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Niemand hat Macht über dich es sei denn
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eBook286 Seiten3 Stunden

Niemand hat Macht über dich es sei denn

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Über dieses E-Book

Wer weiß schon, was sich im Corona-Lockdown hinter verschlossenen Türen abspielte. Privatermittlerin Tilly bezieht kurzfristig das Pflegeheim Nächstenliebe in Hannover und erlebt mehr, als ihr lieb ist. Ja, es wird hingebungsvoll gepflegt, aber auch gelogen, gestohlen, gemordet.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum21. Dez. 2022
ISBN9783347721111
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    Buchvorschau

    Niemand hat Macht über dich es sei denn - Tilly Klinke

    1 früher Vogel

    Knirschend rollt das Taxi durch die dichte Schneedecke davon, verlässt den Parkplatz und bewegt sich zurück Richtung Stadtmitte. Ich stehe alleine auf der riesigen, glitzernd weißen Fläche vor dem Möbelhaus. Obwohl die eisige Kälte sich unverzüglich meine Zehen als leichte Beute vornimmt und ihren Siegeszug in meinen Stiefeln und dann den Hosenbeinen fortführt, bin ich irgendwie froh, auf mein Anschlussfahrzeug warten zu müssen. Ein Ausflug außerhalb der eigenen vier Wände und sogar außerhalb des Wohngebiets, das ist ein seltenes Vergnügen geworden. Zudem wirkt die frische Luft so früh am Morgen doppelt frisch. Ich nehme meine Maske ab und atme befreit, neun Grad minus hin oder her.

    Nach kaum drei Atemzügen allerdings sehe ich den angekündigten roten Kangoo auf den Parkplatz rollen. Er folgt so exakt den Spuren, die das Taxi im Schnee hinterlassen hat, als sei er ein Waggon auf Gleisen. Gleisen, die unweigerlich zu mir führen, ich markiere den Bahnhof. Direkt vor mir stoppt der Waggon.

    Eine drahtige Frau um die 60 dreht die Scheibe runter, entlässt dabei eine Wolke warmer Luft in den eisigen Morgen, und strahlt mich an.

    „Sie müssen Frau Klinke sein." Stark geschminkte Augen, sogar rosa Flecken auf die Wangen gemalt, blondiertes Haar zu einem langen Zopf geflochten. Ein deutliches Statement der Lebensfreude.

    „Guten Morgen, Frau Heinrich", erwidere ich, während ich die Gummibänder meiner Maske wieder hinter die Ohren friemele.

    Rita Heinrich schaltet den Motor aus, springt leichtfüßig aus dem Kangoo, öffnet die Türen zum Kofferraum und zeigt stolz auf einen zusammengeklappten Rollstuhl.

    „Voila! Den habe ich gestern Abend für Sie organisieren können." Ein handgestrickter Ringelschal – mindestens Nadelstärke 16 – ist um ihren Nacken geschlungen und hängt beidseitig bis zu ihren Knien herunter.

    Sie klappt eine Rampe aus dem Kofferraum heraus, rollt das Gefährt auf das Pflaster und entfaltet es mit geübten Griffen.

    „Wir sollten das einmal üben, solange uns niemand dabei zusieht. Setzen Sie sich mal rein und dann erheben Sie sich und ich helfe Ihnen auf den Beifahrersitz."

    Es war ihre Idee gewesen, dass ich mich vom Bahnhof per Taxi an einen ruhigen Ort in die Nähe des Reisezieles fahren lasse. Ich steige gesund aus dem Taxi, anschließend mit Gehbehinderung in Heinrichs Kangoo.

    Ich setze mich in den Rollstuhl und gebe mir dann alle Mühe, mich von der Sitzfläche zu stemmen ohne meine Beine zu rühren. Mit Heinrichs Hilfe manövriere ich meinen Körper in das Auto. An Stiefeln und Hosenbeinen haftet haufenweise Schnee.

    „Ganz doofer Winkel. Gleich nochmal, kommandiert sie. „Sieht jeder Blinde, dass Sie das zum ersten Mal machen.

    Nach drei weiteren Anläufen ist sie zufrieden.

    „Bleiben Sie mal gleich sitzen, Ihren Koffer hebe ich in den Wagen, gewöhnen Sie sich dran."

    So warte ich auf dem Beifahrersitz, bis sie den Koffer, den Rollstuhl und die Rampe verstaut hat und schnaufend einsteigt. Sie zupft eine FFP2 Maske vom Rückspiegel, zieht sie über und startet den Motor.

    „Toll, dass das so schnell geklappt hat und Sie sich der Sache annehmen können. Es wird immer schlimmer im Haus. Gestern sind wieder Dinge aus meinem Büro verschwunden. Und am Medizinschrank war auch jemand. Passiert inzwischen täglich. So kann es nicht weitergehen."

    Tiefe Furchen ziehen sich in ihre Stirn.

    „Ich hoffe, dass ich Ihnen helfen kann, aber versprechen kann ich natürlich nichts, erkläre ich vorsichtshalber. Als Wachperson habe ich bisher nicht gearbeitet und solange ich das Haus und die örtlichen Gegebenheiten nicht kenne, kann ich mir keinerlei Vorstellung davon machen, ob der Job überhaupt machbar ist. „Sie haben die Vorfälle der Polizei gemeldet?

    „Na klar, das muss ich ja schon wegen der Versicherung. Es sind auch zwei Beamte ins Haus gekommen, so vor drei Wochen. Haben mit allen Bewohnerinnen und allen Pflegekräften gesprochen, die gerade Dienst hatten. Und sind unverrichteter Dinge wieder abgezogen. Danach war eine gute Woche Ruhe und dann verschwand wieder was."

    Damit ich als heimlicher Wachhund nicht gleich auffliege, muss meine Tarnung überzeugend sein. „Lassen Sie uns nochmal meine Geschichte durchgehen. Ich bin in einen Verkehrsunfall geraten, lag einige Wochen im Krankenhaus, bin jetzt in Ihrem Pflegeheim, weil ich noch nicht alleine klarkomme."

    Sie nickt. „Verkehrsunfall ist das Beste. Ich hatte erst an einen schweren Schlaganfall gedacht, aber der wäre überzeugender mit Sprachverlust. Aber Sie sollten mit den Bewohnern sprechen können, die könnten wichtige Informationsquellen sein."

    Könnte auch echt langweilig werden, wenn ich mich nicht unterhalten kann, denke ich.

    „Und warum bin ich nicht in eine Reha gesteckt worden? Fällt es nicht auf, dass ich jünger bin als alle anderen?"

    „Eine ist immer die Jüngste, lacht Heinrich. „Nein, im Ernst. Die Reha-Klinik, die Sie aufnehmen sollte, hat einen akuten Corona-Ausbruch, deshalb haben wir Sie zur Überbrückung aufgenommen. Das ist ihre Story. Wird keiner weiter nachfragen, glauben Sie mir. Corona macht alles möglich.

    „Ich bin also an den Rollstuhl gefesselt, habe aber kognitiv und sonst keine Einschränkungen", vergewissere ich mich.

    „Richtig. Und der Rollstuhl ist nur temporär. Von der Herumliegerei im Krankenhaus sind Sie geschwächt, die Muskeln haben sich zurückgebildet, aber im Prinzip können Sie ihre Beine benutzen. Dafür werden Sie Therapien bekommen. Also theoretisch. Da Sie gerade erst ankommen – und das an einem Samstag – haben wir ein paar Tage Aufschub, bis wir uns da was einfallen lassen müssen. Einer Therapeutin machen Sie nichts vor. Vielleicht kann ich mich mit der verständigen, die dienstags und donnerstags zu uns ins Haus kommt, überlegt sie laut. „Jedenfalls haben Sie das Zimmer mit der optimalen Aussicht. Ein echter Glücksfall, dass Frau Bachmann so plötzlich ins Krankenhaus musste. Von ihrem Zimmer aus können Sie mein Büro und das Schwesternzimmer im Auge behalten.

    „Was machen wir, wenn Frau Bachmann aus dem Krankenhaus entlassen wird?"

    Die Heimleiterin wirft mir einen finsteren Blick zu. „Die kommt nicht wieder. Lungenentzündung und hohes Fieber bei schlechter Allgemeinverfassung, 92 Jahre alt."

    Will ich wissen, ob sie Corona hat? Noch könnte ich aussteigen aus der wahnwitzigen Idee, mitten in der Pandemie in ein Pflegeheim einzuziehen.

    Heinrich hat meine Gedanken erraten. „Na ja, was wissen wir schon? Aber eigentlich bin ich ganz zuversichtlich. Wir hatten im Dezember einige Fälle, haben das aber mit Quarantäne in den Griff bekommen. Zwei Bewohner sind damals im Krankenhaus gestorben, die anderen Erkrankten zu uns zurückgekommen. Seitdem haben wir keine Fälle und alle bekommen heute ihre zweite Impfung. Das hatte ich Ihnen ja am Telefon erzählt."

    Das hatte sie. Sie war ganz begeistert gewesen von der Fügung: Genau das richtige Zimmer wird frei und dann fällt auch noch pünktlich eine Impfdosis ab, die für meine Vorgängerin eingeplant war. So kann mir als attraktiver Bonus eine Ladung Vakzin von BioNTech in den Oberarm verpasst werden. Zu den 300 € als Tagessatz, auf die wir uns geeinigt hatten. Kein großartiger Stundensatz, aber schließlich muss ich nur herumsitzen. Und das Geld kann ich genauso gut gebrauchen wie die Abwechslung.

    Ich betrachte die Frau neben mir, die mindestens so alt wie meine Mutter ist. Sie ist an ihrem Arbeitsplatz dauernd der Gefahr des Ansteckens und der Ansteckung ausgeliefert. Genau wie meine Mitbewohnerin Nadine an ihrem Arbeitsplatz, einem Pflegeheim in Bremen. Mit welchem Recht würde ich kneifen? Bin ich schützenswerter als diese beiden Frauen?

    „Haben Sie eigentlich jemanden in Verdacht?", fällt mir ein.

    „Überhaupt nicht. Ich traue es niemandem zu. Also kann es jeder sein. Außer Jürgen. Jürgen Böhm. Unser Hausmeister und Mann für alles. Der ist absolut zuverlässig."

    „Ist er eingeweiht?", will ich wissen.

    Sie seufzt. Offenbar macht es ihr keine Freude, ihren Hausmeister zu hintergehen. „Nein, ich will da ganz unvoreingenommen rangehen. Die Einzige, die Bescheid weiß, ist Laura."

    Ich nicke. Laura ist die Pflegerin, die der Heimleiterin den Einsatz einer privaten Ermittlerin vorgeschlagen und den Kontakt hergestellt hat. Denn sie war mit Nadine zusammen in der Ausbildung und hatte von ihr neulich gehört, dass sie mit einer Detektivin zusammengezogen war. Mich als Detektivin zu bezeichnen war etwas großspurig, aber nun ja.

    Erst als Heinrich stolz ausruft: „Da vorne rechts, das ist mein Haus, merke ich, dass ich nicht weiß, wie mein neues Heim heißt. Als Kinder hatten wir es ungeheuer witzig gefunden, uns für Altenheime die fiesesten Namen einfallen zu lassen. Haus Friedhofsblick. Haus Abendruhe. Zum bitteren Ende. Haus Zielgerade. Haus Goldener Herbst. Zum Abstellgleis. Damals kannte noch niemand von uns jemanden, der pflegebedürftig war. Die Heimleiterin hat einen Parkplatz gleich neben der flachen Rampe zum Haupteingang. „Haus Nächstenliebe, lese ich laut das Schild über dem Eingang.

    „Ich dachte erst an den Namen ‚Caritas‘, das heißt ja Nächstenliebe. Aber der Name ist geschützt und die katholische Kirche lehnt es ab, dass Häuser so heißen, die nicht von der Caritas betrieben werden."

    „Sozusagen ein Monopol auf Nächstenliebe."

    Die Heimleiterin hilft mir aus dem Beifahrersitz in den Rollstuhl und schiebt mich zum Fuß der überdachten Rampe. Der ganze Bereich ist sorgfältig vom Schnee befreit worden.

    „Könnte man denken. Aber tatsächlich weiß ja kaum einer, was Caritas heißt. Mittlerweile finde ich das deutsche Wort viel besser. Das versteht jeder."

    „Und das überlässt Ihnen die Kirche."

    „Genau. Da denkt man halt nicht automatisch an die katholische Kirche, deshalb besteht keine Verwechslungsgefahr. Die Rampe schaffen Sie bestimmt selber, die ist ja sehr flach. Wir wollten den Eingang nur etwas über das Straßenniveau heben, falls mal Sturzregen kommt."

    Tatsächlich bugsiere ich trotz meiner untrainierten Arme mein Gefährt hoch, wo sich eine doppelflügelige Glastür selbstständig öffnet.

    „Du sammelst meine Tränen in deinen Krug und zählst sie", lese ich auf einem bunten handbeschriebenen DIN A 3 Plakat.

    „Ist das aus der Bibel?", frage ich überrascht, weil ich angenommen hatte, dass Rita Heinrich bewusst ein nicht-kirchliches und nicht-religiöses Heim leitet.

    „Ach, das muss ich gleich noch auswechseln, fällt ihr dazu ein. „Jeden Samstag hänge ich sowas wie einen Sinnspruch aus. Seit dem letzten April. Wir haben zusammen überlegt, wie man irgendwie die Woche oder den Monat akzentuieren kann. Damit nicht in jeder Hinsicht der gleiche Trott herrscht tagein, tagaus. Manchen unserer Bewohner macht das zwar nichts aus, aber andere verlieren allmählich den Verstand. Und wir von der Pflege auch. Und wenn man hier so reinkommt, oder sich im Foyer aufhält – da hängt auch so ein Poster – dann bekommt man vielleicht einen neuen Anstoß zum Nachdenken. Und zum Austausch.

    „Und die Zitate oder Sinnsprüche suchen Sie sich in der Bibel?"

    „Die Sprüche kommen aus verschiedenen Quellen. Unsere Bewohner können Vorschläge in diesen Postkasten werfen. Sie könnten gleich mal die Glücksfee spielen und einen Vorschlag für diese Woche herausziehen, wenn Sie mögen." Dabei hebt sie die Klappe von einem kleinen an der Wand angebrachten Kasten an. Ich greife hinein, ertaste vier oder fünf Zettel, nehme den untersten, einen mehrfach gefalteten, heraus und überreiche ihn Heinrich.

    „Wenn keine Ideen reinkommen, suche ich im Internet. Unter den Suchbegriffen Zuversicht, Hoffnung und so."

    Ich darf meinen Rollstuhl weiter selber mit Armkraft antreiben, während sie meinen Koffer durch das Foyer trägt. Uns begrüßt ein zentral aufgestellter Spender mit Desinfektionsmittel. Wir reinigen ausgiebig die Hände damit. Beste Absichten demonstrierend. Wie früher mal das Vorzeigen leerer Hände bewies, dass man unbewaffnet in friedlicher Absicht kam. In den guten alten Zeiten konnte das menschliche Auge unbewaffnet von bewaffnet unterscheiden. Dachten wir jedenfalls. Wer heute friedliche Absicht und guten Willen zeigen will, muss sich schon die Mühe machen, öffentlich seine Hände zu desinfizieren. Wie die Welt sich verändert hat, seit Thomas nicht mehr lebt.

    „Mein Büro", sagt sie mit einer Kopfbewegung nach rechts. Ihr Büro ist zum Eingang und zum Foyer hin mit großflächigen Glasscheiben ausgestattet, teils mit Milchglas, deshalb nur teilwiese einsehbar. Auf der anderen Seite des Eingangsbereichs befindet sich ein geräumiger Lift, dahinter ein Treppenaufgang.

    Der erste Eindruck von meinem neuen Zuhause ist nicht unangenehm. Der lichtdurchflutete Raum weitet sich zu beiden Seiten bis zu großzügigen Fensterfronten. Auf einer Seite erkenne ich an Tischen und Stühlen den Speisesaal, auf der anderen gibt es ein paar Sitzgruppen mit Sesseln und Abstelltischchen. Dazwischen Freifläche. Die Wände sind teils weiß, teils sonnengelb gestrichen. Schräg gegenüber dem Haupteingang sehe ich durch ein breites Fenster in einen verschneiten Innenhof. Auf diesen Innenhof hinaus gehen beidseitig abwechselnd bodentiefe und halbhohe Fenster, offenbar wohnen hinter diesen Fenstern die Bewohnerinnen, zu deren Zimmertüren man durch die Korridore gelangt, die rechts und links ins Foyer münden. Überall, wo Trampelpfade beginnen oder sich kreuzen, stehen Desinfektionsmittelspender.

    Soeben taucht ein Rollator im rechten Korridor auf, geführt von einem Hochbetagten in gestreiftem Schlafanzug, der zielstrebig zum Haupteingang trottet.

    „Herr Möbius, wohin wollen Sie denn so früh am Tag?", will Heinrich wissen.

    „Ich hole Brötchen. Samstags möchte meine Frau so gerne Brötchen haben. Soll ich Ihnen welche mitbringen?"

    „Herr Möbius, das Frühstück wird Ihnen doch gebracht! Gehen Sie mal wieder nachhause, die Brötchen kommen sofort."

    „Ach ja, das habe ich ganz vergessen", murmelt Möbius, kehrt um und trottet zurück in den rechten Korridor.

    „Immerhin weiß er, dass heute Samstag ist", sage ich anerkennend.

    „Jeder Tag ist Samstag. Seine Frau ist seit 20 Jahren tot", sagt Heinrich trocken.

    Derweil hält sie mit meinem Koffer auf den links gelegenen Korridor zu. Ich folge ihr und zähle drei Zimmertüren auf jeder Seite dieses Ganges, der an einer dicken, offensichtlich nach außen führenden Glastür endet.

    Aus der dritten Tür zur Rechten rollt sich ein Rollstuhl uns in den Weg. Eine stattliche alte Dame in senffarbenem Tweed-Kostüm schafft es, obwohl wir uns auf derselben Augenhöhe befinden, gebieterisch auf mich herunterzuschauen. „Haben Sie sich dieses Haus ausgesucht? Das haben Sie gut gemacht. Nicht besonders luxuriös, aber kompetent geführt. Das ist schließlich das Wichtigste, nicht wahr? Sie werden ja auch nicht lange bleiben, im Gegensatz zu den Alten hier. Ich bin auch nur vorübergehend hier. Meine Tochter nimmt mich in Kürze zu sich."

    „Frau Dr. Krämer, heute gibt es die zweite Ladung Impfstoff, ist das nicht wunderbar?", flötet Heinrich.

    „Ich werde sehen, ob ich das terminlich einrichten kann. Ich muss noch viele Patientinnen sehen heute", verkündet Dr. Krämer huldvoll und rollt zurück in ihr Zimmer.

    Einen Raum weiter steht ebenfalls die Tür offen und die Chefin des Hauses trägt meinen Koffer hinein. Ich rolle hinterher und werde vom krassen Klimawandel beinahe umgehauen. Hier ist es fast so kalt wie draußen. Das Fenster steht weit offen. Dennoch hängt ein süßes Parfum so dick im Zimmer, dass ich gleichzeitig würge und nach Luft schnappe. Das ist also nun mein Reich und mein Beobachtungsposten.

    „Leider hatten wir ja noch nicht die Zeit, es gründlich reinezumachen wie es sich gehört bei einem Neueinzug, entschuldigt sich die Heimleiterin und schiebt hinterher: „Sauber ist es natürlich, aber eben noch nicht geräumt. Sie haben ja auch keine eigenen Möbel mitgebracht.

    Damit ist erklärt, was ich ringsum sehe: Abgenutzte Möbel, darauf Häkeldeckchen, zwei sandfarbene Sessel, von denen einer voll besetzt ist mit ausgestopften Katzen, der andere zeigt mit einem tiefen Krater an, wo Bachmann bis vor kurzem ihre Zeit verbracht hat. An einer Wand hängen zahllose kleine gerahmte Fotografien, über dem Bett eine Kopie eines Gemäldes. Auf einem schmalen Pfad entlang einer steilen Bergwand pflückt ein kleines Mädchen Wildblumen, ein ebenso kleiner Junge jagt einem Schmetterling nach, beide mit arglos heiterem Gesichtsausdruck und nackten Füßen knapp am Abgrund. Direkt hinter ihnen breitet ein großer lächelnder Schutzengel sowohl Flügel als auch Arme aus, für den Fall, dass die Kinder danebentreten.

    Wie Nadine mir erklärte, werben Pflegeheime damit, dass Bewohner ihre eigenen Möbel mitbringen können. Dies sind meistens keine wertvollen Antiquitäten, sondern liebgewonnene Stücke, von denen man sich nicht trennen will.

    „Um das Zimmer kümmert sich Jürgen noch heute, versichert Heinrich. „Sagen Sie ihm, was er rausräumen soll. Das Bett ist übrigens Spitzenqualität, überall verstellbar, ziemlich neu und selbstverständlich frisch bezogen.

    „Kann ich eigentlich mein Fenster öffnen und schließen, oder muss ich dafür Hilfe anfordern?", erkundige ich mich im Flüsterton. Mir beginnt zu dämmern, auf was ich mich da eingelassen habe.

    Sie flüstert zurück: „Ja sicher, Sie können kurz stehen und sogar gehen, wenn Sie sich festhalten. Ich sagte ja, Sie können im Prinzip die Beine benutzen. Denken Sie an ein Kind, das gerade die ersten Schritte macht."

    Dann schiebt sie leise die Zimmertür ins Schloss, tritt zum Fenster, schließt es und zieht die weißen Stores davor. Mit einem Fingerzeig bedeutet sie mir, dass ich zu ihr ans Fenster kommen soll. Vor uns der Innenhof, nicht besonders groß, aber hell genug, weil das Gebäude nur zwei Obergeschosse hat. Wenn nicht gerade Schnee liegt, wird allerdings weniger Licht hereinkommen. Gegenüber die Fenster der anderen Zimmer, oben dasselbe. Heinrich deutet nach rechts. Wir stehen am linken Fensterrand. Schräg rechts kann ich durch das Fenster im Foyer wieder hineinsehen ins Haus, in den öffentlichen Bereich, wo im Hintergrund klar das Büro der Heimleiterin und der Raum daneben zu sehen sind. Die Türen zu beiden Räumen sind voll im Blickfeld.

    „Mein Büro und das Schwesternzimmer, erläutert sie. „Im Schwesternzimmer haben wir sonst immer Frühstückspausen und Übergaben gemacht, vor Corona. Jetzt sind nur vier Personen gleichzeitig darin zugelassen, aber der Medikamentenschrank ist da.

    Beide Tatorte kann ich einsehen und das sogar sitzend vom Rollstuhl aus. Es ist tatsächlich das perfekte Überwachungszimmer. Weder die oben gelegenen Zimmer, noch die im anderen Korridor haben den richtigen Winkel, um durch das Fenster im Foyer bis zu den beiden Räumen blicken zu können. Außerdem verbirgt mich die Gardine vor den Augen hinter den anderen Gardinen.

    „Sie haben das letzte Zimmer für Bewohner in diesem Gang. Dahinter kommt das Hausmeisterzimmer, ihm gegenüber der Technikraum", informiert sie mich, während sie wieder zur Tür geht und sie öffnet.

    „Ja, liebe Frau Klinke, da sind wir also, sagt sie dann laut. Richten Sie sich mal ein, so gut Sie können. Diese Kommode ist leer. Es gibt gleich Frühstück aufs Zimmer und dann kommt auch bald der mobile Impfdienst. Wenn irgendwas ist, kommen Sie zu meinem Dienstzimmer neben dem Haupteingang, oder nutzen Sie das Haustelefon hier neben der Tür. Einen guten Aufenthalt wünsche ich Ihnen."

    Ihrem Wortwechsel mit Dr. Krämer kann ich entnehmen, dass selbige wieder den Gang blockiert hat. Sie langweilt sich wohl in ihrem Raum. Ich muss zugeben, dass ich schon jetzt genug habe von meiner parfümierten Zelle und beschließe, möglichst viel Zeit im Aufenthaltsbereich zu verbringen. Meinen fahrbaren Untersatz so zu platzieren, dass ich von dort aus die beiden fraglichen Räume im Blick habe, wird überhaupt kein Problem sein. Es könnte natürlich sein, dass der Dieb oder die Diebin nicht zuschlägt, solange da jemand sitzt. Dann wiederum wäre meine Wache dort kontraproduktiv, denn es ist sowohl in meinem als auch in Heinrichs Interesse, diese Sache spätestens in drei Tagen erledigt zu haben.

    2 heimisch werden

    Es sind schon viele erfroren, aber noch niemand erstunken. Heißt es so leichthin, aber ist das erwiesen? Bevor die schwere Süße mich heimlich und schleichend wie eine Kohlenmonoxidvergiftung außer Gefecht setzt, reiße ich nochmal das Fenster auf, ziehe die Gardine vor die Fensteröffnung und schließe meinen Steppmantel, den ich noch gar nicht ausgezogen habe. Dann rolle ich ins Bad und bin erleichtert, dass meine Nase da außer einem leichten Zitronenduft nichts wahrnehmen kann. Kürzlicher Einsatz von Putzmitteln. Stahl und Keramik saugen Gerüche nicht auf, Gott sei Dank.

    Für die paar Dinge, die ich mitgebracht habe, ist die Kommode ausreichend. Trotzdem wage ich einen Blick in den Kleiderschrank, was keine gute Idee ist, denn prompt fallen mir Bündel von Textilien und einige Blechdosen entgegen. Offenbar wurde alles, was sich in der Kommode, im Zimmer und Badezimmer befand, nach Bachmanns Transport ins Krankenhaus hier wahllos hineingestopft. Das müssen sie mindestens vierhändig gemacht haben, denke ich, denn ich brauche viele Anläufe, um die Schranktür hinter dem ganzen Kram zu schließen. Dann bin ich durchgeschwitzt, aber

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