen. Das ist schon fast eine Weltreise. Es waren ja auch so viele Leute unterwegs. Überall wurde gedrängelt und geschoben. Dann auch noch so lange beim Arzt herumsitzen. Es mussten ja so viele Untersuchungen gemacht werden. Aber dann hatten wir es endlich geschafft! Und das Glück blieb uns auf der Rückfahrt hold. Die Anschlüsse gingen alle wie geschmiert. Wir brauchten nicht auf die Straßenbahn warten. Es war doch so schlechtes Wetter. So kalt und nieselig.
Als wir dann ihm Bahnhof ankamen, wurde schon die Ankunft unseres Zuges ausgerufen. Wir konnten also auch gleich in den Zug einsteigen. Gerade habe ich Lottekind auf den Sitz gesetzt, fiel es mir siedendheiß ein, dass ich vergessen hatte, die Fahrscheine am Automaten zu entwerten. Die Zugtüren standen noch offen. So bin ich ausgestiegen und zum Automaten gerannt. Gerade steckte ich den zweiten Fahrschein hinein, gehen die Türen des Zuges zu und schwupps! fährt der Zug weg. Einfach so, ohne mich!
Ich war dem Herzinfarkt nahe! Lottekind ganz allein im Zuge, der bis Bremen fährt. Sie weiß doch gar nicht, wo sie aussteigen soll! Sie ist doch ganz hilflos ohne mich. Da stehe ich wie der letzte Trottel auf dem Bahnsteig und gucke dem Zug hinterher."
Auch heute beim Erzählen muss Herr Meier noch ordentlich nach Luft schnappen. Ich sehe ihm seine Aufregung richtig an. Er greift zu seinem Asthmaspray und inhaliert. Damit er sich etwas verschnaufen kann, lenke ich ihn ab.
„Aber es ist ja alles gut gegangen. Ihre Frau hat mich heute heil und lachend in der Tür begrüßt. Da brauchen sie sich jetzt nicht mehr aufregen. Sicherlich sind sie gleich zur Bahnaufsicht gegangen."
Herr Meier holt tief Luft und atmet erleichtert aus. Seine Gesichtszüge entspannen sich wieder, und er lächelt mich an.
„Ja, da hat unser Schutzengel gute Arbeit geleistet - und natürlich auch die Technik. Früher wäre das wohl nicht so glatt gelaufen. Ich habe gleich jemanden von der Bahnaufsicht zu greifen gekriegt. Der hat mit dem Zugschaffner telefoniert. Ich musste dann beschreiben, wie Lottekind aussieht, was sie für Kleidung trägt. Das wundert mich heute noch, dass ich das in der Aufregung alles hingekriegt habe – und noch nicht einmal einen Asthmaanfall hatte.
Man versprach mir, dass man Lottekind suchen würde und dann in Wunstorf aussteigen lässt.
Dann musste ich mich auch schon wieder beeilen, denn der nächste Zug in meine Richtung wurde angesagt.
Da saß ich dann im Zug, schweißnass, mit klopfendem Herzen und zitternden Fingern. Die verschränkte ich dann ineinander. Erst nur, damit sie ruhiger wurden, dann aber zum Gebet.
Ich habe lange schon nicht mehr gebetet, und ich dachte schon, ich könnte das nicht mehr. Aber die Worte waren noch alle vorhanden. Die üblichen Worte und die neuen, die aus meiner Angst kamen, tief aus meinem Herzen.
Auf jeder Zwischenstation stieg ich aus dem Zug und schaute den Bahnsteig auf und ab – mein Lottekind war nirgends zu sehen. Wenn der Zug fuhr, betete ich. Ach, Frau Bock, sie können sich gar nicht vorstellen, wie lang zwanzig Minuten sein können. Es waren wohl die längsten zwanzig Minuten in meinem Leben bis dann der Zug in Wunstorf einlief. Ich stand schon vorn an der Tür, damit ich als Erster aussteigen konnte.
Zuerst konnte ich gar nichts erkennen, denn es stiegen so viele Leute mit mir aus. Ich blieb einfach stehen. Zu